Das Zweite Gesicht: Gaslicht 46
Von Anne Manek
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Er hatte ja recht. Sonja kam sich selbst schrecklich albern vor. Sein besorgter Blick nahm ihr etwas von der Panik, die sie empfand. Er zog sie ein Stückchen weiter. Sonja hätte sich am liebsten losgerissen und wäre den Berg wieder hinuntergehetzt. Noch nie im Leben hatte sie sich dermaßen verängstigt gefühlt. Welche Geister hatte sie bloß heraufbeschworen? Er zog sie mit sich. Sonja kniff die Augen zu und hielt die Luft an, als ein Schatten über sie fiel. Sie hatte die Kapelle betreten – »Schau doch nur …«, lockte sie Christians Stimme. Doch Sonja wollte das Schreckliche nicht sehen. Ein kalter Windhauch strich um ihre Beine, kroch höher und schien sie in einen Eisblock zu verwandeln. Sie war unfähig, noch einen einzigen Schritt zu tun. »Sonja! Willst du nicht endlich aufstehen und herunterkommen?« Die Stimme ihrer Mutter riß Sonja aus ihren Träumen. Sie wollte nicht aufstehen. Nachdem sie ihr Examen bestanden hatte und nun in acht Wochen ihre erste richtige Arbeitsstelle in einer Zeitschriftenredaktion antreten sollte, wollte sie einfach für eine Weile relaxen. Hatte sie es sich nicht redlich verdient nach dem vielen Büffeln?
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Buchvorschau
Das Zweite Gesicht - Anne Manek
Gaslicht
– 46 –
Das Zweite Gesicht
Unveröffentlichter Roman
Anne Manek
Er hatte ja recht. Sonja kam sich selbst schrecklich albern vor. Sein besorgter Blick nahm ihr etwas von der Panik, die sie empfand. Er zog sie ein Stückchen weiter. Sonja hätte sich am liebsten losgerissen und wäre den Berg wieder hinuntergehetzt. Noch nie im Leben hatte sie sich dermaßen verängstigt gefühlt. Welche Geister hatte sie bloß heraufbeschworen? Er zog sie mit sich. Sonja kniff die Augen zu und hielt die Luft an, als ein Schatten über sie fiel. Sie hatte die Kapelle betreten – »Schau doch nur …«, lockte sie Christians Stimme. Doch Sonja wollte das Schreckliche nicht sehen. Ein kalter Windhauch strich um ihre Beine, kroch höher und schien sie in einen Eisblock zu verwandeln. Sie war unfähig, noch einen einzigen Schritt zu tun. Als hätte das Böse sie gepackt und festgenagelt – Sonja stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht …
»Sonja! Willst du nicht endlich aufstehen und herunterkommen?«
Die Stimme ihrer Mutter riß Sonja aus ihren Träumen.
Sie wollte nicht aufstehen. Nachdem sie ihr Examen bestanden hatte und nun in acht Wochen ihre erste richtige Arbeitsstelle in einer Zeitschriftenredaktion antreten sollte, wollte sie einfach für eine Weile relaxen. Hatte sie es sich nicht redlich verdient nach dem vielen Büffeln? Ihr Literaturstudium war zum Schluß ganz schön anstrengend gewesen.
Außerdem hatte sie noch einen Grund, um ein wenig für sich zu bleiben, aber der war leider nicht so erfreulich wie das bestandene Examen.
Vor vier Wochen war ihre geliebte Großmutter gestorben. Ihr Tod hatte Sonja sehr bedrückt. Sonja-Maria Murnau war zwar schon neunundsiebzig Jahre alt gewesen, aber trotzdem hätte Sonja sie gern noch ein wenig besser kennengelernt, jetzt, wo sie nicht mehr so viel um die Ohren hatte. Als sie ein Kind gewesen war, war ihr die Großmutter immer höchst interessant erschienen, und das mußte sie wohl auch sein, denn Sonjas Mutter hatte den Kontakt zwischen Großmutter und Enkelin auf ein Minimum beschränkt. Sonjas Großmutter galt als sehr spleenig, sie behauptete von sich, das Zweite Gesicht zu haben. Und deshalb wollte Claudia Werner nicht, daß Sonja von diesem dummen Zeug, wie sie sich ausdrückte, angesteckt wurde.
Einmal im Jahr konnte Sonja ihre Großmutter sehen, immer kurz nach Weihnachten, wenn ihre Eltern sie mitnahmen in das kleine Haus in der Lüneburger Heide. Zwei Tage blieben sie dort, bewachten Sonja allerdings höchst mißtrauisch und achteten darauf, daß sie auf keinen Fall zu lange mit der Großmutter allein blieb.
Trotzdem fand Sonja Gelegenheit, der alten Dame ein paar Geheimnisse zu entlocken, die sie aufs höchste faszinierten. Sonja-Maria Murnau besprach Warzen und so komplizierte Krankheiten wie Gürtelrose, worunter sich Sonja nun überhaupt nichts vorstellen konnte. Aber sie hatte selbst erlebt, wie Leute von weither zu ihr gekommen waren und sie sie dann hätte wegschicken müssen, weil die Eltern und Sonja zu Besuch waren.
Sonjas Mutter hatte kein gutes Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter, denn ihr war das alles schrecklich peinlich, und sie erzählte niemandem von ihr. Schon als Kind hatte Sonja den Eindruck gehabt, daß die Mutter lieber Waise gewesen wäre, als so eine ›verrückte‹ Mutter zu haben.
Als Sonja dann ihr Studium begonnen hatte, war nicht mehr viel Zeit gewesen, sich um die Großmutter Gedanken zu machen. Sie war mit ihren Kommilitoninnen ausgegangen, hatte Freunde gehabt, war tanzen gegangen und hatte die Großmutter kaum noch gesehen.
Dafür schämte sie sich heute noch. Ein Trost war nur, daß sie ihr wenigstens regelmäßig geschrieben hatte.
Aber Sonja wußte, daß ihr die Großmutter ihr Verhalten nicht übelgenommen hatte. Sie hatten eine tiefe, enge, innige Verbindung, die nicht zerstört werden konnte. Und diese Verbindung war es ja auch, die Sonjas Mutter so sehr beängstigt hatte.
Insofern war ihre Mutter jetzt bestimmt froh, daß die ›Gefahr‹ für Sonja vorüber war. Die Großmutter konnte Sonja nach ihrer Meinung nun nicht mehr anstecken mit ihrem Hokuspokus. Ihre Trauer hielt sich in Grenzen.
Sonja hatte das Häuschen der Großmutter geerbt. Sie ganz allein! Es war zwar kein Wertobjekt, dann hätten sich wohl die anderen darüber gehörig aufgeregt, aber Sonja liebte es und freute sich, es nun zu besitzen. Später könnte sie dort vielleicht hin und wieder einmal einen Kurzurlaub verbringen oder aber das Häuschen vermieten.
In den nächsten Tagen wollte sie hinausfahren und die persönlichen Unterlagen ihrer Großmutter sortieren und alles wegwerfen, was nicht wichtig genug war, um es aufzuheben. Dann würde sie die Wände neu tapezieren und sich ein paar schöne Tage machen – ganz allein, vor allem ohne Volker.
Volker war bis vor kurzem ihr Freund gewesen. Er hatte sogar schon von Heirat gesprochen. Auch er hatte studiert und war ein Jahr vor Sonja damit fertig geworden. Jetzt arbeitete er im Verlag seines Vaters. Sie stellten Landkarten her.
Sonja und Volker hatten sich gut verstanden, bis er angefangen hatte, an ihr herumzukritisieren. Sie war offenbar noch nicht passend gewesen für die Rolle der Ehefrau des Mitinhabers eines Verlages. Sie sollte Tennisspielen gehen, sich die überschulterlangen Haare abschneiden und Twinset und Perlenketten tragen.
Sonja trug aber lieber aufgesteckte Zöpfe, manchmal baumelten sie auch lang den Rücken hinunter, dazu knöchellange Röcke und viele bunte Ketten. Ihre Mutter behauptete immer, sie sehe genauso aus wie die Blumenkinder der Hippiegeneration, und diese Zeit sei doch nun wohl endgültig vorbei, doch Sonja war das egal. Sie fand ihren eigenen Stil sehr passend für sich. Natürlich besaß sie auch angemessene Kleidung, in ihrem neuen Job konnte sie so nämlich nicht herumlaufen, aber bis zum Twinset war der Weg denn doch noch weit.
Als sie Volker zuliebe einmal mit im Tennisclub gewesen war, in dem sein Vater zum Vorstand gehörte, hatte Sonja sofort gewußt, daß sie hier niemals dazugehören würde.
Sie war schon immer ziemlich konsequent gewesen, und je älter sie wurde, desto stärker prägte sich dieses Verhalten aus. Also hatte sie Volker schließlich nicht nur erklärt, daß aus dem Tennisspielen nichts würde, sondern auch, daß ihre Beziehung nun vorbei sei. Er war fassungslos gewesen. So eine gute Partie, wie er es in seinen Augen darstellte, wollte sie einfach sausen lassen? Ja, hatte sie ihm kühl erklärt, er solle sich lieber unter dem tennisspielenden Nachwuchs umsehen.
Manchmal tat es ihr ein wenig leid, daß sie rigoros Schluß mit ihm gemacht hatte. Er konnte nämlich auch ganz nett sein. Aber mit sechsundzwanzig fand sich Sonja noch nicht zu alt, daß sie unbedingt schon unter die Haube mußte. Sie wußte im Grunde ja selbst noch nicht einmal, was eigentlich für sie gut war. Ihre Großmutter hatte ihr einmal zugeflüstert, daß die Liebe sie eines Tages wie ein Blitzschlag treffen würde, und Sonja war ganz sicher, daß sie sich darauf verlassen konnte. Ein Blitzschlag war Volker nicht gewesen, eher ein Wetterleuchten, wenn man schon in meteorologischen Begriffen dachte.
Ihre Mutter war entsetzt gewesen, als Sonja ihr mitgeteilt hatte, daß sie nun wieder allein sei. Volker war doch so beruhigend normal gewesen! Wenn überhaupt einer, so hätte sicher er Sonja auf dem rechten Weg gehalten. Jetzt war alles offen. Deshalb war Claudia Werner dann beruhigt gewesen, als Sonja wenigstens die Stelle in der Zeitungsredaktion angenommen hatte. Seit Sonjas Vater tot war, lag die ganze Verantwortung auf ihr. Höchstens ihr Bruder Stefan, Sonjas Onkel, stand ihr hin und wieder zur Seite. Doch er reiste beruflich bedingt viel herum und konnte nicht mehr zur Stelle sein, wenn Sonja eigenartige Ideen entwickelte.
Claudia Warner konnte einfach nicht akzeptieren, daß ihre Tochter längst erwachsen und daher durchaus in der Lage war, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ohne daß die Mutter sie gutheißen mußte.
Sonja störte es nicht sehr, sie hörte zu, nickte und verhielt sich dann, wie sie es wollte. Demnächst könnte sie dann auch von zu Hause wegziehen, sobald sie erst ihr eigenes Geld verdiente. Schade, daß das Häuschen der Großmutter zu weit von ihrer neuen Arbeitsstelle entfernt lag, um dort wohnen zu können.
»Sonja! Hörst du mich denn überhaupt?« rief ihre Mutter jetzt erneut.
Ihre Stimme klang nun deutlich gereizt.
Sonja seufzte.