Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Freunde, Ferien und Familien
Freunde, Ferien und Familien
Freunde, Ferien und Familien
eBook430 Seiten4 Stunden

Freunde, Ferien und Familien

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Unterhaltsame Erlebnisliteratur des einundzwanzigsten Jahrhunderts im Spannungsfeld der Integration von ausländischen Menschen in Deutschland. BAGiS, die bei singhalenischen Vermietern wohnen, helfen deutschen Alkoholikern. Professoren erleben afrikanische Schönheiten und deren uneigennützige Treue. Ein zweifach geschiedener Vater erreicht mental seine Kinder. Ein spannender und humorvoller Roman.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum16. Nov. 2010
ISBN9783839176344
Freunde, Ferien und Familien
Autor

Hajo Lucke

"Im siebzigsten Lebensjahr" betont er, "darf ich nur glücklich sein". Er hält das sechste Enkellkind seiner Kinder auf der Schulter. Es soll rüpslen, die Luft aus seinem Magen vertreiben. "Ein schwerer Herzinfarkt vor achtzehn Jahren, jetzt Leukämie, drei geliebte Ehefrauen und wunderschöne Lieben und Orgasmen", erklärt er seiner Tochter, seinem jüngsten Enkel den Rücken streichelnd. "Das Leben ändert sich täglich", resümiert er leise, "es bietet Freude, Glück und Zufriedenheit". Sein dürrer Körper schwankt. Er schreitet durch das Wohnzimmer seiner Tochter, seinen Enkel festhaltend. Er ist glücklich.

Mehr von Hajo Lucke lesen

Ähnlich wie Freunde, Ferien und Familien

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Freunde, Ferien und Familien

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Freunde, Ferien und Familien - Hajo Lucke

    Witz

    Kindheit

    Hund

    „Weißt du, was Jo ist? Jo ist blöd!", sein pubertierender Sohn lachte ausgiebig über seinen Witz.

    „Wenn ich etwas blöde finde, sage ich in Zukunft ‚es ist Jo’", das fröhliche Lachen über seinen Vater paarte sich mit einigen kämpferischen Elementen: In den Bauch pieksen, den kleinen Finger von Jo verdrehen und in die Rippen boxen. Wenn sein Vater stöhnte, lachte er noch intensiver.

    Kristian hielt auf dem Handy in einer Videosequenz fest, wie er seinem Vater bei einer Autofahrt laut klatschend auf den Oberschenkel schlug. Jo schrie vor Schmerz auf. Immer wieder sah sich Kristian das kleine Video an und lachte.

    „Aber du tust Papa doch weh!, mischte sich Kristians ältere Schwester bei diesen Rangeleien ein: „Lass doch dieses kindliche Verhalten.

    „Lass´ ihn doch, ich spiele nur mit", log Jo. Manchmal schmerzten ihn die Handgreiflichkeiten seines Sohnes. Aber er akzeptierte diese Art der Trennungsbemühungen seines Sohnes. Er musste ihm helfen, seinen Stiefvater zu akzeptieren.

    Einige Tage später erzählte Kristian seinem Vater, dass er mit Freunden auf einem Gemeinschaftsgrundstück Fußball gespielt hatte. Ein älterer Anwohner beschimpfte sie plötzlich und verbot ihnen, weiter zu spielen. Sie holten Marius, seinen Stiefvater, zu Hilfe. „Der hat dem alten Mann aber richtig laut die Meinung gesagt. Das könntest du nie, Papa. Dazu bist du zu schwach. Kannst du überhaupt richtig laut schimpfen?"

    Nein, das konnte Jo nicht. Er war zu friedlich. Manche hielten ihn für einen Feigling. Wenige nutzen ihn aus. Seine drei Exfrauen verdienten bei den Scheidungen viel Geld an ihm, wie er sich ehrlich eingestand. Aber es interessierte ihn nicht. Das war der Preis für die glücklichen Jahre mit ihnen.

    Seine Eltern zeigten Jo schon früh in der Kindheit, dass er nicht der erhoffte ‚arische Junge’ war. Immer wieder versuchten sie, ihm das Rüstzeug zu einem ‚richtigen, deutschen Jungen’ zu geben. Hoffnungslos! Jo war auf einem Auge fast blind und hatte einen ‚Scheuermannschen Rücken’, wie sie seine gekrümmte Haltung betitelten.

    „Du wirst später große Schmerzen im Rücken ertragen müssen, wenn du nicht diesen Stock hinter dem Rücken zwischen deine Oberarme klemmst", begründeten sie. Jo trug zum Gespött seiner Mitschüler beim obligatorischen Sonntagsspaziergang neben einer Nachkriegsbrille einen dicken Stock auf dem Rücken.

    Als er in der Schule ein ‚mangelhaft’ in Sport erhielt, weil er sich nicht traute, eine Rolle vorwärts zu ‚überleben’, wie er meinte, war das Maß für seine Eltern voll. Sie hielten ihn für einen Versager. Konnte dieses Kind ein arischer Mensch sein? War ihr Sohn wirklich ein Mitglied ihrer Rasse, an der ‚die Welt genesen’ sollte?

    Bei seinem Großvater spielte Jo am Liebsten. Der Opa war sehr streng und herrisch. Seine Knechte und Mägde hielten es nicht lange bei ihm aus. Er schrie sie an und verteilte sogar Ohrfeigen, wenn etwas zerbrach. Aber Jo gestattete er alles. Es gab keine Verbote. Jo durfte zu dem Kettenhund gehen und ihn streicheln, obwohl der Hund als verschlagen und aggressiv galt. Er schnappte nach den Mägden, wenn sie ihm die verdorbenen Reste der Speisen aus der Gaststätte seines Opas zuwarfen.

    „Warum stinkt denn das Essen für den Hund so?", fragte Jo eine Magd.

    „Der Köter darf nur die schimmeligen und stinkenden Reste bekommen, erwiderte sie: „Manchmal überprüft das dein Opa, damit wir für uns nichts Essbares mitnehmen.

    Einen Tag später erlebte Jo, dass der Hund furchtbar würgte und sich übergab. Aufgeregt rannte er zu seinem Großvater: „Der Hund übergibt sich. Das Essen war zu verfault!"

    Sein Opa nahm ihn an die Hand. Sie gingen schnell zum Hund. Aber der wedelte freudig mit dem Schwanz, als er Jo sah.

    „Hunde müssen sich manchmal übergeben, sagte sein Opa: „Sie brechen dann Unverdauliches oder Knochenreste aus. Das ist ganz normal.

    Jo wollte noch etwas erfahren. Er fragte: „Warum hat der Hund keinen richtigen Namen? „Wir haben doch nur einen Hund, antwortete sein Großvater geduldig: „Da kann er doch ‚Hund’ heißen und jeder weiß, was er ist."

    Jo liebte diesen Hund. Er sah aus, wie eine Mischung aus Wolf und Hundedame, bildete er sich ein. Die Größe und die scharfen, langen Zähne kamen vom Wolf; die Anhänglichkeit und das Bedürfnis nach Streicheleinheiten von der Hundedame.

    Der Hund schleppte eine lange, rostige Kette hinter sich her, wenn er von seiner Hütte bis zu den Ställen seines Opas lief. Weiter reichte die Kette nicht. Jo erlebte nie, dass der Hund gewaschen wurde. Sein Fell war schmutzig, am Körper angeklebt oder zerzaust.

    Wenn Jo traurig war, ging er zum Hund seines Großvaters. Er dachte: ‚Das ist mein Freund. Eigentlich sogar mein Vorbild: Räudig, verachtet, an einer rostigen Kette hängend, verlassen und einsam. Trotz widerlichem Geruch und ungepflegter Erscheinung aber ein Lebewesen, das regelmäßig ernährt wird. Er hat Ruhe, muss nichts tun, nur aufpassen. Alle haben Angst vor seinen Bissen. Dabei ist er nur ein lieber Wachhund’.

    Jo steckte seinen Kopf in die Hundehütte. Der Gestank trieb ihn sofort zurück. Anschließend nahm er den Hund in die Arme und streichelte ihn lange. Beide waren echte Freunde.

    Mutter

    „Solange du bei mir wohnst, hast du deine Aufgaben zu erfüllen. Ich dulde es nicht, wenn du dich weigerst die Gästezimmer zu säubern!" Streng sah Wilhelm die Frau seines ältesten Sohnes an.

    Sie saßen im Hinterzimmer seiner Gaststätte, dem Lieblingsplatz von Wilhelm. Hier konnte er durch die offene Tür die Gäste beobachten. Links neben ihm lag die Küche. Die Mägde, die das Essen servierten, mussten an ihm vorbeigehen. Er konnte einen kritischen Blick auf die Mengen der Speisen werfen. Die Fleischstücke durften nicht zu groß sein, die Suppen nur knapp den Rand der Rundung der Terrinen erreichen und die vom letzten Tag übrig gebliebenen Beilagen sollten vorrangig verkauft werden. Wenn alles stimmte und er gute Laune hatte, klopfte er den Mägden anerkennend auf den Po.

    Heute hatte er schlechte Laune. Die Frau aus der Großstadt, die sein Adoptivsohn geheiratet hatte, weigerte sich die Gästezimmer und Toiletten zu reinigen. Jetzt lächelte sie ihn auch noch unverschämt freundlich an und sagte: „Nein, Wilhelm, ich putze nicht für dich! Du hast deinem Sohn geschrieben, dass es uns bei dir in dieser Nachkriegszeit besser gehen würde, als in der zerbombten Großstadt. Du hast nichts über eine Ausnutzung als Putzfrau gesagt."

    Wilhelm konnte keinen Widerspruch ertragen. Er hob die Hand, um eine Ohrfeige auszuteilen, wie er es bei aufmüpfigen Mägden und Knechten tat. Aber er beherrschte sich, seine Hand donnerte auf den Tisch.

    „Dein Mann weigert sich, in meiner Gaststätte auszuschenken, du willst mein Hotel nicht sauber halten und eure Kinder essen mich arm!"

    „Mein Mann ist Ingenieur und verdient Geld bei Forschungsprojekten beim Staat. Wir brauchen deine Sklavenarbeit nicht. Wenn du endlich bereit bist, für das Haus neben deinem Hotel zu bürgen, ziehen meine Kinder und ich sofort um."

    Wilhelm konnte nicht verlieren. Immer war seine Kraft und Stellung als größter Hotelier im Dorf ausreichend, ihn als Gewinner aus Streitigkeiten zu bestätigen. Notfalls halfen Tricks oder verpflichtende Geschenke.

    „Wenn du fleißig bei mir arbeitest und meiner Frau bei Festen hilfst, werde ich es mir überlegen, ob ich die Bürgschaft für euer Haus unterschreibe."

    „Das hast du schon vor ein paar Monaten meinem Mann gesagt. Ich akzeptiere deine Vertröstungen nicht."

    „Lass’ das hochnäsige Geschwätz! Hier wird nichts akzeptiert, sondern gehandelt!"

    Wilhelms Stimme wurde laut. Er hasste das Geschwätz der Großstädter. Da stürmte sein Enkel herein. Er sprang auf den Schoß seines Großvaters, umarmte ihn und rief: „Opa, ich brauche dringend eine Limo!"

    Wilhelm spürte, wie das Herz seines Enkels hektisch pumpte, als er den kleinen Körper fühlte. Er stellte seinen Enkel auf den Holzboden, nahm seine Hand und ging in den Schankraum. Schnell füllte er ein großes Glas mit grüner Waldmeisterlimonade, wissend, dass es das Lieblingsgetränk seines Enkels war.

    Als er zurück in das Hinterzimmer ging, erwartete er ein triumphierendes Grinsen der Mutter seines Enkels. Aber sie weinte lautlos. Tränen tropften aus ihren Augen und liefen die Wangen herunter. Wilhelm gab ihr wortlos ein großes kariertes Taschentuch. Er setzte sich auf seinen Lieblinsstuhl. Das gab ihm Kraft. Sein Enkel hatte die Limonade sofort ausgetrunken und war verschwunden.

    „Ich sage meinen Kindern nicht, wie hart du bist. Sie sollen eine Chance haben, ihren Großvater zu lieben."

    Wilhelm antworte nicht. Eigentlich spürte er Zufriedenheit, fast Fröhlichkeit, weil sein Enkel ihn in einer Spielpause besucht hatte. Er dachte: ‚Diese Frau bringt nur Unruhe in mein Leben. Sie muss aus meinem Hotel verschwinden.’

    Laut sagte er: „Meinem Enkel zuliebe, gehe ich morgen zur Bank. Aber bis du ausziehst, will ich sauber geputzte Zimmer und Toilette von dir sehen."

    Opa

    Jo durfte auf den Schuppen seines Großvaters klettern und die daran rankenden Weintrauben pflücken und sogar in der Gaststätte den Russen ein halbes Wasserglas Wodka einschenken.

    „CTO rpaMM", riefen sie. Sein Opa lächelte freundlich und Jo bekam eine süße Limonade geschenkt. Diese Limonade war das köstlichste Getränk für Jo und andere Kinder. Sein Großvater mixte sie selber aus Wasser und Geschmacksstoffen.

    „CTO rpaMM, CTO rpaMM", sangen die Russen und gaben seinem lächelnden Großvater ihr Geld. Jo durfte nachschenken. Die Russen tätschelten seinen Kopf und berührten seine strohblonden Haare. Das gefiel Jo überhaupt nicht, aber es waren glückliche Momente für ihn, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, Waldmeisterlimonade zu trinken und – vor allem – das strikte Verbot seiner Eltern zu missachten, mit dem Russen, die in der nahen Kaserne lebten, Kontakt zu haben.

    Wenn Jo zum Abendessen nach Hause ging, war er jedes Mal überrascht, dass seine Mutter mit ihm schimpfte: „Du sollst doch nicht immer zu deinem Großvater gehen!"

    ‚Woher weiß sie das bloß’, überlegte er, nicht ahnend, dass der Geruch nach Schnaps, Bier und Zigarettenrauch in seiner Kleidung hing.

    „Halte dich von den Russen fern, sagte seine Mutter oft zu ihm: „Das sind alles schlechte Menschen, die gefährlich für Kinder sind!

    Jo erlebte die Russen anders. Ihm fiel auf, dass sie nie alleine die Kaserne verließen; mindestens zu dritt gingen sie zur Kneipe seines Opas. Sie aßen dort nie, wollten nur Wodka trinken.

    Die deutschen Gäste verspeisten die Gerichte, die von den Mägden unter Aufsicht seiner Großmutter gekocht wurden. Die Russen tranken sehr schnell ihre Gläser aus und wollten sofort nachgeschenkt bekommen.

    Eines Nachmittags erlebte Jo die Schattenseiten betrunkener Russen. Es geschah an einem Sonntag. Den ganzen Tag regnete es. Der übliche Spaziergang fiel zum großen Bedauern seiner Eltern aus.

    „Ich gehe zu Kaminski", log Jo und besuchte seinen Opa. Erst spielte er mit dem Hund, aber der wollte immer wieder zurück in seine stinkende Hütte. Jo betrat die Gaststube. Drei Russen sangen sehr laut und johlten dazwischen unverständliche Worte. Als sein Opa ihn sah, griff er sofort zum Telefon. Er wählte eine kurze Nummer, sagte höchstens zwei Sätze und legte wieder auf. Jo starrte die Russen an.

    „Sind die betrunken?", fragte er.

    „Ja, und sie können nicht mehr bezahlen, antwortete sein Opa: „Hier, nimm dir eine Limonade.

    Er reichte Jo ein leeres Glas. Jo ging zur Theke und zapfte sich die geliebte Waldmeisterlimonade.

    „Erschrick nicht, warnte ihn sein Großvater, „gleich siehst du, was mit Menschen geschehen kann, die zu viel Alkohol trinken.

    Jo wollte nachfragen. Aber die Tür flog krachend auf und fünf andere Russen stürmten in die Gaststätte. Wortlos schlugen sie mit dicken Knüppeln nach den Betrunkenen, die sofort hinaus rannten. Jo lief zum Fenster. Er sah, wie die drei Betrunkenen einem schnell fahrenden Lastwagen in Richtung Kaserne nachrannten.

    „Wenn sie nicht gleichzeitig mit dem Lastwagen am Tor ankommen, müssen sie in das Gefängnis", erklärte ihm sein Opa.

    Seitdem hatte Jo keine Angst mehr vor den Russen. Er brauchte nur seinem Großvater sagen, er solle die Telefonnummer anrufen, die Russen in das Gefängnis steckt.

    Zur Gaststätte von Jos Großvater gehörten ein Hotel, dessen Zimmer nicht vermietet wurden, eine Kegelbahn, in der Jo manchmal die Kegel für die Gäste aufstellen durfte, und ein großer Saal für Festreden, Theater und Kinovorführungen.

    Im Saal wurden auch Kinderopern aufgeführt. Jo durfte, als er acht Jahre alt war, mit Zustimmung seiner Eltern „Humperdincks Hänsel und Gretel’ sehen. Die Oper beeindruckte Jo nachhaltig. Er konnte mehrere Nächte schlecht einschlafen und träumte dann von den Riesen.

    Er berichtete davon seinem Großvater.

    „Komm, Junge, sagte sein Opa und ging mit ihm hinter die Bühne des Saales. Er zeigte ihm lange Holzstelzen, die an einer Wand standen. „Nimm zwei und steige hinauf, sagte er ruhig: „Ich halte die Stelzen fest."

    Jo vertraute seinem Opa. Er stieg auf die Holzstufe der Stelzen, die sein Großvater festhielt. Plötzlich konnte er von oben die Glatze seines Opas sehen.

    „Siehst du, das machen die Riesen in der Oper genauso wie du jetzt, erklärte sein Opa: „Sie ziehen nur noch bodenlange Hosen über die Stelzen. Es sind Menschen wie du und ich!

    Jo herunter helfend ergänzte er: „Kunst ist wie Politik. Glaube nie, was dir vorgegaukelt wird."

    Heimlich sah Jo den Katastrophen-Film ‚Der Untergang von San Fransisco’ im Saal seines Opas. Seine Eltern waren verreist und das Hausmädchen krank. Jo und seine Schwester durften bei den Großeltern übernachten.

    Obwohl es ein Erwachsenenfilm war, der ‚symbolisch die Verletzlichkeit Amerikas’ zeigte, gab sein Opa das Einverständnis, Jo durfte zur Schlafenszeit neben ihm den Film anschauen.

    Die Darstellungen auf der Kinoleinwand erschreckten Jo. Riesige Erdspalten öffneten sich und verschlangen Menschen, Gebäude stürzten in sich zusammen und es brannte überall. Es war ein Stummfilm und der Klavierspieler im Hintergrund ließ schaurige und schrille Melodien erklingen. Jo konnte nicht schlafen.

    Morgens um vier Uhr weckte er seinen Großvater: „Der Film war so schrecklich. Ich habe Angst", gestand er.

    Etwas murrend verließ sein Opa das warme Bett, zog sich einen Morgenmantel über und ging zu einer Kommode. Er nahm eine große Lupe aus einer der vielen Schubladen und überreichte sie Jo.

    „Lass’ uns auf den Flur gehen, sonst wecken wir deine Oma."

    Draußen ermunterte er Jo: „Schau mal mit der Lupe in eine Spalte zwischen die Bodenbretter. Nicht zu nahe. Siehst du, wie die Spalte groß und breit wird?"

    Jo nickte stumm.

    „Kannst du dir jetzt vorstellen, warum es in dem Film diese breiten Erdspalten gab?"

    Jo verstand es etwas und gab seinem Opa die Lupe zurück.

    „Aber warum sind so viele Menschen verbrannt?"

    Der Großvater überlegte. Schließlich antwortete er: „Jo, Menschen müssen sterben. Am Schlimmsten sind die von ihnen selbst verursachten Katastrophen: Kriege und Hungersnöte. Mein zweiter Sohn, der Bruder deines Vaters, ist immer noch in Sibirien, weil er Koch in der Armee sein musste. Aber es gibt auch Naturereignisse, die zum Tod von Menschen führen. Davon bekomme ich auch Angst. Wir müssen damit fertig werden."

    Jo erwartete, dass sein Großvater weiter redete, aber überrascht hörte er: „Ich muss jetzt in mein Bett, Jo. Es ist Mitten in der Nacht. Du musst auch versuchen, noch ein bisschen zu schlafen."

    Damit drehte er sich um, verharrte einen Augenblick und gab Jo seine große Lupe.

    „Behalte sie. Schaue dir Morgen Ameisen und Käfer damit an. Dann wirst du die Tricks der Filmemacher besser verstehen."

    Jos Freunde beneideten ihn am nächsten Tag um seine riesige Lupe.

    „Weißt du, dass unser Opa früher zur See gefahren ist?", fragte seine Schwester.

    „Woher willst du das wissen", entgegnete Jo.

    „Oma hat das vorhin erzählt, als ich ihr in der Küche geholfen habe". Stolz schwang in der Stimme seiner Schwester.

    „Ach, du und Oma – wer hört da schon drauf!". Überheblich sollte das klingen.

    „Ist aber wahr", rief seine Schwester ihm triumphierend nach. Endlich hatte sie etwas erfahren, dass Jo von seinem Großvater noch nicht wusste.

    „Opa, stimmt es, dass du auf einem Schiff über die Meere gefahren bist?". Jo rannte sofort zu seinem Großvater.

    „Ja, als ich ein junger Mann war."

    „Warum hast du das nie erzählt? Das muss doch aufregend gewesen sein!"

    „Nein, behauptete sein Großvater: „Es war die schwerste Zeit in meinem Leben.

    Als er sah, dass sein Enkel ihn nur ratlos anstarrte, nahm er ihn an die Hand und ging auf den Dachboden. Er suchte lange in den vielen Kisten und Kartons. Dann fand er ein altes Fotoalbum.

    „Wusste doch, dass es noch irgendwo ist", murmelte er leise. Dann ging er mit Jo zurück in seine Wohnung.

    Andächtig betrachteten Jo und sein Großvater die alten, schwarz-weißen Fotos mit gezacktem Rand. Am Anfang sahen sie sogar braune, fast nicht erkennbare Fotos. Alle zeigten Personen, die Jo nicht kannte. Sorgfältig klebten sie in dem verstaubten Album. Erklärende Beschriftungen gab es nicht.

    Jo saß dicht neben seinem Opa. Er betrachtete andächtig Fotos mit ihm unbekannten Personen und Landschaften. Doch die Erklärungen seines Großvaters kamen immer öfter: „Das sind meine Eltern und Geschwister", sagte er zu einem braunen Gruppenbild. Dann blätterte er recht schnell weiter. Schließlich fand er die Bilder, die er seinem Enkel zeigen wollte.

    „Sieh’ mal, das ist ein Bild von einem Schiff, auf dem ich gearbeitet habe!"

    Jo sah einen Dampfer mit Segeln.

    „Warum hat das Schiff denn Segel?", wollte er wissen.

    „Als ich jung war, sahen die meisten Schiffe so aus. Die Dampfmaschine wurde nur angeworfen, wenn der Wind zu schwach oder ungünstig kam."

    „Und du warst der Kapitän auf dem Schiff!". Jo sah seinen Opa bewundernd an.

    „Nein!, verbesserte sein Großvater sofort: „Ich war Koch. Den ganzen Tag musste ich unter Deck Kartoffeln schälen, Gemüse kochen und gepökeltes Fleisch schmackhaft machen. Morgens, mittags und abends – immer zwei Gänge: Einen für die Offiziere, den zweiten für die Mannschaft.

    Jo verstand seinen Opa nicht. Aber er fragte nicht, was ‚unter Deck oder pökeln’ bedeutete. Er lehnte sich an seinen Großvater, der das Fotoalbum auf seinem Schoß hielt. Beide saßen auf der großen, alten Couch. Es war eine intime, schöne Stimmung.

    Als sein Großvater nicht weiter redete, sah er nach oben. Er blickte in die Augen seines Opas. Nachdenklich sah ihn sein Großvater an: Freundlich, aber selbstkritisch. Er überlegte, ob er seinem Enkel, dieses Bild von sich vermitteln sollte. Ehrlich wäre es gewesen, zu erzählen, wie schwer es damals die Seeleute hatten. Aber er musste auch bedenken, dass sein Enkel ihn sehr gerne hatte und auf seinen Vater, durch dessen geheime Arbeit am Müritzsee, verzichten musste.

    „Sieh’ mal hier. Schnell blätterte der Opa die Seiten seines alten Albums um, bis er ein Foto gefunden hatte: „Das war in Südamerika. Das Ende einer Revolution.

    Jo erkannte auf dem Bild eine lange Straße, an deren Laternen gehängte Menschen an Seilen baumelten. Er wendete sofort den Blick ab. Diesen Anblick konnte er nicht ertragen.

    „Na ja, die Großväter haben immer schrecklicheres erlebt, als die Enkel, damit schlug sein Opa das Album zu und stand auf. Leise ergänzte er: „Und das ist sehr gut.

    Abends erzählte Jo seiner Schwester stolz von dem Bild mit den Gehängten, das ihm sein Großvater gezeigt hatte. Seinen Sieg über sie, konnte er nicht verheimlichen.

    Der Opa von Jo war sehr dick. Er hatte einen riesigen, großen Bauch. Das fiel Jo aber erst auf, als er ihn fast nackt sah.

    Wieder ein langweiliger Nachmittag mit Regen und Sturm. Jo ging zu seinem Opa. Er wollte nähere Einzelheiten über die Gehängten in Südamerika wissen. Aber er fand ihn in dem großen Hotel nicht. Jo wusste, er durfte ohne zu fragen jeden Raum im Haus betreten. Einmal wollte ihn ein Knecht aus dem Weinkeller vertreiben. Sein Opa entließ ihn sofort. Seitdem wagte nicht einmal seine Großmutter, Jo aus der ‚geheiligten’ Räucherkammer, in der die leckeren Würste hingen, zu vertreiben. Sie drohte ihm nur mit einem Finger, wenn er ab und zu eine Wurst mitnahm.

    Jo klapperte jeden Raum ab und rief ‚Opa’. Auf dem Dachboden, in dem die Zimmer der Mägde und Knechte lagen, öffnete er eine der vielen Türen. Jo fragte: „Opa?"

    Der Schrei einer Frau antworte ihm.

    Jo ging hinein. Er sah eine Magd auf seinem Opa sitzen. Der lag auf dem Rücken. Jo sah einen riesigen Bauch, der zu seinem Großvater gehörte.

    „Jo, wartest du bitte draußen? Ich bin in einer Minute bei dir, sagte sein Opa. Jo verließ den Raum. Er hörte seinen Großvater flüstern: „Und du, gehe sofort wieder an deine Arbeit. Aber sei umsichtig, mein Enkel steht draußen.

    „Es war schön mit der Magd, sagte ihm sein Großvater eine Minute später auf dem Flur: „Aber das wirst du erst in einigen Jahren verstehen. Habe ich dich erschreckt?

    „Nein, Opa, ich wusste nur nicht, dass du so einen großen Bauch hast", gestand Jo. Sein Großvater lachte plötzlich. Er musste sich dabei seinen Bauch halten.

    Am nächsten Morgen in der Schulpause konnte Jo seinen Kameraden endlich die Frage beantworten, wie Kinder gemacht werden.

    „Die Frau muss auf dem Mann sitzen", war die Lösung des Rätsels.

    Egon

    Bei schlechtem Wetter ging Jo oft mit seinem Freund Egon auf den großen, mit altem Gerümpel vollgestellten Dachboden des Saales seines Großvaters. Hier tobten sie herum, spielten ‚Verstecken’, ‚Räuber und Volkspolizist’ und verkleideten sich als Vampire oder Henker. Die nötigen Requisiten lagen überall herum.

    Das änderte sich erst, als Egon beim Versuch ein neues Versteck zu finden durch ein Belüftungsloch in den darunter liegenden Saal fiel. Wie durch ein Wunder, zog er sich nur ein paar blaue Flecke zu.

    Seine Eltern schimpften mit Jo, er solle nicht immer zu seinem Großvater gehen und – wie schon so oft gesagt – sei das Spielen mit Egon streng verboten. Egon wäre bekanntlich das Kind von den ‚Läuse-Lehmanns’.

    Dabei war Egon ein Vorbild von Jo. Egon bekam bessere Noten in der Schule, obwohl sein Vater in dem Ausbesserungswerk der Kleinbahn arbeitete und sein Vater als Ingenieur mit der Erprobung von geklebten Tragflächenbooten beschäftigt war, was Jo eigentlich nicht wissen durfte. Egons Vater kam jeden Abend nach Hause. Jos Vater höchstens alle vierzehn Tage übers Wochenende.

    Wie alle Kinder verübten Egon und Jo Streiche. Eines Tages besuchten sie ‚Tante Trude’, eine Schwester von Jos Opa. Sie steckten unbemerkt ihre Katze in einen mitgebrachten Sack.

    „Jetzt binden wir ihr einige leere Dosen an den Schwanz", schlug Egon vor. Das war nicht leicht, aber als Jo die Katze streichelte, gelang es. Die Katze raste wie ein Derwisch über das Kopfsteinpflaster. Der Höllenkrach der scheppernden Dosen an ihrem Schwanz trieb sie zu einem Wahnsinnslauf. Egon und Jo johlten vor Freude. Sie holten die erschöpfte Katze erst in dem stillgelegten Sandbergwerk ein. Hier kauerte sie ängstlich in einer Ecke.

    Die Katze wollte weglaufen, als sie Egon auf sich zukommen sah. Jo hielt seinen Freund zurück und ging langsam zu ihr. Ihn kannte die Katze von den vielen Besuchen bei seiner Tante. Er hockte sich neben sie, streichelte ihr den Rücken und kraulte sie hinter den Ohren. Vorsichtig entfernte er die Dosen von ihrem Schwanz. Dann warf er sie wieder in den geöffneten Sack, den Egon bereithielt.

    Auf dem Weg zur ‚alten Elbe’ fanden sie einen großen Stein. Sie steckten ihn zu der regungslos verharrenden Katze in den Sack.

    „Nach dem Krach, den sie aushalten musste, wird ihr ein Bad gut tun", beschlossen beide. Mit Schwung warfen sie den Sack in das Wasser der Elbe.

    Dann sahen sie sich beide an und sprangen fast gleichzeitig in das Wasser.

    „Tante Trude wäre zu traurig", sagte Jo. Sie versteckten den Sack mit der zappelnden Katze unter einem Gebüsch.

    Einen Tag später gab ihnen Tante Trude Geld, damit sie Albert, ihre entlaufene Katze suchten. Egon und Jo gingen zur Elbe. Sie tranken von dem Geld eine Waldmeisterlimonade in der Gaststätte. Sie lachten, sie wollten nie so dumm sein, wie alte Menschen.

    „Jo, sagte sein Großvater am nächsten Morgen, „das habt ihr gut gemacht!

    „Was denn?"

    „Ihr habt meiner Schwester die Katze zurück gebracht. Aber von dem Geld müsst ihr etwas für sie kaufen!"

    „Wir haben das Geld schon für Limonade ausgegeben", gestand Jo.

    Sein Opa überlegte, dann sagt er laut: „Blumen sind das Beste für meine Schwester. Nimm dein Taschenmesser und schneide einen bunten Blumenstrauß, aber nicht zu klein, sonst freut sie sich nicht richtig!"

    „Aber meine Mama schimpft mit mir, wenn ich ihre Blumen abschneide", entgegnete Jo.

    „Dann gehe in einen anderen Garten". Jo sah wie sein Großvater auf sein eigenes Blumenfeld zeigte.

    Jo hatte eine ältere Schwester. Eigentlich zwei, aber die eine wurde ihm als Tochter seiner Oma erklärt. Das erfuhr er aber sehr viel später.

    Seine Schwester spielte fast nie mit ihm. Sie war über ein Jahr älter. Wenn sie ihn zum Spielen aufforderte, gab es immer Probleme.

    „Wir wollen ‚Onkel Doktor’ spielen", sagte sie eines Tages. Ihre Freundin Mechthild nickte ihm freundlich zu.

    Jo interessierte dieses Thema. Er willigte ein. Zwei Stunden später beschimpften ihn beide Mädchen heftig: „Mit dir spielen wir nie, nie wieder. Du bist ein jämmerlicher Verräter!"

    „Ich schäme mich, dich zum Bruder zu haben", ergänzte seine Schwester vernichtend.

    Dabei hatte Jo nur seiner Mutter gestanden, dass sein Po juckte. Seine Schwester und ihre Freundin hatten ihm ständig neue Holzstöcke in den Po gesteckt.

    „Mein Junge, fing Jos Vater an einem Sonntagmorgen nach dem obligatorischen, langweiligen Kirchgang an, „deine Mutter hat mir gesagt, dass du deinen Opa sehr gerne hast, und er dir alles erlaubt. Wir sind darüber sehr unglücklich!

    Jo wäre gerne zur Sandkuhle gegangen. Egon wartete bestimmt schon auf ihn. Er hasste diese Gespräche mit seinem Vater, der nur alle vierzehn Tage übers Wochenende kam und keine Ahnung von dem Geschehen in Jos Welt hatte.

    „Dein Großvater ist nicht dein

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1