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Rattenmörder: Österreich Thriller
Rattenmörder: Österreich Thriller
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eBook342 Seiten4 Stunden

Rattenmörder: Österreich Thriller

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Über dieses E-Book

Der junge Erik wächst auf einem einsamen Bauernhof heran. Ungewollt und ungeliebt fristet er viele Stunden seines jungen Lebens im Keller - eingesperrt von der eigenen Mutter. Doch hier unten lernt er seine Freunde fürs Leben kennen: Ratten. Als Jahre später in dem Ort ein Mord passiert, hinterläßt der Täter einen Hinweis: eine tote Ratte. Und auch ein Verdächtiger ist schnell gefunden: Erik. Doch als die Polizei ihn festnehmen will, taucht dieser unter. Als ein weiteres Verbrechen passiert erkennen die ermittelnden Beamten: Der Rattenmörder hat sein Werk erst begonnen und niemand ist vor ihm sicher...

SpracheDeutsch
HerausgeberFederfrei Verlag
Erscheinungsdatum3. Nov. 2014
ISBN9783902784933
Rattenmörder: Österreich Thriller

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    Buchvorschau

    Rattenmörder - Eva Reichl

    Jung

    Kapitel 1

    Einst wurde ein Kind geboren, ungewollt – ungeliebt blieb es sein ganzes Leben lang. Genau in dem Moment, in dem es das Licht der Welt erblickte, schoben sich Wolken über die Sonne.

    Ein Akt des Zufalls?

    Niemand konnte das später so genau sagen.

    Die Mutter – sie hieß Leona Simbacher, und sie würde auch heute noch so heißen, hätte sie ihr gerechtes Schicksal oder das, was manche als gerecht ansahen, nicht bereits eingeholt – gebar einen Sohn in ihrem alten, verfallenen Bauernhof. Zwischen Kuhmist und Stroh empfing die raue Welt das zartrosa Bündel, welches nun abgenabelt durch den kalten Stahl einer Klinge neben dem wärmenden Körper eines ebenso neugeborenen Kälbchens lag. Nur dass diesem Wesen die Mutterkuh, die von der Bäuerin zurück in ihre Box gesperrt wurde, sehnsuchtsvolle Blicke zuwarf, während es ihm selbst an mütterlicher Zärtlichkeit mangelte.

    Zeit seines Lebens würde sich das nicht ändern, jedoch das ahnte der kleine Erik zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht. Denn der weiche, warme Körper des Kälbchens gaukelte ihm Geborgenheit vor, die zwar rein zufälliger Natur, aber dennoch vorhanden war. Doch auch das war zu diesem Zeitpunkt keinem der beiden, weder Erik noch dem Jungvieh, bewusst. Also spielte es auch keine Rolle.

    Als die Mutter ihre Stallarbeit erledigt hatte, kam sie zurück und wickelte Erik in eine alte, fleckige Decke ein. Sie nahm ihn an sich, trug ihn ins Haus, und Erik verspürte bereits nach nur wenigen Stunden auf dieser Erde zum ersten Mal das Gefühl des Verlustes, nämlich, als das Kalb, das ihm auf so ungewöhnliche Weise Geborgenheit gespendet hatte, in seinem Heubettchen im Stall zurück blieb.

    Beim Hineingehen überlegte die Mutter für einen kurzen, aber für das Leben ihres Sohnes bedeutsamen Moment, ob sie nicht lieber doch einen Arzt rufen sollte, der die Gesundheit ihres Kindes und ihrer selbst in Augenschein nahm. Aber nein, dachte sie sich, sie hatte doch schon so oft Kälber zur Welt gebracht. Und wo lag denn da der Unterschied zu einem Menschenkind?

    Es gab keinen, dachte sie weiter und schob den Gedanken, einen Arzt zu konsultieren, von sich und aus dem Leben ihres Kindes.

    In der Stube war es weder warm noch war es kalt. Leona konnte es sich nicht leisten, eine automatisierte Heizung installieren zu lassen, denn ihr Hof warf einfach nicht genügend Profit ab. Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt von ihrer Arbeit leben konnte: eine Landwirtschaft, die sie von ihren Eltern geerbt hatte. Viel war es nicht gewesen, was ihr die Eltern mit auf den Weg gegeben hatten, außer diesem alten, heruntergekommenen Gebäude mit dem dazugehörigen Grund, der viel zu wenig war, um für ein Leben in Wohlstand zu sorgen.

    Innerhalb von zwei Wochen waren die Eltern gestorben. Zuerst der Vater. Dann die Mutter, wahrscheinlich aus Kummer, weil sie es einfach nicht hatte ertragen können, in Armut und ohne ihren geliebten Mann auf dieser Erde weiter zu leben. Das Geld für das Begräbnis hatte sie gerade noch zusammengekratzt, bevor sie dann selber abgekratzt war, oder besser gesagt, verschieden.

    Die Tochter war für sie immer nur eine Belastung gewesen. Finanzieller Natur und auch so. Sie war weder besonders klug, noch war sie, wie man landläufig zu sagen pflegte, strohdumm. Sie lag irgendwo dazwischen, war unauffällig und trotzig, aufmüpfig und streitsüchtig. Ja, das war sie, die Leona Simbacher, aber davon hatte Erik natürlich auch noch keine Ahnung.

    Leona wollte ihren Sohn in eine Wiege legen, die sie Tage zuvor vom Dachboden herunter geholt hatte, weil es ihr bereits in den Sinn gekommen war, dass ihrer Schwangerschaft zu Ende gehen könnte. Doch sie hatte einfach noch keine Zeit gefunden, die Wiege ordentlich herzurichten, sie von Spinnweben und ähnlichem Unrat zu säubern, und deshalb legte sie ihr Kind einfach daneben auf den Boden – es war ja ohnehin in eine Decke eingewickelt.

    Dann schnitt sie sich ein Stück Brot ab und beschmierte es dick mit Butter. Das war der einzige Luxus, den sie sich hin und wieder gönnte: nach der Arbeit ein dick mit Butter bestrichenes Brot, welches sie selbst gebacken hatte. Dabei betrachtete sie ihr am Boden liegendes Kind, das jetzt ruhig und friedlich in der schmutzigen Decke schlief.

    Ja, in den ersten paar Tagen waren diese Babys angeblich noch alle recht leise und sanftmütig, aber dann würden sie schon noch so richtig zur Sache kommen, das zumindest hatte Leonas Mutter immer behauptet. Leona selbst war ja ein Kind gewesen, das in den ersten Lebensmonaten ohne Unterbrechung geschrieen hatte, wenn man ihrer Mutter Glauben schenken durfte. Aber wahrscheinlich hatte sie nur schamlos übertrieben, um ihr eins auszuwischen, wenn sie nach Einzelheiten aus ihrer Kindheit gefragt hatte. Warum, das wusste Leona selber nicht. Aber irgendwie vermutete sie deshalb, dass sie ein ganz braves Kind gewesen sein musste, eines, das man gar nicht gespürt hatte, so wie das die Eltern von braven Kindern immer zu behaupten pflegten. Die sagten nämlich, sie hätten Babys, die andauernd schliefen, zufrieden an ihrem Daumen nuckelten oder mit wachem Geist die Umgebung erkundeten.

    Leona holte sich zu ihrem Brot noch einen Schluck Milch und betrachtete ihr Baby nun nicht mehr. Jetzt schlief es ohnedies friedlich in seiner Decke und brauchte deshalb auch keine Beachtung mehr, das zumindest redete sie sich ein.

    Sie schritt hinaus aus der Stube und hinüber in den Waschraum, der ihr als Bad diente und der Wäsche als Wasch- und Trockenraum. Sie säuberte sich von den Spuren der Geburt und verfluchte in Gedanken das lästige Bündel im Wohnzimmer, dass ihr das alles angetan hatte. Stimmt schon, eigentlich war es keine schmerzhafte Geburt gewesen, aber ihre Kleider waschen musste sie nun trotzdem, und eine Waschmaschine besaß sie nicht.

    Überhaupt hatte sie nicht viel, klagte sie sich innerlich selbst ihr Leid. Ihr Mann musste ja unbedingt als Söldner in diesen Gott verdammten Krieg ziehen, der sie im Grunde gar nichts anging, weil er in einem ganz anderen Land, in Jugoslawien, stattfand, und deshalb hasste sie ihn. Sie hasste ihn auch dafür, dass er sie vorher noch geschwängert hatte, bevor er dann losgezogen war und sich eine Kugel in die Brust hatte jagen lassen.

    Die Nachricht von seinem Tod war schon vor Wochen gekommen, aber sie weinte ihm keine einzige Träne nach. Er hatte sie geschlagen, seit dem ersten Tag ihrer Ehe, und so hatte sie sich auf seltsame Weise von irgendetwas befreit gefühlt, als ihr die Nachricht, überbracht von zwei Polizisten des Ortes, übermittelt worden war. Daraufhin hatte sie den Beamten die Tür vor der Nase zugeschlagen und aus dem Fenster gleich daneben noch gesehen, wie einer der beiden Männer darüber verwundert den Kopf geschüttelt hatte. Dann war sie zurück zur Toilette geeilt und hatte sich erneut übergeben.

    Während Leona ihre Kleider im Waschraum schrubbte und versuchte das Blut herauszubekommen, hatte der kleine Erik das erste Mal in seinem neugeborenen Leben eine schicksalhafte Begegnung. Während er am Boden schlief, noch immer eingerollt in die schmuddelige Decke, aber nicht mehr ganz so eng anliegend wie zuvor, wegen seiner zwar kaum wahrnehmbaren, aber dennoch vorhandenen Bewegungen, näherte sich ihm neugierig eine Ratte. Sie beschnupperte das kleine, rosa Wesen und schien sich zu fragen, woher dieser fremde, süßliche Duft in diesem ansonst so abgestandenen Mief, den sie selbst doch so sehr liebte, bloß kommen konnte?

    Was war das für ein seltsames Etwas, das einen weichen Flaum wie das samtige Fell ihrer eigenen Brut am Haupte trug? Und warum befand es sich hier am Boden, wo sonst nur kärgliches Fressbares herum lag, weil es in diesem Haus nicht viel zum Fressen gab?

    War es denn etwas für sie?

    Ein Geschenk?

    Doch wer sollte sie schon beschenken?

    Sie, die Ratte, die Gejagte.

    Vorsichtig kroch sie auf das Bündel hinauf und besah es sich von oben, aber auch dort roch es merkwürdig, so fremd, so andersartig und doch irgendwie vertraut. Lag es etwa daran, dass sie selbst gerade ihre Jungen zu Welt gebracht hatte und nun sensibel auf sämtliche Veränderungen in ihrer Umgebung reagierte?

    Die Ratte schnupperte weiter, beschloss aber, dass der wohlige Duft des säuselnden Babys nicht gut für ihren eigenen Nachwuchs wäre, und so kletterte sie von ihm wieder herunter und suchte das Weite, ohne noch einmal einen Blick zurück zu werfen. Zwischen den Ritzen der morschen Holzdielen im Boden hinter dem Herd verschwand sie dann, ohne das Erik etwas von der Begegnung mitbekommen hatte. Zurück blieb lediglich der Akt der Vergangenheit, eine flüchtige Begegnung, die niemandem aufgefallen war und die für keinen eine besondere Bedeutung hatte, außer dass sie einem die Gänsehaut in den Nacken getrieben hätte bei dem Anblick einer Ratte auf einem neugeborenen Kind, selbst wenn es nicht das eigene war.

    *

    Erik war ein ausgesprochen ruhiges Kind. Seit er sich alleine auf dem schmutzigen Boden seines Zuhauses fortbewegen konnte, gehörte er tatsächlich zu jenen Kindern, von denen die Eltern behaupteten, dass man von ihnen nichts mitbekäme. Er war es gewohnt, sich alleine zu beschäftigen. Und Erik verspürte in der Tat nicht das Bedürfnis nach seiner Mutter zu rufen, mit ihr zu spielen oder sich Trost suchend an sie zu drücken, denn zu einer engen Bindung, wie es zwischen Mutter und Kind sonst üblich war, war es zwischen ihnen beiden nie gekommen. Außerdem schrie sie die meiste Zeit ja ohnedies nach ihm, weil er dieses und jenes nicht machen durfte, und das genügte selbst in den Augen eines damals Einjährigen völlig.

    Viel lieber verkroch er sich in sämtlichen Winkeln des alten Bauernhauses, und so verwunderte es nicht, dass er bereits im Alter von drei Jahren jedes Schlupfloch in den alten Gemäuern kannte, in das er sich zurückziehen konnte, wenn er in den Augen seiner Mutter wieder einmal böse und unartig gewesen war. Sei es auch nur deshalb, weil er versehentlich in die Hose gemacht hatte, was leider hin und wieder noch immer vorkam. Seine Mutter brachte das jedes Mal auf die Palme, musste sie seine Sachen doch mit der Hand in der schmutzigen Brühe waschen, die sich seit mindestens einer Woche in dem Trog im Waschraum befand und immer wieder aufs Neue verwendet wurde, meist solange, bis sie zu stinken begann.

    Im Allgemeinen wurde das Wasser in diesem Haus sehr oft verwendet. Außer Erik verschüttete es unabsichtlich auf den Boden, was ihm aber ebenfalls Ärger einbrachte. Deshalb vermied er es tunlichst mit einem wassergefüllten Gefäß durchs Haus zu jonglieren.

    Sogar das Badewasser in der rostigen Blechwanne wurde öfter als nur einmal benutzt. Zuerst von seiner Mutter und dann von Erik. Im mehr erkalteten Zustand, denn als warme Seifenlauge, wurde es noch einmal über das Haupt des Dreijährigen geschüttet. Gebadet wurde ohnedies nur alle zwei bis drei Wochen, und für Erik stellte das immer eine große Herausforderung dar. Er durfte sich nicht dagegen wehren, denn das machte seine Mutter erst richtig ärgerlich. Er durfte auch nicht sagen, dass ihm das Wasser zu kalt wäre, denn dann war es beim nächsten Mal noch kälter, wahrscheinlich eisig kalt, und dieses Risiko konnte und wollte er nicht eingehen. Deshalb schwieg er jedes Mal tapfer, so tapfer, wie ein Dreijähriger eben schweigen konnte.

    Dazu kam noch, dass ihm das Wasser immer so erschien, als hätte seine Mutter zuvor einen Fisch darin gewaschen, den es dann aber doch nie zum Abendessen gab, und den er auch sonst nirgendwo im Haus finden konnte. Weder im Kühlschrank, noch in einem der Töpfe und auch nicht in der Mülltonne war er versteckt. Er hatte schon überall nach ihm gesucht.

    Und jedes Mal nach dem Baden hatte er das Gefühl, als stänke er selber nach Fisch, und es dauerte dann ein paar Tage, bis er dieses Gefühl wieder loswurde. Aber nach einer Weile kümmerte ihn nicht mehr, wonach er roch, denn seine Welt war sowieso auf den Bauernhof seiner Mutter beschränkt. Weiter kam Erik im Alter von drei Jahren nicht. Der hölzerne, schiefe Zaun war die Grenze seines Universums.

    Hin und wieder verirrte sich eine Seele aus dem Ort zu ihnen heraus auf den Hof, aber keiner blieb länger, als es die Geschäfte unbedingt verlangten.

    Zumindest damals noch nicht.

    Einzig und alleine der Tankwagen kam regelmäßig alle zwei Tage und holte die Milch für die Molkerei ab. Viel war es nicht, was er da zu holen bekam, aber Erik saß jedes Mal fasziniert am Fenster und starrte hinaus, wenn der Lastkraftwagen mit dem silbern glänzenden Tank vor dem Tor stehen blieb.

    Leona versuchte hin und wieder mit dem Fahrer zu reden, ein freundliches Gespräch mit ihm zu führen, was für Leona an sich schon eine Errungenschaft war, und manchmal entlockte das frohe Gemüt des Milchmanns ihr sogar ein Lächeln. Dann aber fuhr er wieder ab, der Tankwagenfahrer mit seinem Lastkraftwagen, und ließ Erik aus dem Fenster hinausstarrend zurück.

    Der Hof war klein und deshalb nicht rentabel. Die ersten Rufe im Lande wurden bereits laut, dass Bauernhöfe, wie Leona einen besaß, zum Untergang verurteilt waren und man besser den Betrieb einstellen solle, um sich anderweitig unterwürfigst eine Arbeitsstelle zu suchen. Doch viele Bauern wollten das nicht, denn sie waren das Leben als ihre eigenen Herren gewohnt, und lieb gewonnene Freiheiten gab man nun mal nicht so einfach auf, auch Leona nicht. Deshalb mühte sie sich mit ihrer viel zu kleinen und unwirtschaftlichen Landwirtschaft ab und schuftete viele Stunden lang hart für ein ebenso hartes Brot mit einer dicken Schicht Butter darauf, wie gesagt, den einzigen Luxus, den sie sich gönnte.

    Und obwohl der Hof klein war, sah er dennoch unordentlich und schmutzig aus. Wenn man wollte, dann könnte man ihn sogar als dreckig bezeichnen. Für die notwendigen Renovierungsarbeiten, beziehungsweise für so manche Arbeiten, die lediglich optischen Zwecken dienten, wie das Verlegen von Pflastersteinen oder das Verputzen von längst mürb gewordenen Ziegelwänden, hatten weder Leonas Eltern noch sie selbst Geld und Zeit verschwendet. Deshalb verwandelte sich bei jedem Regen der lehmige Boden rund um den Hof in eine matschige, rutschige Schicht, was zwar Leona zur Verzweiflung brachte, da sich dann der Dreck in einer Spur bis hinein in die Wohnräume zog, sie aber dennoch nicht genügend zu motivieren vermochte, etwas dagegen zu unternehmen. Leona hasste aus diesem Grunde den Regen, der gleichwohl ihre Wiesen und Felder wachsen und gedeihen ließ, sie aber rundum mitten in einem lehmigen Schlachtfeld einschloss.

    Daher durfte Erik an solchen Tagen auch nicht im Freien spielen. Er konnte das nicht verstehen, denn im Inneren des Hauses durfte er trotzdem keinen Lärm machen und auch keine Spielsachen herum liegen lassen. Um sich dennoch die Zeit zu vertreiben, suchte er im Haus nach den Verstecken der Ratten, die sich bei so einem Regenwetter ebenfalls lieber ins Trockene flüchteten, als im Matsch zu versinken. Wenn Erik eine Ratte erblickte, bewarf er sie mit Steinen, verscheuchte sie oder schrie sie einfach nur laut an, was meist Verwirrung bei den Tieren hervorrief.

    Mit fünf Jahren trat dann eine bedeutsame Veränderung in Eriks Leben ein. Seine Kindheit verwandelte sich von einem Tag auf den anderen in ein Drama. Ein Drama, welches sich in den Wänden des alten Hofes von allen unbemerkt abspielte.

    Die erzielten Einkünfte durch den Verkauf der Milch waren einfach viel zu wenig, als dass Leona und Erik davon hätten leben können. Das Geld reichte nicht einmal für die Lebensmittel, geschweige denn für Bekleidung oder gar neue Spielsachen. So ergab es sich denn, dass aus einem zufällig gemeinten Angebot des Tankwagenfahrers schon bald ein sehr lukratives Geschäft wurde. Ab diesem verhängnisvollen Tag wuchs die Anzahl der Besucher am Hof stetig in die Höhe. Und jedes Mal, wenn ein Mann erwartet – oder auch unerwartet – auftauchte, wurde Erik in den Keller gesperrt.

    In den Keller.

    Ein Fünfjähriger.

    Dort gab es nichts, was einem Fünfjährigen hätte Trost spenden können. Was ihm gesagt hätte, dass dies alles gar nicht in Wirklichkeit passierte, sondern nur Einbildung seiner überaus blühenden Fantasie war. Niemand schüttelte ihn, niemand rüttelte ihn wach. Niemand nahm ihn in den Arm, in diesem Keller.

    Das erste Mal kam für ihn so überraschend, dass er gar nicht wusste, was tatsächlich mit ihm geschah. Während der Tankwagenfahrer die wenigen Liter Milch in den Kühlbehälter pumpte, sprachen er und Leona wieder einmal miteinander, was eigentlich ganz normal gewesen wäre, doch irgendetwas hatte sich verändert. Es war der Blick seiner Mutter, den Erik nicht zu deuten verstand, und den er eigentlich noch nie gesehen hatte. Immer wieder sah sie zu ihm herüber, während er selbst wie jedes Mal, wenn der Tankwagen hier war, am Küchenfenster stand und hinaus starrte auf die riesigen Räder des Lastkraftwagens. Dann wanderten seine Augen nach vorne zu dem Führerhaus, unter dem sich der kraftvolle Dieselmotor befand. Doch heute blieb der LKW länger stehen, als sonst, und der Fahrer stellte dann auch noch den Motor ab.

    Erik blickte hinüber zu seiner Mutter, und die sah herüber zu ihm.

    Dann kamen beide auf ihn und das Küchenfenster zu, und er wusste nun mit Gewissheit, dass heute tatsächlich etwas anders war, als sonst. Leona und der Fahrer gingen zur Tür, und Erik hörte schon kurz darauf das Klackern von Sohlen auf dem gefliesten Boden des Vorhauses, eine ungewohnte Männerstimme, und dann das Lachen seiner Mutter. Er hatte seine Mutter nur selten lachen gehört. Vielleicht aber hatte der Mann ja auch Geburtstag, dachte er sich, denn wenn er, Erik, Geburtstag hatte, dann war seine Mutter ebenso meist bemüht fröhlich zu sein, und dann lachte sie auch manchmal. Und solche Momente schloss er dann in sein Herz ein, denn sie waren selten und kostbar. Vor allem waren sie kostbar. Er musste dann meist lange von ihnen zehren, bis sie sich wiederholten, wenn überhaupt.

    Die Tür der Küche ging auf und Leona kam herein. Sie blickte ihren Sohn an, aber eigentlich tat sie es nicht. Sie sah eher durch ihn hindurch.

    „Komm mit", sagte sie zu ihm und nahm ihn an der Hand.

    Erik sah wortlos auf den Fahrer und wurde von seiner Mutter an ihm vorbeigezogen, hinaus in den Flur und auf den Kellerabgang zu. Und dann war es so weit. Das Elend nahm seinen Lauf.

    „Du musst jetzt für eine Stunde hier bleiben, dann hole ich dich wieder ab."

    „Aber ich will nicht hier bleiben!", rief Erik ungläubig. Seine Mutter meinte das jetzt bestimmt nicht ernst! Nein, bestimmt nicht, das konnte sie eigentlich gar nicht, so etwas hatte sie noch nie getan.

    „Erik, es muss sein. Ich erkläre es dir später." Sie schob ihren Sohn weiter in den Keller hinein, um die Tür von außen schließen zu können.

    „Mama! Mama! Ich will nicht hier bleiben! Mama!", rief Erik panisch. Nun glaubte er doch nicht mehr an einen Scherz seiner Mutter, nun hatte er den Ernst der Situation erkannt.

    „Mama!, schrie er. Immer wieder: „Mama! Tränen schossen ihm in die Augen und Panik kroch in Windeseile seine Knochen empor, hoch bis in jede einzelne Faser seines Körpers. Mit all seiner Kraft krallte er sich am Fuß seiner Mutter fest und wusste instinktiv, dass er nicht loslassen durfte. Denn tat er es doch, dann hatte er verloren. Für immer, ja, wahrscheinlich für immer hatte er dann verloren.

    „Erik, jetzt hör endlich auf so zu schreien!, schimpfte Leona los. „Es ist doch nur für eine Stunde. Du bist noch zu klein, um das zu verstehen, aber es ist nur für unser beider Bestes.

    Hastig schob sie ihren Sohn erneut von sich, riss an seinen dünnen Ärmchen, um seinen Griff um ihren Fuß zu lockern und um sich von ihm zu lösen.

    Erik schrie!

    Er schrie aus Leibeskräften!

    Noch nie in seinem Leben hatte er so geschrieen!

    Er versuchte sich auf seine Mutter zu stürzen, sich an ihr festzukrallen – er war doch ihr Kind, und sie war seine Mutter, wie konnte sie ihm das nur antun? Was hatte er getan? War er etwa schlimm gewesen?

    Er wusste es nicht.

    Hatte er etwas angestellt, fallen gelassen, verschüttet, kaputt gemacht?

    Er wusste es nicht.

    Was wusste er schon? Er wusste, dass ihre Hände seinen Körper von sich schoben, sie ihn loswerden wollte, sie ihn nicht mehr lieb haben konnte, sie ihn hassen musste, und dann fiel die hölzerne, alte Tür hinter ihr und vor ihm ins Schloss.

    Erik befand sich in einer fremden Welt, die er nicht kannte.

    Außer Angst und Panik spürte er nichts mehr.

    Er drängte sich dicht an die Tür, kauerte sich davor nieder und schrie weiter. Er versuchte sich gar nicht erst vorzustellen, was sich alles in dem Keller versteckt halten könnte. Er hoffte nur, dass seine Mutter bald zurückkommen möge, um ihn von seinem Elend zu erlösen.

    Doch sie kam nicht.

    Niemand kam.

    Erst nach einer halben Stunde ebbte sein Schreianfall langsam ab und Erik hörte auf nach seiner Mutter zu rufen, denn das Wort Mama wollte ihm, nachdem sie ihn hier alleine zurückgelassen und ihn von sich geschoben hatte, wie ein lästig gewordenes Etwas, nicht mehr über die Lippen dringen.

    Es dauerte tatsächlich eine Stunde, bis Leona wieder an der Tür erschien und sie zu öffnen versuchte, was aber vorerst daran scheiterte, weil ihr Sohn zusammengekauert direkt davor saß. Zitternd und vor Angst bebend sprang er auf und rannte an seiner Mutter vorbei hinauf in sein Zimmer. Dort hechtete er in sein Bett, drückte seinen Kuschelbären dicht an sich und zog die Decke bis über den Kopf. Den gewohnten Geruch seiner Bettwäsche inhalierend beruhigte er sich nur langsam wieder.

    Was für einen Alptraum hatte er eben erlebt?

    Er war sich sicher, dass er das alles nur geträumt haben konnte. Er war sich sicher, dass nicht er es gewesen war, den er da im Keller hatte sitzen sehen, vor Angst schreiend und sich vor Panik in die Hose machend.

    Aber das kümmerte ihn nicht.

    Sollte seine Mutter deswegen nur wieder einen Wutausbruch bekommen. Hatte sie überhaupt noch ein Recht sich wegen irgendetwas bei ihm aufzuregen? Oder hatte sie durch ihre abscheuliche Tat, weil sie ihn wie ein Tier in einen Käfig gesperrt hatte, nicht sämtliche Rechte an ihm verloren? Oder taten dies auch andere Mütter mit ihren Kindern?

    Eriks kleiner Körper wurde von einem neuerlichen Weinkrampf durchgeschüttelt. Der einzige Freund, den er jetzt noch hatte, war sein Bär. Sein Mister Bär.

    In diesem Moment hörte er durch seine Decke hindurch Schritte. Sie kamen über den Flur direkt auf die Tür seiner kleinen Kammer zu. Der Raum maß gerade mal zwei Meter mal noch mal zwei Meter. Ein Bett und ein Kasten standen darin, alles alt und abgegriffen, und wahrscheinlich hatten in diesem Bett auch schon seine Großeltern geschlafen, als sie selbst noch Kinder gewesen waren.

    Die Schritte hielten vor Eriks Tür inne, so als müsste der Verursacher sich erst einmal darüber klar werden, was als nächstes geschehen sollte. Erik überlegte, dass er den Tankwagenfahrer gar nicht gesehen hatte, als er in sein Zimmer gelaufen war. Natürlich nicht, dachte er sich dann, er war ja auch so schnell, wie er nur gekonnt hatte, gelaufen und hatte nicht darauf geachtet. Was, wenn dieser Mann jetzt vor seinem Zimmer stand und zu ihm wollte und…

    Die Tür ging auf. Die Angel quietsche leise.

    Nein, dachte sich Erik. Nein, nein, nein! – schrie seine geschundene Seele!

    „Erik?", hörte er dann die Stimme seiner Mutter an sein Ohr dringen. Ganz leise, gedämpft, so als wäre auch das nur ein Traum. Wann werde ich endlich wach, fragte er sich leidend. Wie schafft man es, von selbst aus einem Traum wieder zu erwachen?

    „Erik?, wiederholte sich sein Name. „Was ist mit dir?, fragte ihn seine Mutter und setzte sich

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