Das Muttermal verriet sie: Gaslicht 40
Von Anne Alexander
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Die junge Frau musste den Bach überqueren, es gab keinen anderen Weg. Entschlossen setzte sie ihren Fuß auf die Brücke. Sich mit beiden Händen am Geländer festhaltend, ging sie sehr langsam über die Holzplanken. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hatte Angst, ganz furchtbare Angst. Der Bach wirkte durch den aufkommenden Sturm noch reißender als sonst. Sie wusste genau, würde sie ausrutschen und in das Wasser stürzen, würde es kaum eine Chance für sie geben. Die junge Frau hatte schon fast das Ende der Brücke erreicht, als das linke Halteseil aus seiner Verankerung riss. Die Brücke kippte zur Seite. Bevor Dorothy sich festhalten konnte, stürzte sie kopfüber in den Bach. Niedergeschlagen saß Dorothy Gilman am Fenster des kleinen mit viktorianischen Möbeln eingerichteten Salons und schaute auf die Themse hinaus. Trotz des schlechten Wetters legte gerade eines der Ausflugsboote, die vom Tower kamen, am Ufer an. Uninteressiert beobachtete sie die Leute, die kurz darauf die schmale Treppe zur Straße hinunterstiegen und in Richtung Whitehall davongingen. Als der letzte der Passagiere die Treppe passiert hatte, schlug die Uhr des Big Ben fünfmal. Die junge Frau zuckte heftig zusammen. Automatisch glitt ihr Blick zur Wanduhr. Um diese Zeit hatte sie mit ihrem Vater stets Tee getrunken, wenn er nicht gerade zu einem Krankenbesuch unterwegs gewesen war. Ein dicker Kloß schien in ihrem Hals zu sitzen. Drei Tage waren jetzt seit seiner Beerdigung vergangen, drei Tage, in denen sich die Stunden bis zur Ewigkeit ausdehnten. Dorothy Gilman stand auf.
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Buchvorschau
Das Muttermal verriet sie - Anne Alexander
Gaslicht
– 40 –
Das Muttermal verriet sie
Unveröffentlichter Roman
Anne Alexander
Die junge Frau musste den Bach überqueren, es gab keinen anderen Weg. Entschlossen setzte sie ihren Fuß auf die Brücke. Sich mit beiden Händen am Geländer festhaltend, ging sie sehr langsam über die Holzplanken. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hatte Angst, ganz furchtbare Angst. Der Bach wirkte durch den aufkommenden Sturm noch reißender als sonst. Sie wusste genau, würde sie ausrutschen und in das Wasser stürzen, würde es kaum eine Chance für sie geben. Die junge Frau hatte schon fast das Ende der Brücke erreicht, als das linke Halteseil aus seiner Verankerung riss. Die Brücke kippte zur Seite. Bevor Dorothy sich festhalten konnte, stürzte sie kopfüber in den Bach. Sie fühlte noch einen entsetzlichen Schmerz, als ihr Kopf gegen einen der Steine stieß, dachte, jetzt ist alles aus, dann verlor sie das Bewusstsein …
Niedergeschlagen saß Dorothy Gilman am Fenster des kleinen mit viktorianischen Möbeln eingerichteten Salons und schaute auf die Themse hinaus. Trotz des schlechten Wetters legte gerade eines der Ausflugsboote, die vom Tower kamen, am Ufer an. Uninteressiert beobachtete sie die Leute, die kurz darauf die schmale Treppe zur Straße hinunterstiegen und in Richtung Whitehall davongingen. Als der letzte der Passagiere die Treppe passiert hatte, schlug die Uhr des Big Ben fünfmal.
Die junge Frau zuckte heftig zusammen. Automatisch glitt ihr Blick zur Wanduhr. Um diese Zeit hatte sie mit ihrem Vater stets Tee getrunken, wenn er nicht gerade zu einem Krankenbesuch unterwegs gewesen war. Ein dicker Kloß schien in ihrem Hals zu sitzen. Drei Tage waren jetzt seit seiner Beerdigung vergangen, drei Tage, in denen sich die Stunden bis zur Ewigkeit ausdehnten.
Dorothy Gilman stand auf. Sie wollte sich in der Küche Tee aufbrühen. Auf dem Weg zur Tür kam sie an dem Sessel vorbei, in dem ihr Vater abends gesessen und ein Glas Portwein getrunken hatte. Wehmütig strich sie über den verschlissenen Lederbezug.
Es war Mai, doch an diesem trüben Tag wurde es früher dunkel als gewöhnlich. Dorothy musste in der Küche das Licht einschalten. Sie setzte einen Topf mit Wasser auf den Herd, nahm einen Porzellanbecher und einen Teebeutel aus dem Schrank. Die Stille um sie herum legte sich wie eine schwere Last auf ihr Herz.
Mit dem Teebecher in der Hand durchquerte sie den Korridor und öffnete die Tür zu den Praxisräumen, in denen ihr Vater bis vor einer Woche seine Sprechstunde abgehalten hatte. Auf seinem Schreibtisch standen noch die Blumen, die ihm eine dankbare Patientin mitgebracht hatte, nachdem sie von ihrem Leiden befreit worden war. Sie ließen bereits die Köpfe hängen und erfüllten das Zimmer mit dem Geruch des Todes.
Dorothy Gilman setzte den Teebecher ab und ergriff die Vase, um sie in die Küche zu bringen, doch kurz vor der Tür stockte sie. Mit einem Mal erschien es ihr wie ein Sakrileg, die Blumen fortzuwerfen. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sich ihr Vater über den Strauß gefreut hatte. Sie brachte die Vase zum Schreibtisch zurück, nahm den Becher und verließ beinahe fluchtartig den Raum.
Jetzt war es erst kurz nach siebzehn Uhr. Die junge Frau fragte sich, wie sie die Stunden bis zum Schlafengehen überbrücken sollte. Am liebsten hätte sie sich sofort ins Bett gelegt, doch was würde das nützen? Sie war noch nicht müde genug, um einschlafen zu können, und die Gedanken an den Vater ließen sich nicht einfach beiseiteschieben.
Sie umfasste mit der freien Hand das Treppengeländer. Absichtslos schaute sie die Stufen hinauf, verfolgte jede Einzelne und stieg sie dann wie in Trance bis zum Dachgeschoss hoch. Wie lange war sie nicht mehr auf dem Dachboden gewesen? Ein flüchtiges Lächeln glitt über ihr Gesicht. Als Kind hatte sie gern dort oben gespielt, sich die alten Kleider angezogen, die seit Jahrzehnten in den Truhen lagen, Fotos betrachtet, in vergilbten Büchern geblättert. Später hatte sie dann das Interesse daran verloren, und seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren hatte sie nur noch zweimal den Dachboden betreten, um etwas hinaufzubringen.
Jetzt streckte sie die Hand nach der Klinke aus, drückte sie hinunter. Ohne das Schnarren wahrzunehmen, dass die Tür von sich gab, als sie aufgeschoben wurde, trat sie in den dunklen, nach Staub und Verfall riechenden Raum.
Dorothy Gilman schaltete das Licht ein. Die drei kahlen Birnen, die im Raum verteilt an der Decke angebracht waren, erhellten nur notdürftig ihre Umgebung und ließen den größten Teil des Bodens im Schatten liegen. Doch die junge Frau empfand keine Angst. Hier gab es nichts, was sie hätte fürchten müssen. Ihr Blick glitt über die alten Truhen und Möbel, die im Laufe der letzten zweihundert Jahre auf dem Dachboden abgestellt worden waren. Flüchtig dachte sie daran, dass dieser große Raum eine Fundgrube für Antiquitätenhändler sein müsste. Scheinbar war in ihrer Familie seit Generationen nichts mehr weggeworfen worden.
Dorothy stellte ihren Teebecher auf ein rundes Spieltischchen und ging zu der Kommode, in der die Fotoalben lagen, die sie als Kind so oft angesehen hatte. Auf dem Sessel daneben saß eine Puppe, mit der bereits ihre Großmutter gespielt hatte. Dorothy Gilman hob sie hoch und drückte sie vorsichtig an sich. Der Staub, der in der brüchigen Seidenkleidung lag, kitzelte in ihrer Nase und reizte sie zum Niesen.
Mit der Puppe im Arm sah sie sich um. Plötzlich wusste Dorothy, was sie während der nächsten Tage tun würde. Dieser Boden gehörte dringend aufgeräumt. Die Arbeit würde ihr helfen, über den Schmerz hinwegzukommen, und vielleicht auch etwas die Lücke füllen, die der Tod ihres Vaters bei ihr hinterlassen hatte. Dann würde sie wohl auch endlich in der Lage sein, über ihre Zukunft nachzudenken. Auch wenn sie sich keine Geldsorgen machen musste, sie brauchte eine Arbeit, ein Ziel. Jetzt, da ihr Vater nicht mehr lebte und sie ihm nicht mehr den Haushalt führen konnte, musste sie etwas anderes anfangen.
Die junge Frau legte die Puppe zurück und wandte sich den Fotoalben zu. Vorsichtig hob sie die drei dicken Bände aus der obersten Schublade der Kommode. Mit einem Tuch, das über einem Hocker gehangen hatte, wischte sie den Staub ab und schlug das Erste auf.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Langsam drehte sie sich um und schaute nach draußen. Sie hatte weder die Haustür klappen noch Schritte auf der Treppe gehört, dennoch kam es ihr vor, als hätte jemand den Boden betreten. Aber da war niemand.
Dorothy Gilman wollte sich schon wieder den Alben zuwenden, als ihr Blick wie magisch von einer schweren Eichentruhe auf der rechten Seite angezogen wurde. Sie erinnerte sich, dass sie diese Truhe auch als Kind hatte untersuchen wollen, doch sie war abgeschlossen gewesen und ihre Eltern hatten behauptet, der Schlüssel sei verloren gegangen, zudem würden sich in ihr nur ein paar alte Kleider befinden.
Wie in Trance ging Dorothy jetzt zu der Truhe, kauerte sich neben ihr zu Boden. Ihre Fingerspitzen glitten über das kalte Schloss, bevor sie es umfasste. Es löste sich aus der Halterung und fiel in ihre Hand. Erschrocken schrie sie auf und ließ es fallen. Mit einem dumpfen Klingen schlug es auf dem Boden auf.
Die junge Frau sprang auf. Sie konnte das nicht verstehen. Wieso war das Schloss plötzlich auf? Hatte ihr Vater etwa den Schlüssel gefunden gehabt und in der Truhe nachgeschaut, was sie enthielt? Aber warum hatte er ihr nichts davon erzählt? Sie streckte die Hand aus, um den Truhendeckel anzuheben, zuckte jedoch wieder zurück. »In der Truhe ist nichts, was dich interessieren könnte, Dorothy«, hörte sie ihre verstorbene Mutter sagen. »Du hast hier so viele Sachen, mit denen du spielen kannst, da müssen wir nicht auch noch diese Truhe aufbrechen.«
Die junge Frau schluckte, gab sich einen Ruck und schlug den schweren Deckel nach oben. Modergeruch stieg ihr entgegen, löste sich im Raum auf.
Die Truhe schien tatsächlich nur Kleider zu enthalten. Obenauf lagen feine Seidenschals, brüchig vom Alter, und mit Spitzen besetzte Blusen. Darunter Röcke aus Satin, Samt und Taft. Sie nahm an, dass diese Kleidungsstücke ihre Urgroßmutter getragen hatte. Flüchtig erinnerte sie sich an ein Foto, das sie vor Jahren von ihr gesehen hatte.
Enttäuscht wollte sie den Deckel schon wieder zuschlagen, als sie am Boden der Truhe eine mit Elfenbein und Silber eingelegte Ebenholzschatulle fand. Überrascht nahm sie das Kästchen heraus und setzte sich mit ihm in einen Sessel. Als sie es öffnete, erklang eine lustige Melodie. Ein Lächeln verzauberte ihr Gesicht.
In dem Fach unter dem Uhrwerk entdeckte Dorothy einen vergilbten Brief, der in