Wenn kleine Mädchen lügen ...: Mami 1872 – Familienroman
Von Susanne Svanberg
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Erschrocken fuhr Maria Neuber aus tiefem Schlaf auf. Noch etwas benommen tastete sie nach dem Telefon auf dem niedrigen Tischchen neben ihrem Bett. Sie nahm den Hörer ans Ohr und vernahm ein gleichmäßiges Tuten. Nein, da war kein Anruf. Aber das Klingeln, das sie geweckt hatte, tönte noch immer durch ihre kleine blitzsaubere Wohnung.
Maria strich seufzend die kinnlangen dunkelblonden Haare zurück. Sie waren dicht und glatt und nur an den Enden leicht nach innen gebogen.
Das anhaltende Klingeln ließ Maria rasch aufstehen. Vielleicht ist etwas passiert, vielleicht braucht jemand Hilfe, dachte sie. Als Krankenschwester war sie in dem großen Haus, in dem acht Familien wohnten, immer wieder gefragt. Sie versorgte kleine Wunden, half mit wirksamen Hausmitteln aus oder kümmerte sich um ältere Nachbarn. Maria war immer freundlich und hilfsbereit und deshalb überall beliebt.
Im Badezimmer zog sie einen roten Hausmantel über und eilte zur Tür. Die kräftige Farbe ließ ihr bleiches Gesicht noch blasser erscheinen. Maria legte den Sperrhebel zurück und öffnete. Zunächst sah sie niemand.
Erst als ein aufgeregtes Stimmchen zu sprechen begann, bemerkte sie das Kind, das etwas seitlich neben der Klingel stand.
»Kannst… kannst du mir helfen?« piepste ein kleines Mädchen mit zerzausten braunen Haaren und einer reizvollen Stupsnase. »Ich bekomme die Tür nicht auf.« Bittend sahen zwei goldbraune Kinderaugen zu Maria auf. »Tschuldigung, wenn ich dich aufgeweckt habe. Ich hab' nicht gewußt, daß du…« Etwas schuldbewußt sah die Kleine auf die Nachbarin, der man ansah, daß sie gerade aus dem Bett kam.
Maria lachte. »Es ist ja auch nicht normal,
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Buchvorschau
Wenn kleine Mädchen lügen ... - Susanne Svanberg
Mami –1872–
Wenn kleine Mädchen lügen ...
… haben sie sicher Kummer
Susanne Svanberg
Erschrocken fuhr Maria Neuber aus tiefem Schlaf auf. Noch etwas benommen tastete sie nach dem Telefon auf dem niedrigen Tischchen neben ihrem Bett. Sie nahm den Hörer ans Ohr und vernahm ein gleichmäßiges Tuten. Nein, da war kein Anruf. Aber das Klingeln, das sie geweckt hatte, tönte noch immer durch ihre kleine blitzsaubere Wohnung.
Maria strich seufzend die kinnlangen dunkelblonden Haare zurück. Sie waren dicht und glatt und nur an den Enden leicht nach innen gebogen.
Das anhaltende Klingeln ließ Maria rasch aufstehen. Vielleicht ist etwas passiert, vielleicht braucht jemand Hilfe, dachte sie. Als Krankenschwester war sie in dem großen Haus, in dem acht Familien wohnten, immer wieder gefragt. Sie versorgte kleine Wunden, half mit wirksamen Hausmitteln aus oder kümmerte sich um ältere Nachbarn. Maria war immer freundlich und hilfsbereit und deshalb überall beliebt.
Im Badezimmer zog sie einen roten Hausmantel über und eilte zur Tür. Die kräftige Farbe ließ ihr bleiches Gesicht noch blasser erscheinen. Maria legte den Sperrhebel zurück und öffnete. Zunächst sah sie niemand.
Erst als ein aufgeregtes Stimmchen zu sprechen begann, bemerkte sie das Kind, das etwas seitlich neben der Klingel stand.
»Kannst… kannst du mir helfen?« piepste ein kleines Mädchen mit zerzausten braunen Haaren und einer reizvollen Stupsnase. »Ich bekomme die Tür nicht auf.« Bittend sahen zwei goldbraune Kinderaugen zu Maria auf. »Tschuldigung, wenn ich dich aufgeweckt habe. Ich hab’ nicht gewußt, daß du…« Etwas schuldbewußt sah die Kleine auf die Nachbarin, der man ansah, daß sie gerade aus dem Bett kam.
Maria lachte. »Es ist ja auch nicht normal, daß jemand zur Mittagszeit noch schläft. Doch ich hatte Nachtdienst in der Klinik und konnte mich erst heute morgen hinlegen.«
»Mein Papi hat auch manchmal Nachtdienst. Dann wartet er mit dem Taxi am Flughafen auf Fahrgäste. Ich mag das nicht, wenn er Nachtdienst hat, denn dann bin ich ganz allein.« Schmollend schob das Kind die Unterlippe vor. »Jetzt ist der Papi auch nich’ da, und ich kann nich’ rein, weil die Tür klemmt. Die Schule war eine Stunde früher aus, weil wir am Nachmittag noch Schwimmen haben. Ich gehe mit Jenny aber früher ins Hallenbad, weil sie mir noch zeigen will, wie das geht. Und deshalb brauche ich die Badesachen.« Ungeduldig trippelte die Kleine von einem Fuß auf den anderen.
»Dann bist du die Tochter von Herrn Kohmann, der vor einer Woche nebenan eingezogen ist«, meinte Maria und musterte die kleine Besucherin wohlwollend. Sie hatte die neuen Nachbarn noch nicht gesehen, weil sie tagsüber die Wohnung kaum verließ, wenn sie in der Klinik zum Nachtdienst eingeteilt war.
»Ich heiße Marlene und bin acht«, stellte sich das Mädchen vor.
»Dann wollen wir mal sehen, ob ich dir helfen kann.« Maria schlang den roten Bademantel enger um ihren schlanken Körper und ging mit Marlene über den Flur. An der Wohnung gegenüber war noch kein Namensschild. »Ist deine Mutti einkaufen?« fragte Maria, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen.
Ein Schatten huschte über das reizvolle Kindergesicht. Um Marlenes Mund zuckte es verdächtig. »Ich… ich habe keine Mami mehr. Sie ist… Deshalb sind wir hierher gezogen. Mein Papi sagt, es ist besser, wenn uns nichts mehr an sie erinnert. Es war so schrecklich, als sie…« Jenny schüttelte den Kopf mit den langen zerzausten Haaren.
Maria schwieg bedrückt. Ohne es zu wollen, hatte sie eine offene Wunde berührt. Es tat ihr leid, und sie nahm sich vor, sich künftig ein wenig um die kleine Halbwaise zu kümmern. Daß Marlene vernachlässigt wurde, sah man nicht nur an den ungekämmten Haaren, sondern auch an der etwas schmuddeligen Kleidung.
Der Schlüssel ließ sich nur mit großer Anstrengung im Schloß drehen. Deshalb war es einem kleinen Mädchen wie Marlene unmöglich, die Tür zu öffnen. Auch die zierliche Maria schaffte es nur nach einigen Versuchen.
»Oh, danke«, japste Marlene erleichtert, als der Riegel zurücksprang.
»Dein Vati sollte das Schloß mit ein paar Tropfen Öl wieder gängig machen«, meinte Maria Neuber freundlich und lächelte das Kind dabei an.
»Hm, aber es hat so wenig Zeit«, verteidigte Marlene den geliebten Vati. »Er ist immer mit dem Taxi unterwegs, weil wir das Geld brauchen. Der Papi hat nämlich lauter neue Möbel gekauft. Alles aus der alten Wohnung haben wir verschenkt, sogar meine Spielsachen.« Etwas traurig ließ Marlene den Kopf hängen. »Der Papi hat gesagt, das muß sein.« Es war das erste Mal, daß Marlene über diese Dinge sprach. Nicht einmal ihrer Schulfreundin Jenny hatte sie ihren Kummer anvertraut. Die stets fröhliche und zu allerlei Streichen aufgelegte Jenny hätte das nicht verstanden. Doch zu der Nachbarin, die so sanft und bescheiden wirkte, hatte Marlene sofort Vertrauen.
»Wenn du wieder einmal Probleme hast, komm ruhig rüber«, ermunterte Maria das Mädchen, das für sein Alter sehr klein und zierlich war.
»Bitte, nicht gehen. Ich hole nur meine Badesachen, und dann muß ich wieder abschließen, und das geht doch so schwer. Kannst du vielleicht…«
»Aber ja.« Maria war inzwischen munter und würde sich ohnehin nicht mehr hinlegen. Abwartend blieb sie an der Tür stehen. Sie hörte, wie Marlene Schranktüren öffnete, Schubladen aufzog und Fächer durchwühlte. Sehr ordentlich schien der Haushalt nicht zu sein, denn Marlene fand ihre Badesachen nicht. Es klapperte und krachte in der Wohnung, als würde Marlene aufräumen. Maria sah besorgt in die spärlich möblierten Räume, die keinerlei Gemütlichkeit ausstrahlten. Es gab keine Vorhänge, keine Teppiche, keine Blumen und keinerlei Dinge, an denen man sich erfreuen konnte. Die Wände waren kahl, alles wirkte kalt und sachlich. Wie sollte sich ein Kind in einer solchen Umgebung wohl fühlen?
Endlich kam die Kleine mit hochrotem Gesichtchen zurück. »Puh, ich mußte alles durchwühlen. Aber jetzt hab’ ich meinen Badeanzug gefunden. Der Papi hat ihn zu seiner Wäsche gelegt.«
Marlene keuchte ein bißchen. »Jenny wird schon auf mich warten. Sie kann schon schwimmen und ich nicht. Aber sie zeigt’s mir. Sie ist nämlich meine allerbeste Freundin. In vier Wochen sind die Jugendwettkämpfe, und da muß ich es können«, plapperte Marlene, während Maria die Tür wieder schloß und der Kleinen den Schlüssel wieder zurückgab. Er hing an einer Kordel, die sich Marlene rasch um den Hals hängte. Dann stürmte sie davon.
»Vielen Dank auch!« rief sie von der Treppe her.
Maria blieb noch einige Augenblicke stehen. Ein lebhaftes kleines Mädchen wie dieses hatte sie sich immer gewünscht. Sie war jetzt vierunddreißig, und Marlene hätte gut ihre Tochter sein können. Doch nach einer schweren Enttäuschung war sie nicht mehr bereit, zu heiraten, obwohl ihr langjähriger Freund Mario Schöberl immer wieder darauf drängte. Er sah gut aus, war Krankenpfleger und fuhr einen Rettungswagen. Da er rund um die Uhr zur Verfügung stehen mußte, verdiente er gut und bekam auch noch so manchen Schein nebenbei, wenn er Menschen in Not rasch und zuverlässig half.
Maria mochte ihn gern, aber die große Liebe war es nicht. Oft fühlte sie sich in seiner Gesellschaft einsam und war froh, wenn sie wieder allein war.
Eine richtige Familie zu haben, davon träumte sie häufig. Aber Mario spielte dabei keine Rolle. Er war viel zu egoistisch, um ein guter Familienvater sein zu können.
Ganz langsam ging Maria in ihre Wohnung zurück. Die kurze Begegnung mit Marlene hatte die alte Sehnsucht wieder geweckt. Wie schön mußte es sein, einem Kind jene Liebe zu geben, die Maria in überreichem Maß