114 Das gestohlene Herz
Von Barbara Cartland
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Buchvorschau
114 Das gestohlene Herz - Barbara Cartland
Vorbemerkung der Autorin
Im Jahr 1802, zehn Tage, nachdem England den Friedensvertrag mit Frankreich unterzeichnet hatte, begann es mit einer fast ungehörigen Geschwindigkeit abzurüsten. Während Napoleon weiterhin eine ungeheure Rüstung aufrechterhielt und seine leeren Schiffsdocks wieder füllte, entließ England die Freiwilligen und halbierte seine Armee. Lord St. Vincent, der Chef des britischen Admiralstabs, benutzte sein immenses Ansehen dazu, in der Marineverwaltung drastische Einsparungen vorzunehmen. Innerhalb weniger Monate wurden 40 000 Seeleute entlassen, und Hunderte von erfahrenen Offizieren erhielten nur noch den halben Lohn.
Obwohl alle Schiffe nach einem langen Krieg reparaturbedürftig waren, wurden Dockarbeiter entlassen, Kontrakte mit privaten Docks gekündigt und überschüssige Vorräte verkauft, in manchen Fällen an französische Agenten.
Aber dieser Optimismus war von kurzer Dauer. Am 18. Mai 1803 war England wieder einmal gezwungen, Frankreich den Krieg zu erklären. Glücklicherweise war der Krieg, den Napoleon gewünscht und beabsichtigt hatte, für diesen zu früh gekommen. Dadurch, daß die Engländer ihn zum Kampf zwangen, ehe seine Marine gerüstet war, gewannen sie die Hälfte des Bodens wieder, den sie durch den Friedensvertrag verloren hatten.
Jahrhundertelang nahm ein Admiral seine eigenen Dienstboten mit auf See, gewöhnlich einen Kammerdiener, einen Küchenchef und einen Diener, der ihm bei den Mahlzeiten auf wartete. Er bezahlte sie stets selbst. Erst 1914 ordnete die Admiralität an, daß diese Dienstboten Uniform zu tragen hatten und auf die Lohnliste der Marine gesetzt wurden.
1.~ 1802
Als der Marquis de Veryan aufwachte, hatte er das ungute Gefühl, daß er nicht hätte schlafen sollen. Sein Kopf schmerzte, und er hatte einen trockenen, bitteren Geschmack im Mund. Plötzlich erinnerte er sich, daß er am vergangenen Abend zu viel getrunken hatte.
Dies tat er im Gegensatz zu seinen Mitmenschen recht selten. Aber es war ein äußerst unterhaltsamer Abend gewesen, und liebe Freunde hatten mit ihm auf seine Erfolge beim Pferdewettrennen angestoßen. Natürlich hatte er den Toast jedes Mal erwidern müssen. Der Wein, den er selbst ausgewählt hatte, war exzellent gewesen. Jetzt dachte er fast stöhnend, daß er für sein Vergnügen würde bezahlen müssen, und dabei bemerkte er, daß er das Zimmer, in dem er lag, zwar kannte, daß es aber nicht sein eigenes war.
In diesem Augenblick hörte er ein leises Schnarchen. Er blickte sich um, die Bewegung tat ihm weh und sah, daß Rose neben ihm lag und noch schlief.
Als er sie ansah, regte sich irgend etwas in seinem Gedächtnis, blieb aber ärgerlicherweise undeutlich.
Sie hatte etwas Wichtiges zu ihm gesagt, aber was war es gewesen?
Sie sah jetzt nicht besonders gut aus. Ihre Schönheit war in diesem Augenblick nicht göttlich wie der Marquis und jeder andere Mann es gestern abend beim Essen empfunden hatte.
Die Tusche war von ihren langen Wimpern an ihren Wangen heruntergelaufen, und das Rot ihrer Lippen, gestern unwiderstehlich einladend, war jetzt verschmiert.
Sie schnarchte. Es war ein sehr leises Schnarchen, aber trotzdem ein Schnarchen, und der Marquis blickte zu dem mit Rüschen eingefaßten Satin des Himmelbettes hinauf.
Jetzt fiel ihm ein, woran er sich zu erinnern versucht hatte, und es traf ihn mit der Gewalt eines Donnerschlags.
»Wirst du mich heiraten, liebster Justin?« hatte Rose ihn gefragt.
Und er wußte nicht mehr, was er geantwortet hatte, angeregt durch den Champagner und den Rotwein und beflügelt von der Tatsache, daß sie nach seiner kurzen, aber hartnäckigen Werbung mit ihm ins Bett gegangen war.
Lady Rose Caterham war die Schönheit von St. James und galt während der letzten zwei Jahre unter den jungen Herren als die Unvergleichliche unter den Unvergleichlichen.
Ihr Mann war im Krieg gefallen, und als Witwe hatte sie den Kreis um den Prinzen von Wales betört. Die Reihe ihrer Liebhaber war immer größer geworden, bis sie schließlich auch den Marquis für sich begeistern konnte.
Das war keine geringe Errungenschaft, denn obwohl er als der Begleiter der begehrenswertesten und reizvollsten Schönheiten der Saison bekannt war, nachdem er der intelligenten Lady Melbourne viele Jahre lang mehr oder weniger treu gewesen war, hatte er erklärt, er würde sich nicht mehr für die Lebedamen der Gesellschaft interessieren.
Er hielt die meisten für prätentiös und zu gekünstelt und fand nun die freizügigen, lockeren Manieren der Ballettänzerinnen und der Frauen vom Typ einer Harriet Wilson mehr nach seinem Geschmack.
Lady Rose aber war entschlossen gewesen, ihn für sich zu gewinnen, und hatte alle Reize und ihren ganzen Charme spielen lassen, um den Marquis zu verführen.
Doch sie war klug genug gewesen, ihm die Eroberung nicht zu leicht zu machen.
Sie hatte ihm ,etwas für sein Geld‘ gegeben, wie der Marquis es in Gedanken ausdrückte, und er hatte den Flirt genossen, obwohl er das unvermeidliche Ende nur zu gut kannte.
Vielleicht war er zu abgebrüht, aber es war ihm tatsächlich nicht in den Sinn gekommen, daß Lady Rose ihn nicht als Liebhaber, sondern als Gatten wünschte.
Die Idee, sie zu heiraten, erschien ihm absurd. Die Ehe war für ihn ein Thema, das so weit außerhalb seiner Vorstellungen lag, daß er nur gezwungenermaßen mit seinen Verwandten darüber sprach.
Die älteren Familienmitglieder tadelten ihn, weil er keinen Erben zeugte, der einmal seine riesigen Besitztümer übernehmen würde.
Jetzt dachte er entsetzt daran, wie sich Roses Lippen verführerisch den seinen genähert hätten.
»Wirst du mich heiraten, liebster Justin?«
Und er wußte nicht, was er darauf geantwortet hatte. Er sah sie noch einmal an. Dabei wurde ihm klar, daß die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausgeübt hatte, erloschen war.
Plötzlich ekelte er sich vor ihr. Es war ein Gefühl, das er schon mehrmals erlebt und das außerordentlich unangenehme Folgen hatte - Tränen, Wutausbrüche und Szenen, die er verabscheute und mit denen die Frauen niemals ihr Ziel erreichten, so sehr sie sich auch bemühten.
,Ich interessiere mich nicht mehr für Lady Rose Caterham.‘
Es war so, als hätte jemand diese Worte laut ausgesprochen. Sie prägten sich ihm ein und sagten ihm, daß er etwas unternehmen mußte.
Der Marquis schlüpfte leise aus dem Bett, mit der Geschmeidigkeit eines Mannes, dessen Körper es gewohnt war, seinem Willen zu gehorchen.
Er blickte sich noch einmal um und vergewisserte sich, daß seine Flucht die schlafende Frau nicht geweckt hatte. Erleichtert stellte er fest, daß sie sich nicht gerührt hatte, seitdem er aufgestanden war. Er vernahm nur ihr leises Schnarchen.
Es gelang ihm, die Tür ohne das geringste Geräusch zu öffnen, und nachdem er in den Flur hinausgetreten war, schloß er sie ebenso lautlos.
Er ging zu seinem Zimmer. Dabei sah er in die große marmorne Halle hinunter und bemerkte, daß das Licht der aufgehenden Sonne durch die Ritzen der Vorhänge fiel. Er schätzte, daß es schon nach vier Uhr sein mußte.
Auf einem gepolsterten Stuhl saß ein müder Diener, der während der Nachtstunden Dienst tun mußte.
Der Marquis wußte, daß Punkt fünf Uhr der Haushalt zum Leben erwachen würde. Die weiblichen Dienstboten und das Personal aus den hinteren Quartieren würden ins Haus schwärmen und beginnen, die Unordnung, die der Hausherr und seine Freunde am Abend zuvor angerichtet hatten, aus der Welt zu schaffen.
Leere Karaffen und schmutzige Kristallgläser standen herum, einige waren zerbrochen. Das Eis war in den Kübeln geschmolzen, überall lagen weiche, schmutzige Kissen.
Der Marquis konnte sich kaum erinnern, was tatsächlich geschehen war. Er wußte nur, daß es eine der wildesten Abendgesellschaften gewesen war, die er in letzter Zeit gegeben hatte. Jetzt bereute er, daß sie die Würde und Schönheit seines Vaterhauses beschmutzt hatte.
Als er sein Schlafzimmer betrat, schmerzte sein Kopf so unerträglich, daß er sofort ein kaltes Bad nehmen wollte.
Das Zimmer war außerordentlich eindrucksvoll. Schon sein Vater und sein Großvater hatten darin geschlafen.
Der Marquis betätigte die Klingelschnur und läutete nach seinem Diener. Dann zog er die Vorhänge auf, stellte sich ans Fenster und sah hinunter auf den See und in den Park mit den alten Eichen, um die der Morgennebel wallte, wie ein Reigen tanzender Nymphen.
Der Himmel war klar, und man sah noch ein paar vereinzelte Sterne in dem rasch schwindenden Dunkel der Nacht.
Es ist die Zeit, dachte der Marquis, da alles still und ruhig ist und eine seltsame magische Schönheit an sich hat, die mich mit jedem Versprechen eines neuen Tages tief berührt.
Dann sagte er sich, daß er sich über wichtigere Dinge den Kopf zerbrechen mußte, und zwar über Rose.
Er überlegte, was er ihr auf die Frage, ob er sie heiraten würde, geantwortet haben könnte.
War er töricht genug gewesen, ihr sein Jawort zu geben?
Er wußte, daß sie ihn in dem Augenblick gefragt hatte, als das Verlangen nach ihr wie eine Flamme in ihm brannte. In einem solchen Augenblick verspricht ein Mann alles. Er fürchtete, daß sie diesen Zeitpunkt ganz bewußt gewählt hatte.
Sie war mit kühler Berechnung ans Werk gegangen, während er entflammt von ihrer Schönheit und halb betäubt vom Wein die Kontrolle über sich verloren hatte.
Ich kann doch nicht so töricht gewesen sein, oder doch, fragte sich der Marquis.
Während er nachdachte, ging hinter ihm die Tür auf, und sein Diener trat ein.
»Sie haben geläutet, my Lord?«
Nichts in der Stimme des Dieners verriet, daß er es ungewöhnlich fand, so früh geweckt zu werden.
Er war ein drahtiger, kleiner Mann und diente dem Marquis, seitdem dieser alt genug gewesen war, einen Diener zu haben, mit einer Mischung von Bewunderung und der beschützenden Strenge eines besorgten Kindermädchens.
»Bitte, machen Sie kein solches Aufheben um mich«, sagte der Marquis oft.
Aber er wußte, daß Hawkins für seine Bequemlichkeit unentbehrlich war, und auch er empfand eine Zuneigung zu dem kleinen Mann, die sich von seinen Gefühlen für alle anderen Diener, die für ihn arbeiteten, unterschied.
»Ich möchte ein kaltes Bad nehmen«, sagte er jetzt.
»Das dachte ich mir, my Lord«, antwortete Hawkins. »Ich habe es schon gestern abend für Sie gerichtet.«
Er öffnete eine Tür, die vom Schlafzimmer in einen kleinen Raum führte, der zur Zeit seines Vaters als Puderkabinett gedient hatte.
Jetzt war er als Bad eingerichtet, mit einer großen Wanne, die eine enorme Menge Wasser faßte, das in Kannen von jungen, kräftigen Dienern die Treppe herauf getragen werden mußte. Die Wanne war jetzt mit kaltem Wasser gefüllt.
Der Diener sah sich in dem kleinen Raum prüfend um und vergewisserte sich, daß ein großes Badetuch über einem Stuhl hing, daß die Steife, ein kleines Frottiertuch, ein Waschlappen und die Badematte mit dem Familienwappen in Reichweite lagen.
Dann sagte er: »Es ist alles für Eure Lordschaft bereit.«
Der Marquis zog seinen Morgenmantel aus, reichte ihn im Vorbeigehen seinem Diener und stieg in die Wanne.
Er war abgehärtet und badete im Frühjahr und Sommer immer kalt. Sein trainierter Körper, den er durch stundenlanges Reiten auf eigenwilligen und oft nur halb gezähmten Pferden schlank hielt, wurde durch das Wasser belebt, in das er auch das Gesicht und den ganzen Kopf tauchte.
Als er aus der Wanne stieg, fühlte er sich wohler, aber das Problem, wie er Lady Rose loswerden konnte, erschien ihm schwieriger denn je.
Plötzlich fielen ihm die Worte ein, die sein Kommandant zu ihm gesagt hatte, als er in sein Regiment gekommen war.
»Nur ein Narr zieht sich angesichts eines überlegenen und unschlagbaren Feindes nicht zurück. Das ist keine Feigheit, sondern einfach gesunder Menschenverstand.«
»Genau das werde ich tun!« sagte der Marquis laut. »Ich werde den Rückzug antreten.«
Während er sich mit einem Handtuch trockenrieb, rief er durch die offene Tür: »Wie spät ist es, Hawkins?«
»Gleich fünf, my Lord.«
»Dann wecken Sie bitte Sir Anthony, und sagen Sie ihm, daß ich ihn sofort sprechen möchte.«
»Sehr wohl, my Lord.«
Als Hawkins gegangen war, hoffte der Marquis, daß Anthony schon in seinem Zimmer war. Er war am vergangenen Abend in eine sehr hübsche Frau verliebt gewesen, deren Gatte nicht an dem Fest teilnehmen konnte.
Der Marquis warf das nasse Handtuch auf den Fußboden und zog sich an.
Da Hawkins offensichtlich erwartet hatte, daß er ausreiten würde, hatte er den exquisit geschneiderten Reitanzug bereitgelegt und ein Paar auf Hochglanz polierte Stiefel hingestellt, die am oberen Rand mit dem breiten, von Brummel eingeführten Lederband besetzt waren.
Der Marquis