Steffi kann nicht sprechen: Sophienlust 177 – Familienroman
Von Susanne Svanberg
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Über dieses E-Book
Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren.
Der hübsche dunkelhaarige Junge kniete auf dem Waldboden. Er hatte sich gebückt, um einen großen Steinpilz abzuschneiden. Doch nun ließ er das bleiben und hob lauschend den Kopf.
Sein jüngerer Bruder Henrik, der den Pilz ebenfalls entdeckt hatte, eilte herbei, um die Beute in seinen Korb zu bringen. Stolz stellte der Kleine fest, dass er fast so viele Pilze gesammelt hatte wie der Gymnasiast Nick.
Natürlich hatte Henrik mit einem Protest seines Bruders gerechnet. Als dieser ausblieb, sah er den großen Jungen verwundert an und fragte: »Was hast du denn?«
Nick legte den Zeigefinger über die Lippen. »Pst! Hörst du denn nichts?«
»Nein!« Henrik schüttelte den Kopf mit dem dichten braunen Haar. Seine grauen Augen sahen fragend auf den Bruder. »Glaubst du, da ist irgendwo ein wildes Tier?«, erkundigte er sich ängstlich.
»Nein. Aber es weint jemand. Eben habe ich es deutlich gehört!« Nick sah aufmerksam in die Runde. Er stand auf und spähte hinüber zu dem dichten Gebüsch am Waldrand.
Es war alles still und friedlich. Schräg fielen die Strahlen der Herbstsonne durch das Geäst der hohen Tannen. Das Moos am Waldboden leuchtete in einem satten Grün.
»Wer soll denn weinen? Hier ist doch niemand.« Henrik zuckte die Achseln und hielt Ausschau nach weiteren Pilzen. Längst hatte er sich daran gewöhnt, dass seinem älteren Bruder nichts entging. Nicks Interesse für seine Umgebung war stets hellwach. Deshalb wusste er gewöhnlich viel mehr als die anderen Buben seines Alters. Henrik bewunderte ihn und versuchte, ihm nachzueifern. Doch manchmal fand er das recht anstrengend.
»Da ist es wieder! Hör doch!«,
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Buchvorschau
Steffi kann nicht sprechen - Susanne Svanberg
Sophienlust
– 177 –
Steffi kann nicht sprechen
Als im Wald ein verzweifeltes Mädchen gefunden wurde ...
Susanne Svanberg
Der hübsche dunkelhaarige Junge kniete auf dem Waldboden. Er hatte sich gebückt, um einen großen Steinpilz abzuschneiden. Doch nun ließ er das bleiben und hob lauschend den Kopf.
Sein jüngerer Bruder Henrik, der den Pilz ebenfalls entdeckt hatte, eilte herbei, um die Beute in seinen Korb zu bringen. Stolz stellte der Kleine fest, dass er fast so viele Pilze gesammelt hatte wie der Gymnasiast Nick.
Natürlich hatte Henrik mit einem Protest seines Bruders gerechnet. Als dieser ausblieb, sah er den großen Jungen verwundert an und fragte: »Was hast du denn?«
Nick legte den Zeigefinger über die Lippen. »Pst! Hörst du denn nichts?«
»Nein!« Henrik schüttelte den Kopf mit dem dichten braunen Haar. Seine grauen Augen sahen fragend auf den Bruder. »Glaubst du, da ist irgendwo ein wildes Tier?«, erkundigte er sich ängstlich.
»Nein. Aber es weint jemand. Eben habe ich es deutlich gehört!« Nick sah aufmerksam in die Runde. Er stand auf und spähte hinüber zu dem dichten Gebüsch am Waldrand.
Es war alles still und friedlich. Schräg fielen die Strahlen der Herbstsonne durch das Geäst der hohen Tannen. Das Moos am Waldboden leuchtete in einem satten Grün.
»Wer soll denn weinen? Hier ist doch niemand.« Henrik zuckte die Achseln und hielt Ausschau nach weiteren Pilzen. Längst hatte er sich daran gewöhnt, dass seinem älteren Bruder nichts entging. Nicks Interesse für seine Umgebung war stets hellwach. Deshalb wusste er gewöhnlich viel mehr als die anderen Buben seines Alters. Henrik bewunderte ihn und versuchte, ihm nachzueifern. Doch manchmal fand er das recht anstrengend.
»Da ist es wieder! Hör doch!«, wisperte Nick. Er drehte den Kopf nach allen Seiten, um festzustellen, woher die jämmerlichen Töne kamen. »Komm, wir sehen nach.« Nick ließ vor Eifer seinen Korb stehen.
»Wir sagen lieber erst Herrn Rennert Bescheid«, meinte Henrik, der das Weinen nun auch gehört hatte, ängstlich. Suchend sah er sich nach dem erwachsenen Begleiter und den Kameraden um. Doch von ihnen war weit und breit nichts zu entdecken. Auf der Suche nach immer neuen Pilzplätzen hatten sich Nick und Henrik zu weit von der Gruppe entfernt.
Nick lief den steilen Hang hinab. Trockene Zweige krachten unter seinen Füßen, Steine rollten bergab. Schon bahnte er sich einen Weg durch das Dickicht. Dornen zerkratzten seine Hände, blieben an seinem hellen Pulli hängen. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, doch das störte ihn nicht. Er hörte das Weinen jetzt deutlicher, wusste, dass er auf dem richtigen Weg war.
Henrik überlegte, ob er dem Bruder folgen solle, oder ob es besser sei, Hilfe zu holen. Dann siegte seine Neugierde. Er lief hinter Nick her. »Siehst du etwas?«, flüsterte er furchtsam.
Nick gab keine Antwort. Er hatte eben festgestellt, dass der Wald hinter dem Gestrüpp nicht zu Ende war, sondern sich dort lediglich eine Lichtung befand. Eine kleine Waldwiese war es, auf der blaue Glockenblumen und roter Fingerhut blühten, über der bunte Schmetterlinge in der Sonne schaukelten. Ein Bächlein murmelte, Vögel zwitscherten.
Man hätte das alles für ein heiteres Fleckchen Erde halten können, wenn das jämmerliche Weinen des Kindes nicht gewesen wäre, das zusammengesunken im Gras kauerte. Es hatte die Beine angezogen, die Arme darumgelegt und den Kopf darin verborgen und schien ganz in seinen Kummer versunken zu sein.
Die Kleine bot einen so jämmerlichen Anblick, dass Nick erschrocken zögerte. Henrik, der seinen Bruder inzwischen eingeholt hatte, klammerte sich an Nicks Arm und versuchte den Größeren zurückzuziehen. »Lass sie«, wisperte er. »Vielleicht ist sie verzaubert wie das Mädchen in ›Brüderchen und Schwesterchen‹.«
»Ach, du mit deinen Märchen.« Nick befreite sich und war mit zwei langen Schritten bei der zusammengesunkenen kleinen Gestalt. Vorsichtig berührte er deren Arm. »Hast du dich verlaufen?«, fragte er leise.
Das kleine Mädchen zuckte zusammen. Ruckartig hob es den Kopf mit dem langen wirren Haar. Zwei große blaue Kinderaugen starrten Nick angstvoll an. Der Körper des Kindes war starr vor Schreck. Das kleine Mündchen war wie zum Schrei geöffnet. Doch es kam kein Laut über die blassen Lippen.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir tun dir nichts. Wir bringen dich wieder nach Hause.« Nick hatte grenzenloses Mitleid mit dem mageren erschöpften Kind. Seine Stimme klang sanft und beruhigend.
Trotzdem begann das Mädchen in panischer Furcht zu schreien. Wilde, fast tierische Laute waren es, die aus dem kleinen Mund kamen. Sie steigerten sich zu einem schauerlichen Schrillen. Nur in Todesangst konnte ein Mensch solche Töne hervorbringen. Sie hallten grausig durch den Wald, wurden vom Echo zurückgetragen.
Henrik bekam eine Gänsehaut. Am liebsten wäre er davongelaufen. Doch seine Knie waren ganz weich und zittrig.
»Warum schreist du denn so furchtbar?«, erkundigte sich Nick und erwog, ob es nicht besser sei, Herrn Rennert zu holen. »Wir wollen dir doch nur helfen. Wenn du uns sagst, woher du kommst, bringen wir dich nach Hause – und alles ist wieder gut.«
Statt einer Antwort streckte das Kind ein dünnes Ärmchen aus, zeigte zuerst auf Nick, dann auf Henrik und steigerte sein unmenschliches Schrillen zu einem wahrhaft grausigen Getöse. Es war verwunderlich, woher die Kleine die Kraft zu einem solchen Geschrei nahm.
»Sei doch still«, bat Henrik und hielt sich die Ohren zu. »Wir tun dir bestimmt nichts. Wir kommen von Sophienlust. Das ist ein Heim für Kinder, die keine Eltern mehr haben. Vielleicht hast du schon davon gehört. Früher war es ein Gut und hat Nicks Urgroßmama gehört. Sie hat es ihm geschenkt. Und unsere Mutti verwaltet es, bis Nick erwachsen ist.«
Das fremde Kind schrie in unverminderter Lautstärke weiter. Trotzdem fuhr Henrik in seiner Rede fort. Irgendwie war er überzeugt, dass die Angst der Kleinen nur auf diese Weise zu besiegen war.
»Mutti war Witwe und heiratete dann meinen Vati. Aber da gab es mich noch nicht«, gestand Henrik treuherzig. »Deshalb sind Nick und ich auch nur Halbgeschwister. Und Sascha und Andrea auch. Sascha ist Student und kommt nur in den Ferien nach Hause. Und Andrea ist schon verheiratet. Ihr Mann ist der Tierarzt Dr. von Lehn. Er hat ein richtiges Tierheim. Möchtest du es einmal sehen?«
Nick stand mit hängenden Schultern vor dem schreienden Mädchen. Er wusste sich für gewöhnlich in jeder Situation zu helfen, doch hier war er tatsächlich ratlos. Wie sollte er das fremde Kind dazu bewegen, sein schreckliches Schreien einzustellen?
Henrik ließ sich nun neben der Kleinen im Gras nieder und erzählte unbeirrt weiter: »Im Tierheim gibt es Hunde, Katzen, einen Esel, ein Reh und sogar richtige Affen. Das ist manchmal sehr lustig. Peterle, das ist Andreas kleiner Sohn, hat überhaupt keine Angst vor all den Tieren. Nicht einmal vor dem großen Pferd Fortuna, das früher ein berühmtes Turnierpferd war.«
Das Schrillen wurde leiser, verstummte schließlich. Doch noch immer war der Blick des Kindes voll Angst. Noch immer ging sein Atem schnell und rasselnd. Es hielt den Kopf ein wenig schief und lauschte auf Henriks Worte.
Nick kauerte sich nun ebenfalls neben den kleinen Findling. Wie sichtlich, dass die Kleine die Frage nicht verstanden hatte.
»Bist du von zu Hause weggelaufen?«
»Oder hat man dich im Wald allein gelassen wie Hänsel und Gretel?«, ergänzte Henrik. Er war in einem Alter, in dem Märchen eine große Rolle spielten.
Das Kind antwortete nicht. Es starrte die beiden Jungen unverwandt an, als wollte es sich jede Einzelheit einprägen.
»Sie ist doch verzaubert«, raunte Henrik seinem Bruder zu und rückte gleichzeitig ein wenig weg.
»Wie kommst du denn darauf?«, erkundigte sich der ältere Junge leise.
»Weil sie nicht sprechen kann.« Henrik bereute jetzt, dass er nicht gleich zu Herrn Rennert gelaufen war. Die Sache begann ihm richtig unheimlich zu werden.
*
Der Atem der Pferde stieg wie eine kleine weiße Wolke in die klare frische Luft des Herbstmorgens. Es war kühl, doch die im Osten rot aufgehende Sonne versprach einen wunderschönen Tag. Tau glitzerte auf Sträuchern und Gräsern. Auf den weiteren Wiesen, die zu Gut Schoeneich gehörten, blühten die ersten Herbstzeitlosen.
Gemächlich trabten die beiden Holsteiner nebeneinander. Der Blick des Gutsherrn glitt über die abgeernteten Felder hinweg zu den neu angelegten Obstplantagen. Dort würde man schon in diesem Jahr köstliche Pfirsiche und rotwangige Äpfel ernten. Der Ertrag versprach besser zu werden, als Alexander von Schoenecker zu hoffen gewagt hatte.
»So ein Ausritt mit dir am Morgen ist der beste Tagesanfang«, meinte der breitschultrige hochgewachsene Mann, der im Sattel eine tadellose Figur machte. Bewunderung war in seinen Augen. Bewunderung für Denise, seine hübsche Frau.
Obwohl die beiden schon viele Jahre miteinander verheiratet waren, wurde in dieser Ehe nichts zur Gewohnheit, nichts zur Routine. Alexander und Denise liebten einander noch so wie am ersten Tag ihres Beisammenseins und zeigten das auch bei jeder Gelegenheit.
»Es ist für mich immer wieder ein wundervolles Erlebnis, das Erwachen der Natur zu beobachten. Schau nur hin …« Alexander deutete auf einen Feldhasen, der, in eine Ackerfurche geduckt, wohl noch geschlafen hatte. Durch das