Er wusste nichts von seinem Kind: Im Sonnenwinkel – Neue Edition 10 – Familienroman
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Zögernd öffnete Stefanie Fanchon den Brief, der mit der Morgenpost gekommen war. Eine halbe Stunde lag er schon vor ihr auf dem Tisch, und immer wieder hatte sie auf den Absender gestarrt. »Rechtsanwalt Dr. Herbert Wilkens«, stand da. Sie hatte den Namen nie gehört, aber die Tatsache, einen Brief von einem Rechtsanwalt zu bekommen, erschreckte sie. Ein kleiner Finger tippte auf ihre Hand. Er war ein bisschen klebrig. »Warum machst du den Brief nicht auf, Mami?«, fragte ihr Söhnchen. »Ich wollte ihn ja gerade aufmachen, Nikki«, murmelte sie. »Na, dann mach doch schon, damit wir endlich Fritzi abholen können«, drängte der Knirps. Du lieber Himmel, an Fritzi – damit war ihre jüngere Schwester Friederike gemeint – hatte sie gar nicht mehr gedacht. Jetzt hieß es, sich zu beeilen, wenn sie noch rechtzeitig zum Bahnhof kommen wollte. Ungeöffnet wanderte der Brief in ihre Handtasche. Das störte den kleinen Nikki jetzt allerdings wenig, denn er war schon voller Erwartung, was seine junge Tante von ihrer Reise zu berichten hatte. Er ließ es auch geduldig über sich ergehen, dass seine Mami ihm Gesicht und Hände wusch, und wenig später knatterte der schon recht altersschwache Wagen davon. »Wenn Fritzi nun Lehrerin wird in dem Ort … Wie heißt er doch, Mami?«
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Buchvorschau
Er wusste nichts von seinem Kind - Patricia Vandenberg
Im Sonnenwinkel – Neue Edition
– 10 –
Er wusste nichts von seinem Kind
Patricia Vandenberg
Zögernd öffnete Stefanie Fanchon den Brief, der mit der Morgenpost gekommen war. Eine halbe Stunde lag er schon vor ihr auf dem Tisch, und immer wieder hatte sie auf den Absender gestarrt. »Rechtsanwalt Dr. Herbert Wilkens«, stand da. Sie hatte den Namen nie gehört, aber die Tatsache, einen Brief von einem Rechtsanwalt zu bekommen, erschreckte sie.
Ein kleiner Finger tippte auf ihre Hand. Er war ein bisschen klebrig.
»Warum machst du den Brief nicht auf, Mami?«, fragte ihr Söhnchen.
»Ich wollte ihn ja gerade aufmachen, Nikki«, murmelte sie.
»Na, dann mach doch schon, damit wir endlich Fritzi abholen können«, drängte der Knirps.
Du lieber Himmel, an Fritzi – damit war ihre jüngere Schwester Friederike gemeint – hatte sie gar nicht mehr gedacht.
Jetzt hieß es, sich zu beeilen, wenn sie noch rechtzeitig zum Bahnhof kommen wollte.
Ungeöffnet wanderte der Brief in ihre Handtasche.
Das störte den kleinen Nikki jetzt allerdings wenig, denn er war schon voller Erwartung, was seine junge Tante von ihrer Reise zu berichten hatte.
Er ließ es auch geduldig über sich ergehen, dass seine Mami ihm Gesicht und Hände wusch, und wenig später knatterte der schon recht altersschwache Wagen davon.
»Wenn Fritzi nun Lehrerin wird in dem Ort … Wie heißt er doch, Mami?«, fragte Nikki.
»Hohenborn«, antwortete Stefanie mechanisch.
»Hohenborn«, wiederholte Nikki eifrig, »wenn sie da nun Lehrerin wird, ziehen wir dann auch dorthin?«
»Ich weiß noch nicht, Nikki«, entgegnete Stefanie gedankenverloren.
»Ich möchte aber mit Fritzi zusammenbleiben«, beharrte er. »Wir haben doch sonst keinen.«
Nein, sonst hatten sie niemanden, und gerade deshalb fragte sich Stefanie wieder, was der Brief des Rechtsanwalts beinhaltete.
Sie erreichten ihr Ziel schneller, als Stefanie erwartet hatte. Der Bahnhof der kleinen Stadt war noch menschenleer.
»Steig doch endlich aus!«, drängte Nikki.
»Wir haben noch eine Viertelstunde Zeit«, erwiderte sie. »Es ist ziemlich windig.«
»Mir macht das nichts«, erklärte er. »Friert’s dich, Mami?«
Ja, es fror sie, aber das kam wohl mehr von der inneren Unruhe, die sie nun nicht mehr bezwingen konnte.
Sie nahm den Umschlag aus der Tasche und zog den Brief heraus.
Nikki schaute ihr erwartungsvoll zu.
»Was haste denn, Mami?«, fragte er erschrocken, als Stefanie schneeweiß wurde.
Sie hörte es gar nicht. Unentwegt starrte sie auf die Zeilen, deren Buchstaben vor ihren Augen tanzten.
Sehr geehrte Frau Fanchon, endlich konnte ich nach langen Nachforschungen Ihren jetzigen Aufenthaltsort in Erfahrung bringen, und ich hoffe, dass mein Schreiben Sie wohlbehalten erreicht.
Meine Mandantin, Frau Carsta von Joris, ersuchte mich, mich mit Ihnen persönlich in Verbindung zu setzen, und so bitte ich Sie, sich baldmöglichst, am besten telefonisch, mit mir über einen Termin zu verständigen. Leider kann ich Sie wegen eines schweren Rheumaleidens nicht aufsuchen, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Mühe auf sich nehmen würden, nach Hamburg zu kommen. Einen Scheck, mit dem Sie vorerst Ihre Auslagen bestreiten könnten, lege ich bei.
Ich möchte noch hinzufügen, dass unsere Kontaktaufnahmen von größter Wichtigkeit für Sie und Ihren Sohn Dominik sein dürfte.
Von größter Wichtigkeit für mich und meinen Sohn Dominik, dachte sie.
Die Buchstaben tanzten nicht mehr.
Sie konnte wieder klar denken, und ihre Mundwinkel verzogen sich voller Bitterkeit.
»Was steht denn in dem Brief, Mami?«, fragte Nikki neugierig.
»Nichts von Bedeutung«, erwiderte sie tonlos. »Komm jetzt, der Zug wird gleich einlaufen.«
Und was gewesen ist, ist vorbei, dachte sie weiter. Ganz fest hielt sie die kleine Hand ihres Sohnes.
»Vielleicht ziehen wir doch nach Hohenborn, wenn Fritzi die Stellung bekommen hat«, sagte sie ruhig.
»O fein, Mami!«, freute er sich.
*
Stürmisch umarmte Friederike Fanchon ihre Schwester, hob dann den kleinen Nikki empor und schwenkte ihn durch die Luft.
»Ich habe sie, ich habe die Stellung bekommen, Steffi!«, lachte sie. »Ich brauche dir nicht mehr auf der Tasche zu liegen. Hübsch ist es dort. Oh, ich freue mich so sehr. Und es gibt noch viel mehr zu berichten. Aber lass uns erst heimfahren. Mich verlangt nach einem Bad, und einen Mordshunger habe ich auch. Nikkischatz, hast du deine Fritzi vermisst?«, sprudelte es dann weiter über ihre frischen Lippen.
»Und wie!«, seufzte er. »Mami war immer so still!«
Größere Gegensätze als die beiden Schwestern konnte man sich nicht vorstellen.
Fritzi war blond und hatte strahlend blaue Augen; Stefanie war dunkelhaarig und von einer fast melancholischen Schönheit.
Vielleicht kam es daher, dass sie zwar denselben Vater, aber verschiedene Mütter gehabt hatten, was ihrer Zuneigung allerdings niemals abträglich gewesen war.
Stefanie sah ihrem Vater ähnlich, der Franzose gewesen war, Fritzi ihrer dänischen Mutter. Eine seltsame Mischung, die sich allerdings in Fritzi auswirkte. Sie hatte romanisches Temperament und zugleich einen recht nüchternen Verstand, den sie in ihrem Beruf als Lehrerin brauchen würde.
Während Stefanie auf der Heimfahrt schwieg, plauderte Fritzi mit Nikki, der gar nicht genug von ihrer Reise hören konnte.
»Sind da nette Kinder?«, wollte er wissen.
»Sehr nette, und es gibt eine ganz moderne Schule«, erzählte sie. »Sie wird jetzt erst eingeweiht. Es wird dir dort gefallen, Nikki.«
»Dann ziehen wir bestimmt mit dahin?«, erkundigte er sich eifrig.
Fritzi warf ihrer Schwester einen schnellen Blick zu.
»Das hoffe ich doch sehr«, murmelte sie.
Nun waren sie daheim in der recht hübschen Vierzimmerwohnung im ersten Stock des Zweifamilienhauses.
Fünf Jahre wohnten sie hier, und sie kamen auch ganz gut mit dem kinderlosen Hausbesitzerehepaar aus.
Wie würde es wohl anderswo sein, fragte sich Stefanie. Aber jetzt musste sie von hier fort, und dies so schnell wie möglich.
Fritzi war im Bad verschwunden. Nikki baute sich vor seiner Mutter auf, die Arme in die Hüften gestemmt.
»Fritzi wird sicher denken, dass du böse mit ihr bist, Mami«, sagte er vorwurfsvoll.
»Warum sollte sie das denken?«
»Weil du gar nichts mehr mit ihr redest.«
»Wir werden nachher schon miteinander reden«, lenkte sie ab. »Du hast sie ja beschäftigt.«
Er betrachtete sie mit einem Blick, der ihr durch und durch ging, weil sie unwillkürlich seinen Vater vor sich sah. Und gerade das wollte sie nicht.
Nein, es war lange vorbei, und niemand hatte das Recht, sie daran zu erinnern.
Fritzi setzte sich schon bald zu ihnen. Sie hatte ihren rosa Frotteemantel an und ein weißes Frotteetuch als Turban um den Kopf geschlungen. Sie sah wie blank poliert aus, frisch und munter.
»So, nun schaut euch das mal an«, sagte sie und legte einige Bilder auf den Tisch, die eine liebliche Landschaft und sehr hübsche Häuser zeigten. »Und du, Steffi, kannst dich mal damit befassen«, fuhr sie fort und deutete auf eine fettgedruckte Annonce.
Nikki betrachtete die Bilder, Stefanie las die Annonce.
»Einmalige Gelegenheit«, lautete die Überschrift. »Einfamilienhaus, fünf Räume und Zubehör, mit angelegtem Garten in der Siedlung Erlenried aus familiären Gründen äußerst günstig zu verkaufen oder zu vermieten. Auskünfte erteilt Rechtsanwalt Dr. Heinz Rückert.
»Was meinst du damit, Fritzi?«, fragte Stefanie. »Das ist doch unerschwinglich für uns.«
»Wer sagt denn das?«, meinte Fritzi unbekümmert. »Ich habe mich schon mit Dr. Rückert in Verbindung gesetzt. Reizende Leute sind das. So was muss man erst suchen. Äußerst entgegenkommend sind sie. Weißt du, das ist eine Siedlung für Individualisten. Das ist nicht so eine Baugesellschaft, die immens verdienen will. Wir brauchen nur eine Anzahlung von zwanzigtausend Euro zu leisten. Du weißt, ich spreche nicht gern darüber, aber du hast doch das Erbteil von deiner Mutter, Steffi.«
Sie machte eine kleine Pause und sah die Ältere verlegen an.
Stefanie sprach nicht über das Erbteil, weil es ihr irgendwie ungerecht erschien, dass sie mehr besaß als Fritzi, und sie ließ sich auch gar nicht gern daran erinnern, dass sie verschiedene Mütter gehabt hatten.
Das Geld hatte sie für Nikki an die Seite gelegt. Manchmal hatte sie auch ganz heimlich etwas für Fritzis Studium abgezwickt, was diese aber nicht wissen durfte.
Sie selbst hatte als Modezeichnerin immer gut verdient, um das zu rechtfertigen, und es war nun mal Fritzis heißester Wunsch gewesen, Lehrerin zu werden.
»Ich will ja nicht, dass du das Geld einfach so hergibst«, fuhr Fritzi schüchtern fort. »Wenn ich jetzt verdiene, kann ich es dir ja monatlich zurückzahlen. Aber die Häuser sind traumhaft schön, und eine so günstige Gelegenheit wird uns so schnell nicht mehr geboten werden, Steffi. Du willst doch mitkommen? Sonst macht mir das alles gar keine Freude«, schloss sie unsicher.
»So ein schönes Haus könnten wir kriegen?«, fragte Nikki aufgeregt. »Und was für Leute wohnen da mit uns?«
»Wir hätten es ganz