Geheimnis um ein Waisenkind: Im Sonnenwinkel – Neue Edition 15 – Familienroman
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Im Haus von Professor Auerbach im Sonnenwinkel war ein großer Disput im Gange. Hannes hatte morgen Schulausflug und gab seinem Mißmut darüber Ausdruck, daß es wieder nur eine Wanderung in die nähere Umgebung werden sollte. Zum ersten Mal traf auch seinen Schwager, den jungen Studienrat Dr. Fabian Rückert, ein herber Vorwurf. Fabian sollte die Klasse nämlich begleiten. »Wie die Babys behandelt man uns«, knurrte Hannes. »Wir könnten doch auch mal eine Tagesfahrt ins Gebirge machen, aber Fabian ist zu lahm.« Der so Gerügte hatte allerdings seine Gründe, nicht einen ganzen Tag fern von daheim zu sein, denn seine Frau sah der Geburt ihres ersten Kindes entgegen, und es war ihr während der letzten Wochen gar nicht gutgegangen. Bambi, die Jüngste, hatte dafür mehr Verständnis als ihr Bruder. »Du mußt das doch einsehen, Hannes«, meinte die Fünfjährige vernünftig. »Fabian will doch dabeisein, wenn das Baby ankommt. Und Mami sagt, es kann jetzt jeden Tag sein.« »Es ist aber nicht gerecht, daß wir Großen bloß herumlaufen und die Jüngeren nach Mittenwald fahren.« »Nun reg Fabian nicht noch mehr auf!« mischte sich Inge Auerbach ein, die sich ebenfalls Sorgen um ihre Tochter machte. Hannes warf ihr einen schrägen Blick zu. »Ich verstehe gar nichts mehr«, stellte er fest.
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Geheimnis um ein Waisenkind - Patricia Vandenberg
Im Sonnenwinkel – Neue Edition
– 15 –
Geheimnis um ein Waisenkind
Patricia Vandenberg
Im Haus von Professor Auerbach im Sonnenwinkel war ein großer Disput im Gange.
Hannes hatte morgen Schulausflug und gab seinem Mißmut darüber Ausdruck, daß es wieder nur eine Wanderung in die nähere Umgebung werden sollte.
Zum ersten Mal traf auch seinen Schwager, den jungen Studienrat Dr. Fabian Rückert, ein herber Vorwurf. Fabian sollte die Klasse nämlich begleiten.
»Wie die Babys behandelt man uns«, knurrte Hannes. »Wir könnten doch auch mal eine Tagesfahrt ins Gebirge machen, aber Fabian ist zu lahm.«
Der so Gerügte hatte allerdings seine Gründe, nicht einen ganzen Tag fern von daheim zu sein, denn seine Frau sah der Geburt ihres ersten Kindes entgegen, und es war ihr während der letzten Wochen gar nicht gutgegangen.
Bambi, die Jüngste, hatte dafür mehr Verständnis als ihr Bruder.
»Du mußt das doch einsehen, Hannes«, meinte die Fünfjährige vernünftig. »Fabian will doch dabeisein, wenn das Baby ankommt. Und Mami sagt, es kann jetzt jeden Tag sein.«
»Es ist aber nicht gerecht, daß wir Großen bloß herumlaufen und die Jüngeren nach Mittenwald fahren.«
»Nun reg Fabian nicht noch mehr auf!« mischte sich Inge Auerbach ein, die sich ebenfalls Sorgen um ihre Tochter machte.
Hannes warf ihr einen schrägen Blick zu.
»Ich verstehe gar nichts mehr«, stellte er fest. »Früher habt ihr doch immer gesagt, daß Kinderkriegen die natürlichste Sache der Welt sei, und nun tut ihr so, als wäre Ricky krank.«
Eben das machte ihnen ja Sorgen. Es schien wirklich so, als wäre Ricky nicht ganz gesund. Sie war immer so blaß und müde, und ihr Gesicht wurde immer schmaler. Dauernd wurde ihr schlecht, und von ihrer Fröhlichkeit war nichts mehr zu spüren.
Selbst Dr. Riedel, der sie sehr fürsorglich betreute, schüttelte den Kopf.
»Würde sie das Baby nicht erwarten, sprächen alle Anzeichen eigentlich für eine Blinddarmreizung«, hatte er gestern erklärt.
Da war Fabian natürlich fast durchgedreht, denn er selbst hatte mit seinem Blinddarm recht trübe Erfahrungen gemacht und eine schwere Operation hinter sich.
»Na ja, wenn ich auch Verständnis habe«, räumte Hannes nun ein, »meine Klassenkameraden haben es nicht. Denen ist nämlich wurscht, daß Ricky ein Baby bekommt.«
»Die wohnen ja auch nicht in Erlenried«, sagte Bambi, »sonst hätten sie Verständnis.«
Und damit betonte sie wieder einmal, daß die Bewohner von Erlenried, zu dem auch der Sonnenwinkel gehörte, die bessere Kategorie Menschen darstellten.
Es schien tatsächlich so zu sein, denn hier nahmen alle Anteil an der bevorstehenden Geburt.
*
Fabian Rückert hatte sich gewünscht, daß es in Strömen regnen möge, damit der Wandertag buchstäblich ins Wasser fiel, aber Petrus hatte kein Einsehen.
Die Sonne lachte vom Himmel, es war nicht zu warm, nicht zu windig, und somit das ideale Ausflugswetter. Als sie dann erst einmal aus Hohenborn heraus waren, stieg auch die Stimmung bei seinen Schülern. Seine allerdings nicht, doch das fiel jetzt nicht mehr so auf.
Warum in die Ferne schweifen, wo das Gute doch so nahe lag, dachten die Kinder jetzt auch.
Die Umgebung von Hohenborn war herrlich. Die Rast im Forsthaus, das ein sehr gemütliches Ausflugslokal geworden war, entsprach ganz den Wünschen der Achtkläßler.
Fabian benutzte die Gelegenheit, daheim anzurufen, aber Ricky meldete sich nicht.
Er versuchte es bei seinen Schwiegereltern, doch da war das Telefon besetzt.
Indessen hatten Hannes und ein paar Freunde sich selbständig gemacht und inspizierten das Gehege, in dem sich ein junges Reh befand, das anscheinend im Wald gefunden worden war.
Plötzlich vernahm Hannes einen leisen Hilferuf. Sofort spitzte er die Ohren.
»Das klingt wie ein Kind«, sagte er. »Ob sich jemand verlaufen hat?«
Doch so intensiv er auch lauschte, er konnte nichts mehr hören.
Er legte seine Hände um den Mund und rief schallend: »Hallo, hallo!« Doch nur das Echo kam zurück.
Er lief auf das Waldstück zu, und da stand plötzlich ein kleines Mädchen vor ihm. Das kastanienbraune Haar war zu Zöpfen geflochten, und die dunklen Augen waren angstvoll auf ihn gerichtet.
»Meine Großmama, meine Großmama«, stammelte die Kleine, »sie steht nicht mehr auf.«
Hannes winkte seinen Freunden zu. Dann spurtete er los. Er war halt ein richtiges Kind von Erlenried, immer hilfsbereit, wenn er gebraucht wurde. Er fragte da nicht lange.
Das Mädchen, das ihm die Richtung gewiesen hatte, konnte kaum mit ihm Schritt halten.
Schon bald sah Hannes eine alte Frau im grauen Kostüm am Boden liegen.
»Holt mal schnell den Fabian«, rief er seinen Freunden zu. »Ich weiß nicht, was man da machen kann.«
Aber er kniete doch bei der alten Frau nieder und redete beschwörend auf sie ein, während das kleine Mädchen die Hände vor das bleiche Gesicht geschlagen hatte und leise vor sich hin weinte.
»Wein doch nicht. Wir werden deiner Großmutter schon helfen«, äußerte er tröstend.
Er wußte nicht, daß hier jede Hilfe zu spät kam.
Dr. Fabian Rückert stellte es fest, als er herangekommen war. Er sagte es jedoch nicht, um seine Schüler nicht zu erschrecken.
»Lauf zurück, Hannes, und ruf das Krankenhaus an! Sie sollen ein Sanitätsauto schicken«, sagte er beklommen.
Das sollte nun das Ende ihres Wandertages sein. Ein sehr trauriges Ende, das die Kinder still machte.
Was machen wir nur mit dem Kind, dachte Fabian. Aber Hannes wußte es schon, bevor sein Schwager es ausgesprochen hatte.
»Wir nehmen die Kleine mit«, meinte er. »Das ist doch klar.«
Sie waren alle sehr vernünftig. Es bedurfte keiner Ermahnungen.
Ja, sie sagten sogar, daß es gut gewesen sei, daß sie diesen Ausflug gemacht hätten. Sonst wäre wohl heute niemand in diese abgeschiedene Gegend gekommen und die Kleine wäre allein gewesen mit der kranken Frau.
Noch wußten sie nicht, daß die Fremde tot war, daß niemand ihr mehr helfen konnte.
Im Krankenhaus stellte man einen Herzschlag fest.
*
Bambi war wieder einmal auf dem Sonnenhügel gewesen und hatte mit Manuel Münster gespielt, der sich den Fuß verstaucht hatte und nicht zur Schule gehen konnte.
Sie kam jedoch bald zurück und wurde von ihrer Omi, Teresa von Roth, empfangen.
»Wo ist denn Mami?« fragte Bambi erstaunt.
»Sie bringt Ricky in die Klinik«, erwiderte Teresa von Roth leise. »Papi ist auch mitgefahren.«
»Hat sich das Baby endlich angemeldet?« fragte Bambi eifrig. »Omi, Ricky geht es doch gut?«
Darauf konnte Teresa von Roth keine befriedigende Antwort geben.
Sie befanden sich alle in einer heillosen Aufregung, denn Ricky war ganz plötzlich zusammengebrochen. Doch damit wollte sie ihre kleine Enkelin nicht erschrecken.
»Liebe Güte, und da kommt Hannes auch schon zurück!« rief Bambi. »Er bringt jemanden mit. Ein kleines Mädchen, Omi.«
Sie lief ihnen entgegen. Hannes sah sie beschwörend an.
»Es ist was passiert«, murmelte er. »Frag nicht gleich so viel. Die Kleine ist ganz verschreckt.«
»Mami ist gar nicht da. Sie bringt mit Papi unsere Ricky in die Klinik«, platzte Bambi heraus. »Aber Omi ist da. Wer bist du denn?« fragte sie das Mädchen.
Die Kleine preßte die Lippen aufeinander. Wieder stürzten Tränen aus ihren Augen.
»Sie muß sich erst beruhigen. Ihre Omi ist bei einem Spaziergang im Wald krank geworden.«
»Es war aber kein Spaziergang!« stieß die Kleine jetzt hervor.
Es waren die ersten Worte, die sie sprach. Zutraulich griff Bambi nach ihrer Hand.
»Das kannst du uns dann ja erzählen«, meinte sie. »Hast du Hunger?«
»Durst habe ich«, gab die Kleine zu.
»Mit dir redet sie«, brummte Hannes. »Mit uns hat sie nicht geredet.«
Nun sahen ihn die dunklen Augen verzeihungsheischend an.
»Du bist so groß. Großmama hat gesagt, daß ich mit Großen nicht reden soll«, äußerte sie entschuldigend.
Dafür hatte Hannes nun auch wieder Verständnis. Man wußte ja, was alles passierte, und Freund und Feind konnte ein Kind nicht so rasch auseinanderhalten.
Ob es seinen Eltern aber recht sein würde, wenn an einem solch aufregenden Tag noch ein fremdes Kind ins Haus kam? Seine Omi beruhigte ihn.
»Wir können die Kleine doch nicht wegschicken«, bemerkte sie. »Notfalls kann sie auch bei uns sein.«
Aber die kleine Fremde schien lieber bei Bambi bleiben zu wollen.
Und als Jonny, der Collie, sie dann auch noch schwanzwedelnd begrüßte, entspannte sich ihr Gesichtchen.
»Ich heiße Bambi, und das ist unser Jonny«, erklärte Bambi. »Das ist meine Omi, und meinen Bruder Hansi kennst du ja schon. Hier wohnen wir. Komm rein, du kriegst was zu trinken und auch zu essen. Wie heißt du denn?«
»Nicola«, erwiderte die kleine Fremde.
Das genügte vorerst. Wenigstens fand Bambi das, wenngleich Hannes meinte, daß sie wohl alt genug wäre, um auch ihren Nachnamen zu wissen. Aber das sagte er noch nicht.
*
Fabian Rückert hatte eben von dem Arzt im Krankenhaus erfahren,