Der Zirkus kommt: Mami 1995 – Familienroman
Von Kathrin Singer
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Über dieses E-Book
»Heut' gehn wir in den Zirkus. Heut' gehn wir in den Zirkus!« sang Rosemarie fröhlich vor sich hin. Das Essen auf ihrem Teller war fast unberührt. Sie stocherte lustlos mit der Gabel darin herum. Aufgeregt schwang sie die Beine unter dem Tisch hin und her. »Nun reicht es aber, Rosemarie!« Die Stimme des Vaters war ungewohnt streng. Wenn er ärgerlich war, sprach er seine Tochter mit ihrem vollem Namen an. »Ich bin doch schon so aufgeregt.« Die Neunjährige schmollte. »Und ich freue mich riesig.« Günter Scholz lächelte. »Das kann ich ja verstehen, Rosi.« »Ich bin brav, meinst du nicht auch, Vati?« wandte Robert Fred, Rosis Zwillingsbruder, ein. Er war nach seinen beiden Großvätern benannt, wurde gewöhnlich jedoch Robbi gerufen. »Selbstverständlich mußt du so etwas sagen.« Rosi streckte ihm die Zunge heraus. »Immer willst du besser sein als ich.
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Buchvorschau
Der Zirkus kommt - Kathrin Singer
Mami
– 1995 –
Der Zirkus kommt
...und versetzt eine turbulente Familie in Aufregung
Kathrin Singer
»Heut’ gehn wir in den Zirkus. Heut’ gehn wir in den Zirkus!« sang Rosemarie fröhlich vor sich hin. Das Essen auf ihrem Teller war fast unberührt. Sie stocherte lustlos mit der Gabel darin herum. Aufgeregt schwang sie die Beine unter dem Tisch hin und her.
»Nun reicht es aber, Rosemarie!« Die Stimme des Vaters war ungewohnt streng. Wenn er ärgerlich war, sprach er seine Tochter mit ihrem vollem Namen an.
»Ich bin doch schon so aufgeregt.« Die Neunjährige schmollte. »Und ich freue mich riesig.«
Günter Scholz lächelte. »Das kann ich ja verstehen, Rosi.«
»Ich bin brav, meinst du nicht auch, Vati?« wandte Robert Fred, Rosis Zwillingsbruder, ein. Er war nach seinen beiden Großvätern benannt, wurde gewöhnlich jedoch Robbi gerufen.
»Selbstverständlich mußt du so etwas sagen.« Rosi streckte ihm die Zunge heraus. »Immer willst du besser sein als ich. Dabei bin ich viel schlauer«, setzte sie stolz hinzu.
»Immer sagst du, ich bin dumm«, beschwerte sich Robbi. »Dabei habe ich im Rechnen eine Eins.«
»Und ich...«
»Würdet ihr bitte mit eurem Streit aufhören!« Der Vater bemühte sich, ein Lachen zu unterdrücken. Die Eifersüchteleien der Zwillinge waren manchmal sehr komisch. Er fand jedoch, daß sie bereits in ihrem Alter die Persönlichkeit des anderen anerkennen sollten.
Rosemarie hatte das Temperament ihrer Mutter geerbt. Sie war seiner verstorbenen Frau in vieler Hinsicht sehr ähnlich. Vor zwei Jahren war Susanne bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Wenn Günter seine Tochter anschaute, überkam ihn oft die schmerzliche Erinnerung an seine Frau. Rosi sah ihr sehr ähnlich, auch ihre Mimik und viele ihrer Gesten schienen von der Mutter übernommen worden zu sein.
Robert Fred dagegen war ruhiger, er konnte sich nicht leicht gegen die lebhafte Art seiner Schwester durchsetzen. Wenn er sich unterlegen fühlte, reagierte er oft trotzig. Günter versuchte die Gegensätze der Zwillinge auszugleichen, ohne Partei zu ergreifen.
Sonja Ramsberg, die Haushälterin, kam ins Eßzimmer. Günter bemerkte, daß sie eine neue Bluse trug. Ihre Lippen waren sorgfältig in dezentem Rot nachgezogen. Er ahnte, daß sie sich ihr Verhältnis zu seiner Familie enger wünschte, als es gemeinhin zwischen Hausherr und Haushälterin üblich war.
Sonja war sehr sympathisch, die Kinder liebten sie und sein Vater, der mit ihnen im Haus lebte, schätzte Sonjas Kochkünste ungemein.
Günter mochte die einige Jahre ältere Frau, aber von seiner Seite war es nur Sympathie. Er liebte sie nicht, und er war nicht bereit, eine reine Vernunftheirat einzugehen, um für die Zwillinge eine weibliche Bezugsperson zu haben. Er wußte, daß sie sich sehr nach der Mutter sehnten und manchmal überkam ihn ein Schuldgefühl. Vielleicht war er doch ein Egoist, wie sein Vater hin und wieder behauptete. Er wünschte sich keine neue Ehe und außerdem hätte er gar nicht gewußt, wo er die passende Frau finden konnte.
Sonja schaute zum Hausherrn hin. Er schien ihren Blick nicht zu bemerken. Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Kann ich den Nachtisch servieren?«
Sie sah Rosemaries fast unberührtes Essen und schimpfte.
»Ich habe halt keinen Hunger«, klagte das Mädchen. »Außerdem weißt du, daß ich nicht gern Fleisch esse.«
Rosemarie hätte gern vegetarisch gelebt, doch der Vater duldete es nicht, weil er meinte, für die körperliche Entwicklung seien die im Fleisch enthaltenen Vitamine und Mineralstoffe unbedingt notwendig.
»Dann ißt du auf jeden Fall etwas von dem Gemüse«, bestimmte Sonja. »Sonst bekommst du keinen Nachtisch.«
»Ich will gar keinen Nachtisch.«
Rosemarie schmollte.
Der Großvater mischte sich selten in die Erziehung ein. Doch jetzt erklärte er mit strenger Stimme: »Wenn du nicht das Gemüse ißt, darfst du nicht in den Zirkus gehen.«
Rosis Mund stand offen vor Schreck. Eilig begann sie, Spinat in den Mund zu stopfen. Sie verschluckte sich beinahe, so schnell schlang sie das Essen hinunter.
Günter schaute seinen Vater an. Unauffällig schüttelte der ältere den Kopf. Zu viele Ermahnungen machten die Kinder nur störrisch.
Der Großvater wandte sich an die Zwillinge. »Was haltet ihr davon, wenn ich mit euch in den Zirkus gehe?«
»Toll! Klasse!« Die Begeisterung äußerte sich lautstark. Robbi sprang sogar auf, lief um den Tisch herum und schlang die Arme um den Hals seines Opas.
Rosis Augen funkelten. Als der Bruder an ihr vorbeiging, flüsterte sie ihm zu: »Wenn Opa mit uns geht, dann bekommen wir bestimmt ein großes Eis.«
»O ja, ich werde...«
Das Mädchen hielt die Hand vor den Mund des Bruders. Robbi war manchmal so dumm und redete zuviel.
Rosemarie atmete erleichtert auf, als die Mahlzeit endlich beendet war. In zwei Stunden würden sie mit dem Großvater in den Zirkus gehen. Sie freute sich riesig. Auch Robbi war ungeduldig. Beiden fiel die Wartezeit schwer.
Doch wie immer, tickte die Uhr weiter. Niemand konnte den Fortgang der Zeit aufhalten...
*
Günter Scholz war Rechtsanwalt. Seit vier Generationen bestand die Sozietät Scholz und Schädiger. Die Kanzlei befand sich in einem Anbau der Jugendstilvilla von Scholz senior. Der ältere hatte sich seit einigen Jahren aus dem Berufsleben zurückgezogen. Doch sein Sohn holte sich auch heute noch manchmal Ratschläge von seinem Vater. Der Senior verfolgte auch weiterhin alle Gesetzesänderungen.
Die Familie wohnte in einer Kleinstadt, ans Wohnhaus schloß sich ein großer, ziemlich verwilderter Garten an. Das Haus stand in einer ruhigen Seitenstraße. Schon früh hatten die Zwillinge gelernt, eigenständig etwas zu unternehmen. Die Stadt war übersichtlich, und Günter hatte keine Angst, wenn seine Kinder unterwegs waren. Rosemarie war gescheit genug, um auf den manchmal verträumten Bruder aufzupassen.
Der Zirkus gastierte nicht weit vom Wohnsitz der Familie Scholz. Rosi und Robbi drängten ihren Opa so lange, bis er zustimmte, bereits eine Stunde vor Beginn der Vorstellung das Haus zu verlassen. Zehn Minuten später sahen sie schon das Zirkuszelt.
»Opa, dürfen wir uns umgucken?«
»Na ja«, er wies auf eine Bank in der Nähe. »Ich setze mich derweil dort drüben hin.«
Die Stadtverwaltung hatte dem Zirkusdirektor einen Platz in diesem kleinen Park angeboten.
Die Zwillinge zog es als erstes zu den Tieren. Sie waren in einem großen, langen Zelt mit halbhohen Türen in aneinander gereihten unterschiedlich großen Boxen untergebracht.
Rosi lief zuerst zu dem Elefanten. Staunend betrachtete sie seine gewaltige Größe. Sie kannte Elefanten zwar aus dem Zoo, doch niemals zuvor war sie einem so nahe gewesen.
Das Tier schnaufte unvermittelt,