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Der verschwundene Friedrich
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eBook208 Seiten3 Stunden

Der verschwundene Friedrich

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Über dieses E-Book

Ein Kind wird unter Schmerzen geboren. Es ist kein Wunschkind.

Am ersten Tag des Jahres 1889 essen die Telefonist Annie von Trampe und ihr Ehemann Julius Frühstück. Annie arbeitet seit dem Sommer in der Telefonzentrale, da ihr Mann aus der preußischen Armee wegen Trunkenheit entlassen wurde und sie irgendwie ohne ihn über die Runden kommen musste. Mittlerweile jedoch hat sich Julius wieder gefangen und wird für diverse Recherchen im Auftrag von gehörnten Ehemännern oder Politikern bezahlt.

Zu Jahresbeginn erhält er den Auftrag den jungen Friedrich von Helmstein zu finden, der seit einiger Zeit verschwunden ist, aber in Kürze eine gute Partie (Emma von Romarck) heiraten soll....

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum22. Dez. 2020
ISBN9783748701132
Der verschwundene Friedrich

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    Buchvorschau

    Der verschwundene Friedrich - Bertha Fredersdorf

    Prologue

    Das Kind schrie laut – elend laut. Es wollte nicht aufhören. „Endlich schreit es!", sagte die Hebamme und drückte es der Mutter an die Brust. Dann war es wieder ruhig. Es zog und zog. Marie wollte nicht hinsehen, nicht wissen, was es tat.      Kein Kraft, nur Schmerz. Fast so schlimm wie am Anfang.

    Die Glocken des Kirchturms läuteten Mitternacht. Wie lange hatte es gedauert? Zulange. Marie wusste es nicht. Am gestrigen Tag war sie in Altenburg angekommen, am ersten Weihnachtsfeiertag. Der stechende Schmerz in ihrem Rücken setzte ein, als sie die Schwelle zum Haus ihrer Mutter betreten hatte. Sie war gefallen. Und dann immer wieder Schmerzen, Gebrüll, Blut. Ihre Mutter stand mit vorwurfsvollem Blick in der Ecke der Kammer. Wer war noch alles dabei? Wer noch hat ihre Schande mit angesehen? So war das alles nicht geplant. Nichts war je so geplant gewesen. Heimlich wollte sie hierherkommen und im Verborgenen bei ihrer Mutter das ungewollte Kind zur Welt bringen.

         Das Kind. War es ein Junge oder ein Mädchen? Marie war das egal. Das Kind von ihm. Der Ball. Der preußische Offizier mit den blonden Locken, dem Schnauzer und den unglaublich blauen Augen. Sie war fasziniert gewesen. Er hat viel mit ihr getanzt. Es war ein schöner Abend gewesen - bis dahin.

    Tränen rollten über ihre von der Anstrengung blassen Wangen. Er war ihr nachgegangen. Sie wollte doch nur frische Luft schnappen. Im Saal war es so warm gewesen. Er ist ihr hinterher und dann... Nein, sie wollte daran nicht mehr denken.

         Einige Wochen später beim Tee mit den anderen Frauen. Ihr war so übel geworden. Da wusste sie, dass der Ball erst der Anfang war. Danach war sie kaum noch aus dem Haus ihrer Tante gegangen. Die Leute hätten es bemerkt. Eine Sommergrippe, so hatte sie es ihren Freundinnen geschrieben, die immer wieder fragten, warum sie nicht mehr zum Tee vorbeikommen und die schönen Bälle auslasse. Tante Pina hat nicht gefragt.  Tante Pina hatte sich noch nie für irgendwas interessiert, was die Tochter ihrer jüngsten Schwester betraf. Es war zwar ihre gesellschaftlich notwendige Pflicht, sie aufzunehmen, damit sich in Berlin ein angemessener Ehemann für ihre Nichte fände. Mehr aber auch nicht.

         Den Bauch hatte Marie unter bauschenden Röcken versteckt. Die Dienstboten hatten natürlich nichts gesagt. Warum auch. Den Sommer und den Herbst über hatte Marie sich so versteckt. Aber sie hat gewusst, dass das Kind irgendwann raus musste. Es würde ein Skandal geben. Kein anständiger Mann würde sie mehr als Ehefrau akzeptieren. Ein Bastard ohne Vater. Eine befleckte Frau.

         Altenburg. Das war weit genug weg. Als junges Mädchen hatte sie es gehasst, bei ihrer Mutter und derem zweiten Mann in Altenburg aufwachsen zu müssen. Auch ihre Mutter fand es dort fade, nachdem sie jahrelang in Potsdam in besseren Kreisen verkehrt hatte. Aber nach dem frühen Tod von Maries Vater und den vielen Spielschulden, die er hinterlassen hatte, hatte ihre Mutter kaum eine Wahl gehabt. Und so hatte sie sich mit einem Leutnant aus dem Gefolge des Herzogs von Sachsen-Altenburg verheiratet. Altenburg war eine schöne Stadt, aber Marie hatte die vielen Feste vermisst und ihre drei Brüder. Die waren alt genug gewesen, um im Militär unterzukommen. Nach ihrem 16. Geburtstag durfte sie dann endliche zu Tante Pina ziehen.

         In Berlin hatte sie sich schnell eingelebt. Ihre Brüder hatten sie oft besucht. Insbesondere der dreißigjährige Friedrich hatte sich anfangs gut um sie gekümmert. Seine Frau war weithin bekannt und führte sie in die Gesellschaft ein. Friedrich zeigt ihr die Stadt und gemeinsam unternahmen sie Ausflüge ins Umland. Und dann kam dieser vermaledeite Abend auf dem Anwesen eines befreundeten Ehepaares. Sie hatte so schön getanzt und jetzt lag sie hier. Ein fremdes Kind an ihrer Brust. Sie wagte nicht, es anzusehen. Irgendwann fielen ihr die Augen zu.

         Sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde es beenden.

    Neujahr 1889

    Müde zog Annie ihre Stiefel aus. Nachtschichten an Silvester. Sie war hundemüde. Nur noch ins Bett. Sie hörte Julius Schnarchen durch die Tür zwischen Flur und Schlafraum. Einen Schluck Tee brauche ich noch, dachte sie, und holte eine Tasse aus dem Küchenschrank. Wie so oft war die Küche unordentlich. Der Abwasch vom Abendbrot stand immer noch da. Soviel zur Aufgabenteilung, flucht Annie innerlich. Aber sie hatte es ja gewusst. Nur weil sie arbeiten ging, hieß das nicht, dass Julius nur einen Handschlag mehr im Haushalt machte. In solchen Momenten hasste sie es, eine Frau zu sein. Es gab noch mehr solcher Momente. Dass er als Mann viel im Haushalt machen würde, damit hatte sie ohnehin nicht gerechnet. Sie war ja schon froh, dass Julius nicht mehr trank. Und genaugenommen machte er weitaus mehr, als alle anderen Männer, die sie kannte. Sie war zu müde darüber weiter nachzudenken. Sie trank den letzten Rest Tee und schlich ins Bett. Sie hatte kaum den Kopf aufs Kissen gelegt, da schlief sie schon.

         Der Duft von gebratenen Eiern ließ sie blinzeln. Sie rieb sich die Augen. Fahles Sonnenlicht drang durch die Fensterläden. Aus der Küche hörte sie eine leise gepfiffene Melodie. Sie lächelte. Das liebt sie an ihm. Morgens war er immer gut gelaunt.  Sie hörte, wie er Tassen und Teller auf ihren kleinen Tisch stellte und sich unter seine Melodie das Pfeifen des Wasserkessels mischte. Dann muss ich wohl aufstehen, dachte sie. Sie kuschelte sich nochmal unter die Bettdecke. Die paar Stunden Schlaf seit sie vom Dienst zurückgekommen war, hatten nicht gereicht und unter den Daunen war es so schön warm. Sie hatten zwar einen Kohleofen und Julius hatte vermutlich auch schon angeheizt. Aber gegen die winterliche Kälte, die durch die Fenster drang, konnte auch der beste Ofen nicht ankommen.

         Ein brauner Lockenkopf und Bartstoppel am Kinn – Julius stand im Türrahmen und blickten grinsend ins Schlafzimmer. Unter der dicken Decke sah Julius nur einige wenige blonde Strähnen hervorlugen. Auf Zehenspitzen schlich er sich an und legte sich vorsichtig neben seine wunderhübsche Frau. Was für ein Glückspilz ich doch bin, dachte, als er vorsichtig die Bettdecke von ihrem Gesicht schob und ihr einen weichen Kuss auf die Lippen setzte. „Guten Morgen, meine Königin, Frühstück ist fertig!, flüsterte er. Sie blinzelte. „Dann muss ich wohl aufstehen., lächelte sie ihn an. Julius nickte nur und ging pfeifend in die Küche. Annie stellt vorsichtig einen Fuß auf die Bodendielen. Brrh, kalt. Unter dem Bett fand sie ihre Pantoffeln. Sie zog sie an und schnappte sich die Wolldecke, die auf dem Stuhl neben dem Bett lag. Eingemummelt in die Decke und mit warmen Füßen in den Pantoffeln ging sie in die Küche. Julius saß schon, Tee schlürfend, am Tisch. Seine Füße barfuß auf den kalten Dielen, nur in Unterhemd und Hose.

         „Bei dir ist wohl schon Sommer ausgebrochen?", lächelte sie ihn an. Ihm war immer warm, Sommers wie Winters. Die Wohnung duftete wunderbar nach gebratenen Eiern. Annie sah sich in der Küche um. Der Abwasch vom Vortrag war gemacht und an ihrem Platz standen Schrippen, Eier und eine dampfende Teetasse. Sie ging zu Julius und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Er zog sie auf seinen Schoß und ließ ihren Mund nicht mehr los. Sie kuschelte sich an ihn. Er war schön warm. Dann knurrte ihr Magen. Sie hatte seit gestern Abend nichts mehr gegessen und es war bestimmt schon zehn Uhr. Julius ließ von ihr ab.

          „Nu iss erst mal was, meine Königin!, sagte er und zeigt auf den gedeckten Tisch. Annie ließ sich das nicht zweimal sagen. Genießerisch biss sie in die frischen Brötchen und aß die gebratenen Eier. Zwischen den Bissen fragte sie: „Sind das die letzten Eier? Julius nickte nur. Sie würden demnächst wieder raus zum Hof ihrer Eltern fahren müssen, um Nachschub zu besorgen. Morgen vielleicht. Morgen wäre ein guter Tag. Heute war Julius in der Kaserne verabredet.  Julius würde nachher einige Leute treffen und mal sehen. Es wird sich schon was finden. Vielleicht hatte Oliver wieder einen Auftrag für ihn. Irgendein Oberst, der vermutete, dass seine Frau fremdging oder ähnliches. Ihre Arbeit als Telefonistin brachte zwar Geld für den Unterhalt der Wohnung und für Nahrungsmittel ein. Alles, was darüber hinaus ging – Kleidung, Fahrkarten und ein Besuch im Café.

         Sie hatten die Stelle angenommen, als es Julius ganz schlecht ging und sie sich nicht anders weiterzuhelfen wusste. Ihre Eltern oder gar ihre Schwiegereltern um Geld zu bitten, das kam damals für sie nicht Frage. Julius ging es jetzt deutlich besser und sie waren über die Runden gekommen. Das war das einzige, was zählte.

         Julius lag letzter Fall drei Monate zurück und die Rücklagen aus dieser Zeit waren bald aufgebraucht. Er brauchte dringend neue Aufträge.

         „Worüber denkst du nach?", fragt Julius sie.

    „Dies und Das". Annie beschloss nicht über ihr finanzielles Problem zu sprechen.

         Erst vorgestern hatten sie sich wieder darüber gestritten, vor allem, weil Julius nicht so sehr begeistert davon war, dass seine Frau arbeiten ging. Wohl hatte er verstanden, dass es eine Zeit gab, in der Annie keine andere Wahl gehabt hatte, als sich in der Telefonzentrale zu verdingen. Doch jetzt war es etwas anderes. Arbeiten gehen - das war etwas für unverheiratete Frauen und außerdem hätte er ja Geld und könne ihr ein sehr gutes Leben als Frau von Trampe bieten. Annie wollte das nicht. Sie war noch nicht wieder soweit.

    „Was ist denn Dies und Das, meine Königin?, hakte Julius nach und wischte sich grinsend Milch aus seinem Schnauzer. „Zum Beispiel, dass du jetzt losmusst und ich auch noch einiges zu erledigen habe., erwiderte sie, stand auf und gab ihm über den Tisch hinweg einen Kuss. Julius grinste noch mehr.

          Die Sonne schien zwar, aber ein kalter Wind pfiff um die Häuser. Sie zog ihren Schal fester um den Hals.  Es war bitter kalt draußen. Dagegen war ihre Wohnung richtiggehend warm gewesen, dachte Annie. Am Droschkenstand gab es einen kleinen Blumenladen. Die Rosen, gut eingehüllt in dicke Lagen Papier, waren natürlich unerschwinglich für sie. Das konnten sich nur die edlen Herren für ihre feinen und unfeinen Damen leisten. Annie kramte in ihrer Manteltasche. Ihre Pfennige reichten gerade für ein kleines Gebinde Trockenblumen. Besser als nichts, dachte sie während sie der Verkäuferin – ein Muttchen mit Kopftuch und tiefen Furchen im Gesicht - die Pfennige in die knorrige Hand legte.

         An seinem Todestag würde sie wieder Sonnenblumen kaufen und ihm auf sein winziges Grab legen. An seinem Geburtstag würden es immer nur Winterblumen sein. Sie atmete tief durch und setzte ihren Weg fort. Der Wind pustete ihr Kopftuch beiseite, als sie den schützenden Stadtbereich verließ. Die letzten Minuten über den Sandweg zum Friedhof waren besonders kalt. Sie zog Mantel und Kopftuch noch enger. Sanft wehte der trockene Sand über den Weg, während sie raschen Schrittes über den Pfad eilte.

         Die Mauer des Friedhofs hielt den eisigen Wind nur etwas fern. Aber es war ruhig hier hinten. Wie sollte es auch anders sein. Es war ein Friedhof. Eine ältere Frau lief gebückt an einer Grabreihe entlang und wischte Staub von mehreren Steinen. Annie ging in die hinterste Ecke. Dort wo die kleinen Gräber waren. Auf einen Stein hatten Julius und sie verzichtet. Das hölzerne Kreuz begann schon zu verwittern. Dabei war Jans Beerdigung doch kaum ein halbes Jahr her. Seufzend legte sie den Strauß auf den winzigen Grabhügel. Vor sechs Monaten war es das erste Grab in dieser Reihe gewesen. Zehn weitere kleine Opfer hatte der nasse Spätsommer gefordert. Es war das Fieber gewesen, der rote Hals, die Schmerzen in allen Gelenken. Das Fieber, dass ihren Sohn, der kaum gelebt hatte, so früh von ihr genommen hatte. Sie hatte gewusst, dass Kinder oft früh starben. Aber warum ihr erster Sohn? Er war so ein friedlicher Säugling gewesen. So fröhlich und sie waren glücklich gewesen. Und dann… Annie wischte die Gedanken beiseite. Es half nichts.

         Von den vier Kindern ihrer älteren Schwester hatten bisher auch nur zwei überlebt. „Die kleinen Wurschtel sind halt anfällig., hat sie gesagt. „Da kann man nichts machen. Es ist das Los einer Frau, darüber hinwegzukommen., hatte Lou gesagt, als sie den kleinen Jan zu Grabe getragen hatten.     Annie konnte es nicht, konnte nicht darüber hinwegkommen. Sie konnte nicht einfach so vergessen. Sie wusste, dass es Zeit brauchte, aber es tat weh - immer noch.

         Auch Julius hatte darunter gelitten. Er war zu dieser Zeit mit seiner Einheit in Mecklenburg gewesen. Die Nachricht von Jans Tod hatte ihn erst Tage später erreicht. Als er zuhause angekommen war, war alles schon vorbei gewesen. Kein Kind mehr. Nur noch Trauer. Trauer, die er in Schnaps ertränkte – viel Schnaps, zu viel.  Er hatte nicht randaliert, wie viele andere, die dem Alkohol verfallen. Die vom Kummer herrührende Lethargie hat er durch den Alkohol lediglich verstärkt. Er war kaum noch aus dem Haus gegangen, hatte seine Dienstzeiten verschlafen. Sein ihm vorgesetzter Offizier hatte dafür keinerlei Verständnis. Der Suspendierung folgte die Entlassung.

         Damals hatte Annie begonnen, als Telefonistin zu arbeiten – des Geldes wegen und damit sie nicht die ganze Zeit trauernd zuhause saß. Es war nicht ganz einfach gewesen als verheiratete Frau, eine Anstellung zu bekommen. Eine gute Schulbildung war Annie dank der politischen Vorstellung des Grundbesitzers – Julius Vater, bei dem ihr Vater Pächter war, - zuteil geworden. Diese Voraussetzung, als „Fräulein vom Amt zu arbeiten, war nicht das Problem gewesen. Die Zeugnisse konnte sie vorweisen. Aber üblicherweise wurden nur unverheiratete Frauen eingestellt. Ihr Arbeitgeber glaubte bis heute, dass Annie ledig war. Und Annie hätte Julius beinahe tatsächlich verlassen. Damit, dass er sich völlig hängen gelassen hatte, war sie nicht klargekommen. Das war nicht mehr ihr Mann. Sie hatten sich viel gestritten damals. Und das hat ihn zur Besinnung kommen lassen. Den Schnaps und auch anderen Alkohol rührte er jetzt nicht mehr an.  „Kein Alkohol mehr - nie wieder!, hat er ihr geschworen. Und er hat sich darangehalten.

         Sie waren übereingekommen, dass sie keine weiteren Kinder haben wollen. Zu sehr hatte der Verlust des ersten Kindes ihnen zugesetzt. Zumindest bis Annie sich sicher war, dass Julius sich wieder vollständig gefangen hat, wollten sie warten. Irgendwann im Herbst kam dann das erste Angebot, eine private Ermittlung zu machen. Ein Abgeordneter der liberalen Partei brauchte Informationen zu einem gewissen Oberst, der zufällig Julius ehemaliger Vorgesetzter gewesen war. Und dann kamen weitere Aufträge. Das half. Vor allem – so glaubte Annie fest – half es Julius über die Trauer und vom Schnaps wegzukommen.

         Annie sprach ein kleines Gebet.  Sie betrachtete abermals das verwitternde Kreuz. Zeit heilt alle Wunden, sagte man. Zeit lässt vor allem die Erinnerung verblassen, dachte Annie, ehe sie sich wegdrehte. Der Friedhof war menschenleer. Die alte Frau mit dem Wischlappen war weg. Auch sie sollte nach Hause gehen, Mittag kochen und sich dann hinlegen. Bis zur nächsten Schicht auf dem Amt sollte sie ausgeruht sein.

         Julius saß bereits am Küchentisch. Zeitungen vor sich ausgebreitet. „Hast du Erfolg gehabt?, fragt sie ihn, während sie eine Topf Wasser auf den Herd setzte. Er schüttelte den Kopf. Die Jungs haben keine Neuigkeiten für mich und in dieser Stadt ist momentan nicht viel los. Nur das Militär stockt wieder auf. Annie zog ihre linke Augenbraue hoch. „Heißt das, dass sie dich wiedereinstellen müssen? fragt sie ihn. „Kann sein. Ich hoffe nicht. Mit denen habe ich abgeschlossen., antwortete er. Das konnte Annie gut verstehen. Sie erinnerte sich noch zu gut daran, wie sie ihn damals behandelt hatten. Auch eine Ursache dafür, dass es ihm so schwer gefallen war, die Traue um ihren Sohn zu verarbeiten.   Zwei Tage Urlaub hatten sie ihm gegeben, damit er nach dem Tod seines Sohnes nach Berlin fahren durfte. Und dann sollte er wieder antreten, als ob nichts gewesen wäre. Sein feiner Offizier. Zwei Tage. Das reichte kaum, um diesen sinnlosen Tod zu verstehen. Annie schüttelte den Kopf. Es gab ja kein weiteres Kind. Also konnte er

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