Vernachlässigt und allein: Sophienlust Bestseller 10 – Familienroman
Von Anne Alexander
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Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird.
Gerda Kellermann öffnete weit die Balkontür ihres Wohnzimmers. Es war Sonntag und noch nicht einmal sieben Uhr, dennoch hatte sie sich schon vollkommen angekleidet. Sie war Frühaufsteherin und auch als Berufstätige gewohnt, um diese Zeit zu frühstücken. Sie wollte gerade in die Küche gehen, um sich ihr Frühstück zu richten, als sie auf das Weinen aufmerksam wurde, das von der nebenliegenden Wohnung zu ihr herüberdrang. Sie hatte eigentlich vorgehabt, es sich im Wohnzimmer gemütlich zu machen, aber das Kindergeschrei zerrte wieder einmal an ihren Nerven. Ihr taten die beiden Kinder leid, die ihrer Meinung nach kein richtiges Zuhause hatten, weil ihre Mutter sie viel zuviel allein ließ oder sie irgendwelche Bekannten für kürzere oder längere Zeit übergab. »Wie ein Gepäckstück, das im Wege steht«, murmelte Frau Kellermann ärgerlich vor sich hin, während sie den Kaffee aufbrühte. Auch sie hatte schon mehrmals das fragwürdige Vergnügen gehabt, die Kinder bei sich aufnehmen zu dürfen. Flora Lechner hatte immer triftige Gründe zur Hand, weshalb sie die lieben Kleinen leider nicht mitnehmen konnte. Einmal hatte sie ihr erzählt, daß besonders Peter an ihr hing. Aber inzwischen hatte sie erfahren, daß Flora Lechner es mit der Wahrheit genauso hielt wie ihr Sohn Peter, der das Blaue vom Himmel herunterlog. Lustlos begann Gerda Kellermann zu essen. Sie konnte ihre Gedanken nicht von den beiden Kindern losreißen. Die zweijährige Susanne war zwar ein süßes und liebes Kind mit ihren lockigen braunen Haaren und den runden braunen Kulleraugen, aber der Junge war unmöglich, und es war zu befürchten, daß auch die Kleine so werden würde wie er. Gerda Kellermann stand auf und stellte das gebrauchte Geschirr in das Abwaschbecken. Während sie abspülte, fiel ihr ein, daß Frau Lechner trotz ihrer diesmaligen Absage am Samstagvormittag, die Kinder übers Wochenende bei sich aufzunehmen, eine Stunde später das Haus verlassen hatte. Sie hatte gerade Fenster geputzt, als die junge Frau aus dem Haus gekommen war. Unwillkürlich hatte sie ihr nachgesehen. Flora war bis zur übernächsten Straßenecke gegangen und dort in ein Auto gestiegen.
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Sophienlust Bestseller
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Buchvorschau
Vernachlässigt und allein - Anne Alexander
Sophienlust Bestseller
– 10 –
Vernachlässigt und allein
Ein kleiner Trotzkopf sehnt sich nach Liebe
Anne Alexander
Gerda Kellermann öffnete weit die Balkontür ihres Wohnzimmers. Es war Sonntag und noch nicht einmal sieben Uhr, dennoch hatte sie sich schon vollkommen angekleidet. Sie war Frühaufsteherin und auch als Berufstätige gewohnt, um diese Zeit zu frühstücken.
Sie wollte gerade in die Küche gehen, um sich ihr Frühstück zu richten, als sie auf das Weinen aufmerksam wurde, das von der nebenliegenden Wohnung zu ihr herüberdrang. Sie hatte eigentlich vorgehabt, es sich im Wohnzimmer gemütlich zu machen, aber das Kindergeschrei zerrte wieder einmal an ihren Nerven. Ihr taten die beiden Kinder leid, die ihrer Meinung nach kein richtiges Zuhause hatten, weil ihre Mutter sie viel zuviel allein ließ oder sie irgendwelche Bekannten für kürzere oder längere Zeit übergab.
»Wie ein Gepäckstück, das im Wege steht«, murmelte Frau Kellermann ärgerlich vor sich hin, während sie den Kaffee aufbrühte.
Auch sie hatte schon mehrmals das fragwürdige Vergnügen gehabt, die Kinder bei sich aufnehmen zu dürfen. Flora Lechner hatte immer triftige Gründe zur Hand, weshalb sie die lieben Kleinen leider nicht mitnehmen konnte. Einmal hatte sie ihr erzählt, daß besonders Peter an ihr hing. Aber inzwischen hatte sie erfahren, daß Flora Lechner es mit der Wahrheit genauso hielt wie ihr Sohn Peter, der das Blaue vom Himmel herunterlog.
Lustlos begann Gerda Kellermann zu essen. Sie konnte ihre Gedanken nicht von den beiden Kindern losreißen. Die zweijährige Susanne war zwar ein süßes und liebes Kind mit ihren lockigen braunen Haaren und den runden braunen Kulleraugen, aber der Junge war unmöglich, und es war zu befürchten, daß auch die Kleine so werden würde wie er.
Gerda Kellermann stand auf und stellte das gebrauchte Geschirr in das Abwaschbecken. Während sie abspülte, fiel ihr ein, daß Frau Lechner trotz ihrer diesmaligen Absage am Samstagvormittag, die Kinder übers Wochenende bei sich aufzunehmen, eine Stunde später das Haus verlassen hatte. Sie hatte gerade Fenster geputzt, als die junge Frau aus dem Haus gekommen war. Unwillkürlich hatte sie ihr nachgesehen. Flora war bis zur übernächsten Straßenecke gegangen und dort in ein Auto gestiegen.
Unruhig geworden trocknete sich Gerda die Hände ab. Die Lechner hatte also ihre Kinder allein gelassen! Für wie lange? Wann war sie in der Nacht zurückgekehrt, wenn überhaupt? Es konnte ja etwas passiert sein! Sie sah auf die Uhr, es war jetzt kurz nach neun.
Sie lief durchs Wohnzimmer auf den Balkon hinaus. Das Weinen hatte aufgehört, aber sie wurde trotzdem das komische Gefühl nicht los. Sie beugte sich weit über den angrenzenden Balkon.
»Peter!« rief sie, und als keine Antwort erfolgte, noch einmal lauter: »Peter!«
Aus dem auf den Balkon zeigenden Schlafzimmerfenster beugte sich ein Kopf mit einer blonden, ungekämmten Mähne heraus. »Frau Kellermann!« schrie das Kind, und es klang erleichtert. »Ich komme auf den Balkon.«
Kurz darauf stand der Sechsjährige vor Frau Kellermann, nur getrennt durch das Balkongitter. Aber wie sah er aus! Er trug noch den Pyjama, der alles andere als sauber aussah. Gesicht und Hände waren schmutzig, und an seinen Augen merkte sie, daß er geweint hatte.
All seine Frechheit schien vergangen zu sein, als er die Nachbarin flehend ansah und stotterte. »Bitte helfen Sie uns. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«
»Wo ist deine Mutter?« fragte Frau Kellermann entsetzt. Sie hatte das Kind noch nie in einem derartigen Zustand gesehen.
»Weiß nicht. Mama meinte, sie könne uns schon mal allein lassen. Susi würde durchschlafen und mittags käme Tante Steffi. Aber Susi hat die ganze Nacht geweint. Dann hab ich ihr das Fläschchen geben wollen, aber sie hat wie wild um sich geschlagen und alles verspritzt. Ihre Stirn ist ganz heiß, jetzt rührt sie sich kaum noch, und ihre Augen sind so komisch. Ich hab solche Angst.«
»Mach mir bitte sofort eure Tür auf, ich komme rüber«, sagte Gerda Kellermann hastig und ging schon ins Wohnzimmer zurück, als ihr Peter kläglich nachrief:
»Geht nicht, Mama hat sie doch abgeschlossen.«
Auch das noch, dachte die Nachbarin wütend. Läßt die Kinder nachts allein und sperrt sie noch ein! Wenn nun ein Brand ausgebrochen wäre?
»Warte, ich lauf zum Hauswirt runter«, rief sie zurück. »Der hat einen Ersatzschlüssel.«
Sie rannte in den Flur und riß in aller Eile ihren Wohnungsschlüssel vom Schlüsselbrett und eilte die Treppe zum ersten Stock hinunter, wo der Hauseigentümer wohnte.
Bruno Seeger war Witwer und lebte schon seit Jahren allein, da seine Kinder längst verheiratet waren. Dennoch sah man seiner Wohnung nicht an, daß es hier keine ordnende Frauenhand gab. Alles war blitzblank und sauber.
Als er zusammen mit Gerda Kellermann die Wohnung seiner Mieterin Lechner betrat, blieb er erst einmal befremdet stehen. Es war nicht seine Art, in den Wohnungen seiner Mieter herumzuschnüffeln, und seit dem Einzug Flora Lechners hatte er diese Wohnung nicht mehr betreten. Er erkannte die Räume kaum wieder, so verwahrlost sahen sie aus.
Peter hatte im Flur auf sie gewartet und führte sie jetzt ins Kinderschlafzimmer. Eine unbeschreibliche Luft schlug ihnen entgegen. Im ersten Impuls wollte Gerda das Fenster aufreißen, dann aber fiel ihr ein, daß sie erst nach dem kleinen Mädchen sehen mußte. So ließ sie nur die Tür auf und eilte zum Bett der Kleinen.
Susi war wach, aber sie erkannte die Nachbarin nicht. Ihre Stirn fühlte sich tatsächlich unnatürlich heiß an, das Gesichtchen war von Tränen und Nasenschleim verschmiert.
Gerda schlug die Bettdecke zurück, die auf der Unterseite feucht war, während die Schlafhose und die Windeln vor Nässe trieften. Darunter lag ein Bündel trockener Windeln, die natürlich durch die obere Nässe auch schon feucht geworden waren. »Warst du das, Peter?«
Der Junge nickte. Mit weinerlicher Stimme verteidigte er sich: »Ich wollte ihr die Windeln wechseln, aber sie strampelte so, da schob ich sie ihr einfach unter.«
»Hast es gut gemeint«, sagte Gerda besänftigend und strich ihm über seinen blonden Haarschopf. »Das hier ist nicht deine Schuld. Holst du für deine Schwester bitte ein paar saubere Sachen?« Sarkastisch setzte sie hinzu: »Falls überhaupt welche da sein sollten. Ich bringe Susi ins Wohnzimmer. Und bitte, Herr Seeger«, wandte sie sich an den Hauswirt, »rufen Sie doch im Krankenhaus an, das Kind hat hohes Fieber.«
»Aber können wir das, so ohne die Mutter...«, erwiderte der Mann unschlüssig.
»Nach den Worten Peters wird sie kaum in den nächsten Stunden zurück sein, das Kind aber muß sofort in Behandlung.«
»Ich verstehe nicht, wie man eine Zweijährige so lange allein lassen kann«, sagte der Hauswirt kopfschüttelnd. »Meine Johanna hätte das nie gemacht.« Dann ging er hinunter in seine Wohnung, um zu telefonieren.
*
Else Rennert, die Heimleiterin des Kinderheims Sophienlust, stand am Fenster ihres Arbeits- und Empfangszimmers und blickte den Kindern nach, die lustig schwatzend die Auffahrt zum großen schmiedeeisernen Tor, das die hohe dichte Hecke unterbrach, hinunterzog, um den Vormittag im Wald zu verbringen.
Die Kinder- und Krankenschwester Regine Nielsen führte den Zug an. In der Mitte schob die zwölfjährige Angelika den Kinderwagen mit der dreijährigen Sonja, die nur vorübergehend in Sophienlust war, vor sich her.
Plötzlich mußte die Heimleiterin hell auflachen. Die ersten des Trupps waren schon um die Hecke gebogen, als die fünfjährige Heidi Holsten die Freitreppe hinunterstürzte und mit auf- und niederwippenden Rattenschwänzchen den Kindern nachstürmte.
»Warum habt ihr denn nicht auf mich gewartet?« schrie sie. »Ich mußte erst meine Hanni holen, die will doch auch mit. So wartet doch!« Die Puppe fest an sich gedrückt, verschwand dann auch Heidi mit den letzten Kindern hinter der Hecke.
Schmunzelnd wandte sich Frau Rennert ihrer Schwiegertochter Carola zu, die hinter ihr stand. »Ein Wunder, daß Heidi nicht auch noch ihre beiden Zwergkaninchen Schneeweißchen und Rosenrot mitgenommen hat«, sagte sie.
Carola, die Frau ihres bei den Kindern als Musik- und Zeichenlehrer sehr beliebten Sohnes Wolfgang, war eine attraktive Frau mit braunem Haar und braunen Augen. Sie war ausgebildete Kunstmalerin, aber als Mutter des Zwillingspärchens Andreas und Alexandra kam ihr Beruf natürlich jetzt erst an zweiter Stelle.
»Was würdest du nur ohne deine vielen Kinder anfangen«, erwiderte sie scherzend. »Ich habe schon genug mit meinen beiden zu tun, und du wirst spielend mit so vielen fertig.«
»Na, so spielend wohl auch nicht«, meinte Else Rennert. »Manche unserer Zöglinge waren schon rechte Sorgenkinder, mit...«
»Mit denen du aber bisher immer fertig geworden bist«, führte Carola den Satz lachend zu Ende.
»Es ist nicht mein Verdienst allein, wenn bei uns seelisch geschädigte Kinder wieder gesunden«, widersprach die Heimleiterin ihrer Schwiegertochter. »Frau von Schoenecker versteht es meisterhaft, das Vertrauen gerade dieser Außenseiter zu erringen und sie wieder zu glücklichen Kindern zu machen. Auch Frau Doktor Frey trägt ihr Bestes dazu bei, sowie Schwester Regine und im großen und ganzen auch unsere Kinder, die es wie niemand sonst beherrschen, so ein Kind aus seiner inneren Isolierung herauszureißen.«
Sie sah ihre Schwiegertochter liebevoll an. »Auch du, Carola, hast uns darin schon viel geholfen. Es ist doch eine wundervolle Aufgabe für uns alle, ja, eine große Freude, wenn wir miterleben können, wie so ein milieugeschädigtes Kind bei uns aufblüht. Aber gleichzeitig hat man Angst, daß das Kind wieder in sein altes Zuhause zurück muß und all unsere Mühe umsonst gewesen