Zwei Schlüssel, aber kein Zuhause: Sophienlust 284 – Familienroman
Von Aliza Korten
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Über dieses E-Book
Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren.
Sascha von Schoenecker schlenderte durch das Kaufhaus in Maibach. Er hatte eben ein paar Kleinigkeiten in der Schreibwarenabteilung gekauft. Da er sonst nichts brauchte, schaute er sich Sportsachen an, die ihn interessierten, er hatte nämlich noch etwas Zeit unterzubringen. Gleich nach dem Mittagessen war Sascha mit Frau Rennert in die Kreisstadt gefahren. Die Heimleiterin hatte eine lange Liste von Besorgungen gehabt, und Sascha hatte sich als Chauffeur angeboten. Er hatte gern ausgeholfen, weil er gerade seine kurzen Pfingstferien zu Hause verbrachte. Für fünf Uhr nachmittags war er mit Frau Rennert in einer Konditorei verabredet. Der Wagen seiner Mutter, mit dem er und die Heimleiterin gekommen waren, parkte dort. Der lange Student seufzte ein bisschen. Man konnte in Maibach nicht viel anfangen. In Heidelberg, wo er studierte, gab es mehr Abwechslung als hier. Ungeduldig blickte er auf seine Uhr. Es war erst vier. Sascha ging in die Parfümerie-Abteilung im Erdgeschoss des Kaufhauses und erstand eine neue Zahnbürste für sich. Dann verließ er das Kaufhaus und ging ins Café, weil ihm nichts anderes mehr einfallen wollte. Er bestellte Kaffee und ein Stück Käsekuchen für sich. Bald darauf stellte er fest, dass der Kuchen bei Weitem nicht so gut schmeckte wie der aus Magdas Küche. Aber man konnte ihn essen. Nun entdeckte Sascha einen Stoß Illustrierte und begann gelangweilt darin zu blättern. Die kleine Konditorei war fast leer.
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Buchvorschau
Zwei Schlüssel, aber kein Zuhause - Aliza Korten
Sophienlust
– 284–
Zwei Schlüssel, aber kein Zuhause
Warum Tina unglücklich war
Aliza Korten
Sascha von Schoenecker schlenderte durch das Kaufhaus in Maibach. Er hatte eben ein paar Kleinigkeiten in der Schreibwarenabteilung gekauft. Da er sonst nichts brauchte, schaute er sich Sportsachen an, die ihn interessierten, er hatte nämlich noch etwas Zeit unterzubringen.
Gleich nach dem Mittagessen war Sascha mit Frau Rennert in die Kreisstadt gefahren. Die Heimleiterin hatte eine lange Liste von Besorgungen gehabt, und Sascha hatte sich als Chauffeur angeboten. Er hatte gern ausgeholfen, weil er gerade seine kurzen Pfingstferien zu Hause verbrachte. Für fünf Uhr nachmittags war er mit Frau Rennert in einer Konditorei verabredet. Der Wagen seiner Mutter, mit dem er und die Heimleiterin gekommen waren, parkte dort. Der lange Student seufzte ein bisschen. Man konnte in Maibach nicht viel anfangen. In Heidelberg, wo er studierte, gab es mehr Abwechslung als hier. Ungeduldig blickte er auf seine Uhr. Es war erst vier.
Sascha ging in die Parfümerie-Abteilung im Erdgeschoss des Kaufhauses und erstand eine neue Zahnbürste für sich. Dann verließ er das Kaufhaus und ging ins Café, weil ihm nichts anderes mehr einfallen wollte. Er bestellte Kaffee und ein Stück Käsekuchen für sich. Bald darauf stellte er fest, dass der Kuchen bei Weitem nicht so gut schmeckte wie der aus Magdas Küche. Aber man konnte ihn essen.
Nun entdeckte Sascha einen Stoß Illustrierte und begann gelangweilt darin zu blättern. Die kleine Konditorei war fast leer. Lediglich an einem Fenstertisch saß ein Pärchen.
Sascha konnte nur hoffen, dass Frau Rennert bereits vor fünf Uhr eintreffen würde. Aber nach kurzer Zeit wurde er auf die beiden jungen Leute am Fenster aufmerksam. Diese begannen nämlich zu streiten. Dabei sprachen sie so laut, dass Sascha zuhören musste, ob er wollte oder nicht.
»Das finde ich gemein von dir!«, beklagte sich das Mädchen mit tränenerstickter Stimme.
»Nimm endlich Vernunft an, Tina«, schalt der Junge. »Es geht einfach nicht. Das musst du doch einsehen.«
»Aber du hast mir versprochen, dass ich mitkommen darf, Dirk. Jetzt willst du kneifen.«
Es gelang Sascha nicht, herauszufinden, worüber die beiden sich zankten. Jedenfalls begann das Mädchen zu weinen. Der Junge schlug wütend mit der Faust auf den Tisch, sprang auf, ergriff seine Jacke und stürmte aus dem Lokal. Durchs Fenster konnte Sascha beobachten, dass er in einen Kleinwagen einstieg. Beim Anfahren gab er zu viel Gas. Man hörte es deutlich. Mit quietschenden Reifen bog er um die nächste Ecke.
Das Mädchen blieb schluchzend auf seinem Platz sitzen. Es war ein mitleiderregender Anblick. Genau zwei Minuten lang ertrug Sascha diesen Anblick. Dann klappte er seine Illustrierte zu, stand auf und ging an den anderen Tisch.
Sascha bemerkte, dass das Mädchen noch fast ein Kind war. Wenigstens konnte er es beim Namen anreden. Den hatte der Junge laut genug genannt.
»Kann ich dir helfen, Tina?«, fragte Sascha freundlich und setzte sich einfach zu ihr.
Sie hob das tränenüberströmte Gesicht zu ihm empor. Ein Pagenkopf, braune Augen – wirklich, sie war eigentlich noch ein Kind.
»Mir kann niemand helfen«, stieß Tina leidenschaftlich hervor. »Dirk hat mich sitzen lassen. Nicht einmal Geld habe ich bei mir.«
»Na ja, besonders nett ist das sicherlich nicht. Ich heiße übrigens Sascha. Woher kommst du, Tina?«
Sie weinte nicht mehr. Aus der Tasche ihrer Jeans holte sie ein Papiertuch und putzte sich die Nase. »Aus Hamburg«, antwortete sie unsicher. »Aber das ist doch ziemlich schnuppe.«
»Stimmt. Nur überlege ich, wie du jetzt wieder nach Hause fahren sollst. Weißt du, wohin dein Freund Dirk unterwegs ist?«
»Nein, irgendwohin. Er macht einen großen Europatrip. Einen Studienplatz hat er noch nicht, und vom Militärdienst wurde er zurückgestellt. Da will er sich einfach einmal ein bisschen die Welt anschauen.«
»Eine feine Sache. Und du wolltest ihn begleiten?«
»Ja, aber jetzt hat er plötzlich gemeint, er könnte mich nicht mitnehmen.«
»Wie lange seid ihr schon unterwegs, Tina? Was sagen deine Eltern zu dieser Reise? Du bist doch höchstens fünfzehn.«
»Vierzehn«, gestand sie errötend.
»Hm, und da lassen dich deine Eltern so ins Blaue fahren?«
»Die wissen natürlich nichts davon. Deswegen hat Dirk ja auch seinen Moralischen bekommen.«
»Hör mal – du bist doch nicht etwa ausgerissen?«
Tina hob die Schultern und zog dazu einen Flunsch. »Man könnte es so nennen«, erklärte sie gelassen. »Aber bei mir merkt es sowieso kein Mensch, wenn ich weg bin.«
»Das gibt es doch gar nicht, Tina.«
»Hast du eine Ahnung! Erstens sind Pfingstferien, sodass es in der Schule gar nicht auffallen kann. Klar?«
»Ja, aber bei dir zu Hause?«
Tina griff in den engen Ausschnitt ihres roten T-Shirts und brachte an einer Kordel zwei Schlüssel zum Vorschein.
»Schau dir das an, Sascha«, sagte sie. »Der eine Schlüssel passt zu unserer Wohnung, der andere zur Wohnung über der Praxis meines Vaters. Mal schlafe ich bei meiner Mutter, mal bei meinem Vater. Kapiert?«
»Noch nicht ganz. Du musst es mir erklären, Tina. Ich bin ein bisschen schwer von Begriff, wie es scheint.«
»Mein Vater und meine Mutter leben getrennt. Sie wollen sich scheiden lassen. Geht dir jetzt eine Laterne auf?«
»Ach so – sie kontrollieren nicht einmal, wo du gerade schläfst. Stimmt das?«
»Jetzt dämmert es wohl bei dir. Sie sind so wütend aufeinander, dass sie nicht mehr miteinander reden. Mir haben sie alles irgendwie erklärt. Du kannst dir schon vorstellen, wie das ist. Vati hat eine Freundin, und Mutti hockt ständig mit Jürgen Keller zusammen. Das ist ein in Hamburg ziemlich bekannter Journalist. Sie versteht sich wunderbar mit ihm, weil sie früher selber Reporterin werden wollte. Für mich ist nirgends Platz. Wenn Vati keine Patienten hat, er ist nämlich Zahnarzt, dann steckt er mit Jutta zusammen. Bei Mutti treffe ich garantiert Jürgen Keller an. Wenn man es mir auch nicht gerade ins Gesicht sagt, so merke ich doch, dass ich bloß immer störe.
»Das ist sicherlich keine erfreuliche Situation für dich, Tina. Trotzdem hättest du nicht mit Dirk abhauen dürfen. Der Junge hatte völlig recht, als er dich zurückschicken wollte.«
»Du redest so blöd wie ein Erwachsener. Jetzt bringst du mich wohl zur Polizei? Gehst du überhaupt noch zur Schule?«
»Entschuldige, Tina, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich habe schon das Abitur und studiere. Ein Mummelgreis bin ich nicht.«
»Irgendwie finde ich dich nett. Mit Dirk konnte ich wenigstens immer über alles reden. Er verstand mich. Und jetzt ist er weggefahren. Ich habe kein bisschen Geld bei mir. Nicht einmal unseren Kuchen kann ich bezahlen.« Ihr hübsches Gesicht sah reichlich sorgenvoll aus.
»Vielleicht kann ich dir helfen, Tina.«
»Wir haben sehr viel Kuchen gegessen. Das wird teuer. Weißt du, wir sind seit gestern auf Achse. In der Nacht haben wir im Auto geschlafen, um zu sparen. Heute wollten wir uns einmal richtig satt essen. Ich hatte zwei Tassen Kakao und vier Stück Torte. Dirk nahm zweimal Kaffee und sogar fünf Stück Kuchen. Hast du so viel Geld bei dir?«
Sascha war meistens knapp bei Kasse. Er zählte seine Barschaft und stellte fest, dass er Tina auslösen konnte. Allerdings musste für seinen eigenen Imbiss dann die gute Tante Ma – so wurde Frau Rennert im Kinderheim Sophienlust genannt – bezahlen.
»Es wird gerade reichen, Tina. Wieso hast du gar nichts bei dir?«, erkundigte er sich.
»Weil Dirk mein Geld und mein Sparbuch bei sich hat. Er hat vielleicht gar nicht daran gedacht, dass ich ohne Geld niemals nach Hamburg zurückfahren kann. Außerdem will ich gar nicht zurück.« Sie klapperte mit den beiden Schlüsseln.
»Ich wüsste etwas für dich, Tina.«
»Du? Willst du auch verreisen? Nimmst du mich mit?« Sie sah ihn voller Hoffnung an.
»Nein. Mein Vorschlag ist wahrscheinlich viel besser.«
»Denkst du! Willst du mich jetzt zur Polizei schleppen? Da mache ich nicht mit. Ich laufe dir davon und verstecke mich.« Tina schaute sich um wie ein gehetztes Wild.
»Mit der Polizei habe ich gar nichts im Sinn, Tina. Aber was hältst du von einem gemütlichen Zimmer in einem großen Haus auf dem Lande? Es wohnen nur Kinder dort, und sie sind alle gern dort. Früher war es ein Herrenhaus. Ein richtiges Landgut mit Tieren, Feldern und so weiter gehört noch heute dazu. Jetzt leben eine Menge Kinder in dem Haus. Wie findest du das?«
»So etwas gibt es nicht. Du schwindelst.« Misstrauisch sah Tina den Studenten an.
»Du kannst es dir ja anschauen. Wenn es dir nicht gefällt, brauchst du bestimmt nicht zu bleiben. Das Heim heißt Sophienlust. Meine Mutter hat es vor vielen Jahren gegründet. Eigentlich gehört es meinem jüngeren Bruder Nick. Das ist eine ziemlich komplizierte Geschichte. Willst du sie hören?«
»Ein Herrenhaus und ein Gut, das einem Jungen gehört? Erzähle!«
»Meine Mutter hatte ihren ersten Mann sehr früh durch einen Unfall verloren. Sophie von Wellentin setzte später ihren Urenkel Nick, den Sohn meiner Mutter, der damals erst fünf Jahre alt war, zum Universalerben ein. Sie bestimmte in ihrem Testament, dass aus dem Herrenhaus eine Zufluchtstätte für Kinder in Not werden sollte.