Der kleine Ausreißer: Mami Classic 6 – Familienroman
Von Eva-Maria Horn
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Die Stille, die Barbara umgab, war einfach wundervoll. Sie hatte beide Fenster weit geöffnet. Sie hörte das Spielen des Windes mit den Blättern der Bäume, die wie stumme Wächter das kleine Holzhaus beschützten. Barbara dehnte sich, drückte den Rücken gegen die harte Lehne des Stuhles und sah hinaus. Sie sah einen Falken, der beinahe regungslos über der Krone der mächtigen Linde stand. Sie stieß einen wohligen Seufzer aus, so sehr begeisterte sie das Bild. Der Schäferhund, der zu Barbaras Füßen auf dem Schafswollteppich lag, hob den Kopf, ließ ihn aber sofort wieder auf seine Pfoten sinken. Barbara lachte. »Bist du noch immer müde, Rex? Aber ich konnte heute mittag einfach nicht genug bekommen. Du mußt doch zugeben, daß unser Spaziergang durch den Wald einfach himmlisch war.« Rex öffnete nur ein Auge, blinzelte, seine Ohren spielten, und er stieß einen zustimmenden Seufzer aus. Barbara spähte über den Himmel. Die Sonne hing wie ein zitronengelber Ball über dem Wald. Sie sah die dunklen Wolken, die sich zusammenballten. Das Licht, eben noch so sanft und friedlich, bekam etwas Gespenstisches, Bedrohliches. Aber Barbara konnte sich nicht satt sehen daran. Der Wind wurde stärker, er riß an den Kronen der Bäume, duckte die kleine Tanne, daß die Zweige beinahe den Boden berührten. Der erste Blitz zuckte über den Himmel. In ihrer Stadtwohnung liebte Barbara das Gewitter, aber hier in dem einsamen Holzhaus, das mitten im Wald stand, wurde es ihr doch ein wenig unheimlich.
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Der kleine Ausreißer - Eva-Maria Horn
Mami Classic
– 6 –
Der kleine Ausreißer
Eva-Maria Horn
Die Stille, die Barbara umgab, war einfach wundervoll. Sie hatte beide Fenster weit geöffnet. Sie hörte das Spielen des Windes mit den Blättern der Bäume, die wie stumme Wächter das kleine Holzhaus beschützten. Barbara dehnte sich, drückte den Rücken gegen die harte Lehne des Stuhles und sah hinaus.
Sie sah einen Falken, der beinahe regungslos über der Krone der mächtigen Linde stand. Sie stieß einen wohligen Seufzer aus, so sehr begeisterte sie das Bild.
Der Schäferhund, der zu Barbaras Füßen auf dem Schafswollteppich lag, hob den Kopf, ließ ihn aber sofort wieder auf seine Pfoten sinken.
Barbara lachte. »Bist du noch immer müde, Rex? Aber ich konnte heute mittag einfach nicht genug bekommen. Du mußt doch zugeben, daß unser Spaziergang durch den Wald einfach himmlisch war.«
Rex öffnete nur ein Auge, blinzelte, seine Ohren spielten, und er stieß einen zustimmenden Seufzer aus.
Barbara spähte über den Himmel. Die Sonne hing wie ein zitronengelber Ball über dem Wald. Sie sah die dunklen Wolken, die sich zusammenballten. Das Licht, eben noch so sanft und friedlich, bekam etwas Gespenstisches, Bedrohliches. Aber Barbara konnte sich nicht satt sehen daran.
Der Wind wurde stärker, er riß an den Kronen der Bäume, duckte die kleine Tanne, daß die Zweige beinahe den Boden berührten. Der erste Blitz zuckte über den Himmel.
In ihrer Stadtwohnung liebte Barbara das Gewitter, aber hier in dem einsamen Holzhaus, das mitten im Wald stand, wurde es ihr doch ein wenig unheimlich.
Rex sprang auf, streckte sich, er machte einen Buckel, als wäre er eine Katze, und hob witternd den Kopf. »Kein Grund zur Panik, Rex. Es ist schließlich nicht das erste Gewitter, das du über dich ergehen lassen mußt. Jetzt regnet es. Hör doch nur, ist das Geräusch nicht herrlich? Dieser Regen klingt ganz anders als der Regen in der Stadt. Hier klingt er wie Musik. Beinahe wie eine Fuge von Bach.«
Der Hund war an Barbaras Begeisterung wenig interessiert. Vielleicht spürte er auch, daß sie sich selbst Mut zusprechen mußte. Er reckte noch immer witternd den Kopf und stieß aufgeregte Laute aus.
»Du bist ein ganz Dummer, mein Lieber.« Barbara stand auf und schloß energisch die Fenster. »Jetzt wirst du dich gleich wohler fühlen, wir brauchen uns ja nichts vorzuspielen, Helden sind wir nicht. Wir werden uns ganz einfach die Welt in unser behagliches Zuhause holen.«
Leichtfüßig lief Barbara durchs Zimmer, der Hund betrachtete sie nicht einmal. Sie schaltete den Fernseher ein. Die Stimme des Sprechers vertrieb die Stille.
»Und jetzt noch eine wichtige Durchsage. Wir bitten die Bevölkerung um ihre Hilfe. Vermißt wird seit heute morgen ein 10jähriger Junge. Er ging um kurz vor acht Uhr wie jeden Morgen aus dem Haus, in der Schule war er nicht. Begleitet ist er von einem großen schwarzen Hund unbestimmter Rasse. Der Junge trägt blaue Jeans, ein buntes Hemd und hat vermutlich einen Rucksack anstelle der Schultasche bei sich. Wer zweckdienliche Angaben machen kann, wende sich bitte an die nächste Polizeidienststelle oder sofort an den Vater des Jungen.«
Barbara schaltete den Apparat aus, der ziehende Schmerz, der für einen Augenblick ihren Körper zu durchbohren schien, nahm ihr den Atem. Verflogen war das Glücksgefühl, daß sie noch bis vor wenigen Minuten in sich spürte. Sie starrte auf den Hund hinunter, aber sie sah ihn nicht, so gefangen war sie in ihrem Kummer. Auch die Kopfschmerzen quälten sie wieder, schienen schlimmer als sonst.
Rex knurrte, jaulte, er rannte zur Tür, kratzte am Holz, das ohnehin schon Spuren des Alters zeigte. Er kam zu ihr zurück. Da Barbara nicht reagierte, nur dastand, als wäre sie aus Holz, faßte er mit seinen scharfen Zähnen behutsam ihr Hand, die schlaff hinunterhing. Seine klugen Augen bettelten um ihre Aufmerksamkeit.
»Schon gut, Rex. Es geht gleich vorüber. Ruhig! Laß mir nur ein wenig Zeit.«
Aber der Hund dachte gar nicht daran. Er nahm den Stoff ihrer Bluse zwischen seine Zähne, riß aufgeregt daran.
»Das mißtönende Geräusch der zerreißenden Bluse bracht Barbara in die Wirklichkeit zurück.
»Ja, sag’ mal, bei dir piept es wohl! Bei dem wenigen Gepäck das ich mit hierher brachte, kann ich auf diese Bluse gar nicht verzichten. Hör doch auf, Rex. Was ist denn nur mit dir?«
Er jaulte nur noch heftiger, er stieß beinahe menschliche Töne aus, rannte zur Tür, bellte aufgeregt zu ihr hinüber und versuchte, an die Türklinke zu springen.
»Hast du den Verstand verloren? Was hast du denn? Ach, jetzt geht mir ein Licht auf. Dir machen die Nudeln von heute mittag zu schaffen, aber darum brauchst du dich ja nicht anstellen, als stehe der Teufel vor der Tür.«
Sie hatte die Tür noch nicht richtig geöffnet, da jagte er schon hinaus. Rannte im gestreckten Galopp über den Weg.
»Hierher, Rex«, schrie Barbara, aber er hörte nicht. Der Regen strömte aus pechschwarzen Wolken, Blitze zuckten über den Himmel, und der Donner folgte sofort.
Sie sah den Hund nur schemenhaft, war aber jetzt überzeugt, daß sie ihm folgen mußte. Das heißt, sie dachte gar nicht darüber nach, sie nahm sich nicht einmal die Zeit, ihren Regenmantel aus der Garderobe zu holen. Ihr Körper schien von ihrem Verstand losgelöst zu sein.
Es war gut, daß sie Rex sehen konnte, wenn auch nur schemenhaft. Ihre dünnen Schuhe waren im Nu durchnäßt, der Regen klatschte auf ihr braunes Haar, lief über ihr Gesicht.
Sie hatte den Hund erreicht. Rex scharrte mit den Pfoten im Gras, er stand vor den Sträuchern, die sich zu einer grünen Wand zusammendrängten. Rex stieß aufgeregte Laute aus, hob den Kopf und bellte sie auffordernd an.
Ein schwaches, ängstliches Knurren kam aus dem grünen Dickicht. Barbara bückte sich, sie mußte sich sehr tief bücken, sie bog die nassen Zweige zur Seite.
Ein Hund hockte da und stieß ein drohendes Kurren aus. Einen Moment zuckte Barbara angstvoll zurück. Der Hund sah aber auch wirklich gefährlich aus. Pechschwarz war er, die Zähne in dem drohend aufgerissenen Maul blinkten gefährlich.
Aber das sah Barbara nur einen Moment. Sie hatte das Kind entdeckt. Es hatte den Rücken gegen den Baumstamm gelehnt, das kleine Gesicht war weiß wie eine Wand, der Mund trotzig geschürzt. Aber die Augen! Angst, Verzweiflung, Ohnmacht hockten darin.
»Hör auf zu knurren, Rex.« Wie gut, daß Barbaras Stimme ihr gehorchte, so als sei es die normalste Sache der Welt, daß man bei einem schrecklichen Gewitter einen Hund und einen Jungen fand, in einer Gegend, die eine Autostunde von dem nächsten Dorf entfernt war.
Kannst du deinen Hund beruhigen? Er sieht aus, als wollte er Rex an die Gurgel springen. Rex hat euch gehört, obwohl das Fenster geschlossen war. Kluger Rex.« Barbara richtete sich auf und klopfte dem Schäferhund den Rücken. Der fremde schwarze Hund ließ keinen Blick von ihnen.
»Dein Hund sieht aus, als wollte er uns am liebsten in Stücke reißen.« Barbara versteckte ihr Mitleid hinter einem Lachen. »Willst du mit ins Haus kommen? Du mußt ja völlig durchnäßt sein. Hoffentlich hockst du nicht schon lange unter dem Strauch. Du wärst besser sofort zu mir gekommen.«
Sie wartete. Was sollte sie tun, wenn er nicht freiwillig aus seinem Versteck kam? Sie war ganz sicher, daß der schwarze Teufel sie nicht an den Jungen heranließ, vermutlich würde er ihr an die Kehle springen. Nicht auszudenken, was Rex dann machte.
Die Blätterwand teilte sich, ein nasser Kopf kam zum Vorschein, jetzt reckte sich der Junge zu seiner ganzen Größe auf.
Es zerriß Barbara das Herz, als sie die kleine, schmächtige Gestalt da