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Leben nach Paul
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eBook249 Seiten3 Stunden

Leben nach Paul

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Über dieses E-Book

Von nun an gab es für Johanna keine goldenen Spätsommertage. Die farbigen Blätter auf seinem Grab sammelte sie Jahr um Jahr sorgfältig und warf sie erst weg, wenn sie vertrocknet waren. Wann endlich würde dieser Schmerz aufhören, fragte sie sich. Bald nach Pauls Tod hatte sie das Schlafzimmer verkauft. Das leere Bett an ihrer Seite war ein fortwährendes Sterben.
Mit schwachen Knien und zitternder Stimme hatte sie die Möbel dem Kneipier um die Ecke angeboten, der mit dröhnendem Lachen die Sprungfedern geprüft und seiner verlegenen Gattin munter zugenickt hatte. Für das Geld kaufte Johanna eine Couch und einen kleinen Frisiertisch, sie hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr Geld auszugeben, als sie für das Schlafzimmer eingenommen hatte. So blieb ein Rest Gemeinsamkeit.
Ein neuer Anfang in später Zeit!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Juni 2015
ISBN9783738029109
Leben nach Paul

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    Buchvorschau

    Leben nach Paul - Katrin Pieper

    Die Wochenenden hatten es in sich.

    Sie erwachte von ihren eigenen tiefen Seufzern, denen sie überrascht nachlauschte. Das also war er – der erste Tag als Pensionärin, wie ihr Chef es nannte. Sonnige Tage und einen erfüllten Lebensabend, hatte er ihr gewünscht. Der Blumenstrauß war riesig, zerstach ihr die Hände, die er mit laschem Druck schüttelte. Sie hatte sich immer vor seinen froschähnlichen Händen geekelt. Und dies war der erste Morgen des erfüllten Lebensabends: viel zu früh, um aufzustehen, viel zu spät, um weiter zu schlafen, gerade richtig für ein Kilo bleischwerer Gedanken.

    Paul, als er Rentner wurde, (und das war er nicht lange) brauchte den ganzen nächsten Tag, um seinen Rausch auszuschlafen. Johanna lächelte. Paul, ihr Septembermann. Im September hatte sie sich in ihn verliebt, im September hatten sie geheiratet. Auch die Kinder wurden im September geboren.

    „Hannchen, hatte Paul immer gesagt, „wenn ich mal sterbe, dann im September. Er hatte Wort gehalten.

    Von nun an gab es für Johanna keine goldenen Spätsommertage. Die farbigen Blätter auf seinem Grab sammelte sie Jahr um Jahr sorgfältig und warf sie erst weg, wenn sie vertrocknet waren. Wann endlich würde dieser Schmerz aufhören, fragte sie sich. Bald nach Pauls Tod hatte sie das Schlafzimmer verkauft. Das leere Bett an ihrer Seite war ein fortwährendes Sterben.

    Mit schwachen Knien und zitternder Stimme hatte sie die Möbel dem Kneipier um die Ecke angeboten, der mit dröhnendem Lachen die Sprungfedern geprüft und seiner verlegenen Gattin munter zugenickt hatte. Für das Geld kaufte Johanna eine Couch und einen kleinen Frisiertisch, sie hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr Geld auszugeben, als sie für das Schlafzimmer eingenommen hatte. So blieb ein Rest Gemeinsamkeit.

    Johanna schob sich das kleinste der drei Kissen fester ins Genick. Das Haus begann zu erwachen. Was wäre eigentlich, spöttelte sie für sich, wenn ich nun wie eh und je ins Büro gehen würde. Mit Hallo und so... Das weißt du sehr genau, sagte es in ihr. Ab heute sitzt das Blondchen an deinem Schreibtisch, huscht mit den gepflegten Fingern über die Tastatur deines PC’s (meines PC’s!), die blauen Lidschattenaugen bleiben von Zeit zu Zeit an dem Bild der blonden Retrieverhündin hängen und sie würde dich angucken, wie auch du früher die ehemaligen Mitarbeiter angesehen hast, die immer mal wieder „vorbeischauten".

    Einen Stuhl würde man dir anbieten, eine Tasse Kaffee aus der Maschine, die schon früh morgens angesetzt war, dann würden sie sagen, wie sehr sie dich beneiden um die Ruhe und die schöne Zeit, die du dir nun auch mal gönnen sollst, um dann nervös zur Uhr zu gucken, weil „die Arbeit ruft".

    Nein, eine gute Idee war das nicht.

    Im Nachthemd ging sie in die Küche, kochte sich einen starken Kaffee und brach aus dem Rosinenkuchen vom letzten Sonntag, ein kräftiges Stück heraus. Die Krümel wischte sie in die hohle Hand und schüttete sie sich gleich in den Mund. Na sieh mal, dachte sie, geht schon los mit der Grauen Panther-Gemütlichkeit. Geschickt balancierte sie alles ins Bett und genoss die bittere Süße von Kaffee und Kuchen.

    In den ersten Jahren ihrer Ehe, hatte sie manchmal versucht, mit Paul im Bett zu frühstücken. Aber Paul war von der Sorte Mann, der wegen eines Frühstücks nicht im Bett blieb. Johanna stellte die leere Tasse auf das Tischchen, zog das Radio zu sich herüber. Der Wetterbericht kündigte einen warmen Sommertag an und der Sprecher empfahl, heute mal alles stehen und liegen zu lassen und die Natur zu genießen. Johanna guckte zum Radio. Ihr fiel ein, wie sie an so einem Sommertag Paul zu überreden versucht hatte, einen Tag blau zu machen, für Grünes mit Romantik. Paul hatte abgewinkt. „Denk dir das zur Urlaubszeit aus. Da ist Zeit für Grünes und deine Romantik." Dieser borstige Mann, dachte sie, aber wahrscheinlich war es gerade das, was sie an ihm geliebt hatte. Ein Raubein eben.

    Ihre Füße tasteten nach den Hausschuhen, sie duschte und zog sich an, trug die Bettdecke auf den Balkon und legte sie dort über den Tisch.

    „Jetzt kommen wir beide zum Luftholen", sagte sie laut.

    In den drei Balkonkästen wucherte der Schnittlauch. Sie riss ein paar Halme ab und kaute auf ihnen herum. Jetzt würde der zwiebelige Geruch aus ihrem Mund keinen mehr stören. Paul war der Letzte, der sich darüber beschwert hatte, nach dem die Kinder alle ausgezogen waren. Er hatte aus Protest den dritten Balkonkasten mit Hyazinthen bepflanzt, deren Duft ganze Nieskaskaden in Johanna auslösten. Diesen stillen Krieg führten sie lächelnd und verbissen bis an sein Lebensende. Johanna hatte gleich nach Pauls Beerdigung die Hyazinthenzwiebeln aus dem Kasten genommen, sie wegzuwerfen wagte sie dann doch nicht – noch nicht – und steckte sie in einen kleinen Holzkasten zu allerlei anderen Blumenzwiebeln, die Paul übers Jahr einzupflanzen pflegte.

    Die Wohnung war früher zu klein gewesen. Spätestens beim dritten Kind wünschte sich Johanna ein Häuschen, möglichst im Grünen, außerhalb der Stadt. Aber da gab es sehr unterschiedliche Auffassungen zwischen ihnen und die Zeit tat das ihre: die Kinder wuchsen heran und zogen aus. Mit jedem Kind, das fort ging, kam ein Zimmer dazu. Schließlich hatten sie nicht nur eine große Wohnung, sondern jeder ein Zimmer für sich. Die Einsamkeit aber begann mit Pauls Tod. Und sie hatte seither nie mehr aufgehört. Johanna schloss die Wohnungstür hinter sich und ging zielstrebig zum Bäcker, gierig nach Straßenlärm und Brotduft.

    „Na, seh‘n Sie, schrie die stattliche Verkäuferin bei der Johanna seit Jahren morgens ihre Brötchen holte, (und natürlich auch für das Büro) „und so ist das nun alle Tage: Schön ausschlafen, ein ordentliches Frühstück mit frischen Schrippen, da sieht das Leben schon mal ganz anders aus. Und, sie lehnte sich vertraulich zu Johanna hin, „eine wie Sie hat das auch verdient. Was weiß man schon. Manch einer denkt, nun geht’s los mit dem guten Leben und denn...!" Sie winkte ab.

    Johanna griff sich rasch die Tüte mit den Brötchen, um weiterem Leben zuvorzukommen. Die Straße hinauf und herunter – Johanna war sich unschlüssig. Sie könnte zu Lilli reinschauen, der jüngsten Tochter, der Einzigen von den drei Kindern, die in der Stadt geblieben war. Johanna dachte es fast dankbar, wenngleich sie auch lernen musste, diese Nähe nicht allzu häufig in Anspruch zu nehmen.

    „Mama?, sagte Lilli verwundert, „nicht im Büro? Krank? Sie erschnupperte den Duft der frischen Schrippen.

    „Wunderbar, seufzte sie genießerisch, „ich koch Kaffee. Johanna genoss die Leichtigkeit ihrer Bewegungen, die sie auch noch in sich spürte. Einmal hatte Paul sie zärtlich beim Arm genommen und gesagt: „Hannchen, wirst mir noch wegfliegen mit deiner Flinkheit",

    Sie nahm den Arm der Tochter für einen Moment fest in die Hand, legte ihre Wange an die zarte Haut.

    Lilli starrte sie verwundert an.

    „Sag schon was los ist."

    „Gestern war mein letzter Arbeitstag. Du hast eine Rentnerin zur Mutter." Gespannt blickte sie auf die Tochter.

    „Mein Gott, da bin ich ja froh. Rente. Ich dacht schon was Schlimmes, dass was mit Dir ist. Rente! Und – die ist vor allem regelmäßig."

    Johanna lächelte etwas gequält.

    „Endlich mal wieder einer mit einem gesicherten Einkommen in der Familie."

    „Wieso einer? Er ja nicht, aber du? Verdienst doch..."

    „Gar nichts mehr, ergänzte Lilli fröhlich, „gekündigt. Sie goss ungerührt das kochende Wasser über das braune Kaffeepulver mit schnellem Seitenblick auf die Mutter.

    „Fall mir bloß nicht vom Stuhl, Mama", spöttelte sie.

    „Fall ich nicht. Aber sag mir warum?"

    Johanna blieb ruhig.

    Der Wassertopf setzte hart auf der Platte auf. Die Messer durchschnitten krachend die Brötchen. Der Kaffee duftete aus bunten italienischen Töpfen. Alles viel zu laut in der eingetretenen Stille. Lilli beugte sich vor.

    „Ich wusste, dass es nicht deine Billigung finden würde. Nur dass es gleich losgeht, damit hab ich nicht gerechnet."

    Johanna wiederholte beherzt ihre Frage.

    Lilli legte das Messer aus der Hand, schob den Kaffeetopf von sich und betrachtete mit schmalen Augen die Mutter.

    „Drei Gründe, so wie du sie verstehst: Schwere Arbeit, schlecht bezahlt und ein ekliger Chef. Bleib auf dem Boden, ich find was Neues. Muss es denn immer der gleiche Trott sein!"

    Sie lehnte sich seufzend zurück.

    Johanna schaute zum Fenster hin, dessen Gardinenschmuck den Geschmack und die geschickte Hand der Näherin bewies.

    So etwas hatte sie nie gekonnt. Sie trank den Kaffee in kleinen Schlucken, bemüht, ihre Erregung zu verbergen.

    „Ich versteh das besser als du denkst. Aber schmeißt man deswegen alles hin, zumal sich nichts Neues zeigt, oder?"

    Lilli zuckte die Achseln und begann den Tisch abzuräumen.

    „Gehörst eben zur ehernen Generation, die da Pflichterfüllung bis zum letzten Atemzug übt."

    Sie sah nervös und unwillig zur Uhr.

    „Ich muss los. Zum Friseur und danach mit deinem ungeliebten Schwiegersohn einkaufen. Herrgott, ich weiß gar nicht mehr, wann wir das letzte Mal zusammen einkaufen waren."

    Sie schob Johanna zielstrebig hinaus bis vor die Tür.

    „Komm heute Abend, Mama, meinetwegen auch zum Abendbrot – aber jetzt muss ich los."

    Ich nicht, dachte Johanna. Vor der Tür glänzte ein knallrotes Auto mit einer verblichenen Rose auf dem Dach.

    „Neu?", fragte Johanna.

    „Brandneu". Lilli strahlte.

    „Dein ungeliebter Schwiegersohn hat den Herzensruf seiner Liebsten erhört."

    „Er wird es mehr pflegen als dich."

    „Nicht schon wieder", wehrte Lilli gereizt ab und das Auto fegte laut hupend davon. Johanna sah ihr nach und etwas später einer älteren Frau, die ihren Dackel Gassi führte. Johanna fragte sich, wie oft so ein Tier wohl vor die Tür muss, vor allem im Winter, hatte es dann aber plötzlich eilig in die Wohnung zu kommen, die sie hell und freundlich empfing.

    Der Gedanke, sich einfach ins Bett zu legen und den Tag zu verschlafen, kam ihr zwar verwegen, aber auch verführerisch vor. Sie holte die Bettdecke vom Balkon, ließ die Jalousie herunter, zog das Nötigste aus und schlief ruhig ein.

    Ein Freund von Paul hatte mal gesagt, dass er die Sonnabende und Sonntage allesamt dem lieben Gott schenken würde.

    Damals hatte Johanna wenig Verständnis dafür gehabt.

    Die Wochenenden gehörten den Kindern, dem Mann, der Bügelwäsche, den lang versprochenen Ausflügen, den Lockenwicklern, den zu spät in Angriff genommenen Schularbeiten, dem „wir müssen mal was klären", was nie geschah und immer verschoben wurde.

    Die Wochenenden waren solche prallen Säcke, die nie ganz zu leeren waren, aber die schmaler und luftiger wurden, als die Kinder aus dem Haus waren.

    Eine ältere Kollegin, alleinstehend und immer etwas giftig, wie Johanna fand, hatte sie gefragt, wie denn nun ihre Wochenenden, da die Kinder ausgeflogen waren, aussähen. Johanna hatte spitz auf Paul verwiesen, der schließlich umsorgt werden müsse. Damit waren die Fronten klar: Alleinstehende Frauen, ältere dazu, laufen wie ein körperlich gewordener Fehler durch die Welt. Einfach das falsche Programm gewählt.

    Dann, nach Pauls Tod, hörte sie wehmütig - neidvoll die Familienberichte junger Mütter und jüngerer Großmütter.

    „Du musst dir was Eigenes suchen", hatte Paul einmal gesagt, als auch Lilli, die jüngste Tochter davon war, und sie musste an Loriots Jodeldiplom denken - was war das: das Eigene?

    Damals hatte sie genug Eigenes. Nach acht Stunden im Büro kam sie abends genauso müde wie Paul nach Hause. Sie aßen ihr stilles Abendbrot, sprachen wenig, ließen Arbeitsprobleme draußen und teilten den Abend mit dem Fernseher.

    Anfangs wollte sie mit Paul noch mal ein neues Leben beginnen, wie zu Beginn ihrer Ehe, nun aber mit dem Wissen voneinander und der ruhigen Liebe zueinander, die nicht ganz so ruhig sein sollte, wie sie im Laufe der Jahre geworden war.

    Sie wollte, dass sie füreinander wieder wach würden.

    Johanna lebte Diät, verlangte einen Hometrainer den Paul auf dem Balkon aufbaute, damit das Training an der frischen Luft erfolgen konnte. Sie wechselte die Haarfarbe und erneuerte ihre Nachthemden. Da endlich merkte Paul auf und fragte nach. So auf seine Art, diese schmucklose, gnadenlos gradlinige Art, die lediglich eine Antwort verlangte.

    „Wieso hast du dir die Haare färben lassen?"

    Er umrundete Johanna und zupfte an einer Haarsträhne.

    Johanna hatte sich alles glücklich gefallen lassen.

    „Mir haben deine Haare gefallen", sagte er schließlich.

    „Aber sie wurden grau", hatte Johanna eingewandt.

    Paul zog die buschigen Augenbrauen hoch, die Johanna nie kürzen durfte.

    „Ja und - Hannchen wir sind grau."

    „Du vielleicht, hatte Johanna spitz entgegnet, „ich nicht. Man kann sich nicht so einfach gehen lassen. Auch wenn man keine Siebzehn mehr ist.

    Er hatte an sich herunter gesehen: braune Cordhosen, braunes Hemd, etwas Bauch, trat vor den Spiegel und beschaute seine hohe Stirn mit dem angrenzenden Haarkranz.

    Dann hob er die Schultern, guckte Johanna etwas hilflos mit seinen guten alten Augen an.

    „Willst vielleicht auch einen anderen Mann?", fragte er leise.

    Johanna kämpfte gegen die in ihr aufkommende Rührung und den Anflug eines schlechten Gewissens.

    „Nein, keinen Neuen, aber den Alten etwas frischer", hatte sie leise geantwortet, zugleich auch die Fadheit ihrer Worte gespürt.

    Und dann hatte sie tatsächlich auch noch gefragt, ob und warum er sie lieben würde.

    Darauf hatte Paul lange geschwiegen, und schließlich gesagt, er täte es eben einfach.

    Johanna wählte irgendwann ein harmloses, kaum bemerkbares Braun als neue Haarfarbe, quälte sich anstandshalber jeden Tag eine halbe Stunde auf dem kostenintensiven Fahrrad herum und tat in die Rouladen wieder Speck.

    Allmählich begann sie sogar diese unkomplizierte Harmonie zu genießen und Schlupfhosen mit Gummizug hielten Einzug in ihren Kleiderschrank.

    Dann kam sein Tod.

    Tage und Nächte, Wochenenden und Feiertage erhielten ihre Unwucht.

    Anfangs war sie bei den Kindern. Zumeist bei Lilli, sehr selten bei Anna, viel zu selten bei Jonas, ihrem Ältesten.

    Sie suchte eine Spur jener Empfindung, die sie nur zu ihm gefühlt hatte.

    Als er seinerzeit mit diesem kühlen und schönen Mädchen aus Schweden ankam, das ihr den Sohn wegnahm, tat sie sich schwer.

    „Du musst ihn irgendwann auch loslassen", hatte Paul gesagt.

    Sie hatte ihn nicht loslassen müssen, er hatte sich einfach wegnehmen lassen. Das Mädchen nannte ihn Jon oder Jonny und das gefiel ihm, wie ihm überhaupt alles gefiel, was sie tat.

    Für Johanna war er plötzlich namenlos. Denn als sie ihn einmal „Jonas" rief, hatte er gar nicht darauf reagiert oder zumindest sehr spät und gelacht und gesagt, dass er gar nicht mehr wüsste, dass es diesen Namen auch noch gäbe.

    Wenn sie zu ihm fuhr, dann waren es drei Stunden Zugfahrt, und zehn Minuten für Mutter und Sohn. Er stand am Bahnhof und erwartete sie, nur sie. Ankunft und Abfahrt – da gehörte er ihr ganz und gar, da war nichts zwischen ihnen, keine Fragen, keine Missverständnisse, keine Erklärungen – die ganze Rückfahrt spürte sie die Wärme seiner Umarmung und seinen bärtigen Kuss auf der Wange und sein „pass auf dich auf, Mutterchen". Ein inneres Öfchen, das lange wärmte.

    Im Laufe der Jahre hatte sie zu jedem der Kinder eine eigene Beziehung gefunden. Lange war ihr das wenig bewusst und später auch nicht recht. gewesen. Das zweite Kind, Tochter Anna meldete sich zu früh. Da wollte sie noch kein Kind. Jonas begann gerade zu laufen, da spürte sie die Schwangerschaft und dachte an Abtreibung.

    Paul verbot es ihr ganz einfach. Er nannte eine Reihe plausibler Gründe, die für das Kind sprachen: eine gesunde junge Mutter, einen gut verdienenden Ehemann, ausreichenden Wohnraum.

    Sie hatte heulend vor soviel gnadenloser und nackter Wahrheit, die Wohnung verlassen und versucht, den Abbruch auf natürliche Weise herbeizuführen. Was nicht gelang. Anna wurde geboren. Johanna hatte lange gebraucht, den Abstand zu dieser Tochter zu überwinden.

    „Du musst sie ja nicht verwöhnen, nur weil du sie nicht wolltest", hatte Paul mal gesagt, als Anna einen ihrer Wutanfälle bekam und Johanna sie mit Süßigkeiten vollstopfte, nur um sie zu beruhigen.

    Das war ihr lange nachgegangen und es war auch Anna, die sie mal gefragt hatte, ob Johanna alle drei Kinder gleichermaßen lieben würde.

    Da war Lilli unterwegs, ein Nachkömmling, ein Zufall, eine

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