Fröhlich, frech und unbeschwert: Mami 1978 – Familienroman
Von Bettina Clausen
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»Weißt du, was ich heute nacht geträumt habe, Oma?« Natürlich wußte Luise es nicht. Aber Annika, ihre Enkelin, liebte es, so die Aufmerksamkeit ihrer Großmutter auf sich zu ziehen und ihre Traumgeschichten auch möglichst spannend und haarklein zu erzählen. Den Kopf auf die Hand gestützt, rückte sie ihre Spielfigur fünf Felder weiter. »Was hast du denn geträumt? Wieder so ein verrücktes Zeug wie letztens?« Annika war sichtlich erfreut, daß ihre Großmutter sie fragte, obgleich sie es ihr auch erzählt hätte, wenn sie nicht gefragt hätte. »Also, ich habe geträumt, ich säße in meinem Zimmer. Auf einmal hörte ich so merkwürdige Geräusche aus dem Bad. Vorsichtig schlich ich an die Badezimmertür und schaute hinein.« Jetzt sprach sie wieder ohne Punkt und Komma, so wie sie es immer tat, wenn sie aufgeregt war. »Da habe ich gesehen, wie kleine Zwerge in der Badewanne Flick-Flack übten! Die hatten die gleichen Hüte auf wie die vom Hütchenspiel.« Luise brachte eine ihrer Spielfiguren im Haus in Sicherheit. »Wir sollten nicht so oft ›Mensch ärgere Dich nicht‹ spielen. Es scheint dich zu sehr zu belasten«, witzelte Luise. Annika schaute mit bösem Blick, was schon fast zum Fürchten aussah, da sie sowieso schon große ausdrucksstarke braune Augen hatte. »Zu eurer Zeit war ›Mensch ärgere Dich nicht‹ oder ›Hütchen‹ bestimmt ein aufregendes Spiel, liebe Oma, aber die heutige Jugend ist da doch ganz anderes gewöhnt.« Sie setzte eine mitleidig überlegene Miene auf und sah in das ihr sehr ähnliche, nur fünfzig Jahre ältere Gesicht der Großmutter, welche den Blick erwiderte und Annikas Spielfigur vom Brett fegte, ohne mit der Wimper zu zucken.
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Buchvorschau
Fröhlich, frech und unbeschwert - Bettina Clausen
Mami
– 1978 –
Fröhlich, frech und unbeschwert
Annika hat einen Traum
Bettina Clausen
»Weißt du, was ich heute nacht geträumt habe, Oma?«
Natürlich wußte Luise es nicht. Aber Annika, ihre Enkelin, liebte es, so die Aufmerksamkeit ihrer Großmutter auf sich zu ziehen und ihre Traumgeschichten auch möglichst spannend und haarklein zu erzählen.
Den Kopf auf die Hand gestützt, rückte sie ihre Spielfigur fünf Felder weiter.
»Was hast du denn geträumt? Wieder so ein verrücktes Zeug wie letztens?«
Annika war sichtlich erfreut, daß ihre Großmutter sie fragte, obgleich sie es ihr auch erzählt hätte, wenn sie nicht gefragt hätte.
»Also, ich habe geträumt, ich säße in meinem Zimmer. Auf einmal hörte ich so merkwürdige Geräusche aus dem Bad. Vorsichtig schlich ich an die Badezimmertür und schaute hinein.« Jetzt sprach sie wieder ohne Punkt und Komma, so wie sie es immer tat, wenn sie aufgeregt war.
»Da habe ich gesehen, wie kleine Zwerge in der Badewanne Flick-Flack übten! Die hatten die gleichen Hüte auf wie die vom Hütchenspiel.«
Luise brachte eine ihrer Spielfiguren im Haus in Sicherheit.
»Wir sollten nicht so oft ›Mensch ärgere Dich nicht‹ spielen. Es scheint dich zu sehr zu belasten«, witzelte Luise.
Annika schaute mit bösem Blick, was schon fast zum Fürchten aussah, da sie sowieso schon große ausdrucksstarke braune Augen hatte.
»Zu eurer Zeit war ›Mensch ärgere Dich nicht‹ oder ›Hütchen‹ bestimmt ein aufregendes Spiel, liebe Oma, aber die heutige Jugend ist da doch ganz anderes gewöhnt.« Sie setzte eine mitleidig überlegene Miene auf und sah in das ihr sehr ähnliche, nur fünfzig Jahre ältere Gesicht der Großmutter, welche den Blick erwiderte und Annikas Spielfigur vom Brett fegte, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ich hoffe, ich bereite dir keine Alpträume, aber ich fürchte, ich habe schon fast gewonnen.«
»Du bist ja auch viel älter als ich«, jammerte Annika mit gespielt kindlichem Ton. Beide fingen herzlich an zu lachen. Genau diesen Satz hatte Annika als Kleinkind immer als Rechtfertigung benutzt, wenn sie im Spiel verloren hatte. Nun mußte sie selbst darüber lachen, da sie mit zehn Jahren natürlich besser Bescheid wußte. Zudem war sie ein sehr intelligentes, keckes Kind, das vielleicht zur Altklugheit geneigt hätte, wäre ihr nicht wirklich schon einmal die traurige Seite des Lebens begegnet.
»Ich mach mir einen Kaffee, möchtest du Kakao?«
»Lieber Zitronentee, wenn du hast.«
Natürlich hatte Luise einen. Sie war berühmt für ihre Gastfreundschaft und Fürsorge, insbesondere ihrem einzigen Enkelkind gegenüber. Sie war überhaupt die perfekte Oma, ohne daß sie sich dafür anstrengen mußte. Luise und Annika waren aus dem gleichen Holz geschnitzt. Sie sprühten nur so vor Lebenslust und Optimismus, was beiden allerdings auch häufiger schon bei allzu zart besaiteten Mitmenschen Ärger eingebracht hatte. Da beide ihr Herz auf der Zunge trugen, fiel es ihnen manchmal schwer, im entscheidenden Moment besser zu schweigen. Annika brachte dies einigen Ärger mit ihrer Mutter und ihren Lehrern ein, und Luise mit ihrem Mann. Seit ihr Mann allerdings vor sechs Jahren gestorben war, brauchte sie keine Rücksicht mehr zu nehmen, und so entwickelte sie sich zu einer sehr selbstbewußten, fast schon ein bißchen schrägen Frau. Meist trug sie Jeans und ziemlich ausgefallene selbstgestrickte Pullover, in denen sie, auch aufgrund ihrer schlanken Figur, noch sehr jung aussah.
»Wann mußt du denn nach Hause?« fragte Luise und stellte das Tablett ab.
»Jetzt gleich. Ich muß noch Hausaufgaben machen.«
»Läuft in der Schule alles nach Plan?«
»Ja klar«, erwiderte Annika, die schon immer gern zur Schule gegangen war. Sie plauderten noch eine Weile über die Schule und Annikas Freunde. Luise fand es immer sehr spannend zu hören, wie die Kinder heute lebten und was sie für Sorgen hatten. Waren ihre eigenen Sorgen als Kind, durch die Nachkriegszeit geprägt, doch ganz andere gewesen.
»Nadine, ein Mädchen aus meiner Klasse, hat heute in der Schule geheult, weil sie in Mathe eine Zwei geschrieben hat.«
»Wollte sie lieber eine Eins?«
»Ja, schon, sie schreibt sehr oft Einsen, weil sie den ganzen Tag lernen muß. Einmal durfte sie sogar nicht auf meinen Geburtstag, weil zwei Tage später eine Schulaufgabe anstand.«
»Ach du meine Güte! Das ist ja schlimmer, als morgens um sechs die Kühe zu melken.«
»Ich finde, sie hat es trotzdem gut«, meinte Annika.
»Ja, wieso das denn?« fragte Luise bestürzt.
»Sie hat ein eigenes Pferd!« Damit war für Annika alles gesagt. Nun bekam sie wieder diesen schwärmerischen Ausdruck in den Augen, der jedem nur zu gut bekannt war, der sie kannte.
»Du und deine Pferde.« Mehr wußte Luise dazu auch nicht mehr zu sagen, da der Fall klar auf der Hand lag. Annikas Mutter, welche allein für sie sorgen mußte, konnte ihr kein Pferd kaufen, ja, nicht einmal Reitstunden bezahlen. Ein paarmal war Annika reiten gewesen, das blieben aber Ausnahmen. Auch Luises Einkommen war einfach zu gering, um dieses teure Hobby zu finanzieren.
»Ich muß jetzt gehen. Mami kommt bestimmt bald. Ich habe noch eine kleine Überraschung für sie.«
»Mach’s gut, mein Schatz. Und gib nicht auf, für alles findet sich irgendwann eine Lösung.«
»Ja, wenn ich alt und grau bin!« Beide lachten, und Annika gab ihrer Oma noch ein Küßchen, um sich dann auf den Heimweg zu begeben.
*
»Frau Jordan, bitte ins Büro, Frau Jordan, bitte!« Zum fünften Mal an diesem Tag ließ man sie ausrufen. Monika sackte in sich zusammen. Mechanisch stellte sie die Palette Joghurt ab und begab sich zum Büro des Marktleiters. Sie betrat den verqualmten Raum.
»Was gibt’s denn?« fragte sie mit müder Stimme.
»Ist die Lieferung von Milchgut inzwischen eingegangen?« wollte Stefan wissen, der Marktleiter des Supermarktes war und gleichzeitig seit fast zwei Jahren ihr Lebensgefährte.
»Ja, vor einer halben Stunde, ich hatte nur noch keine Zeit, die Ware auszuräumen.«
»Dann sollte es jetzt gleich geschehen, immerhin ist es Kühlware«, sagte Stefan.
»Ja, sicher«, murmelte Monika und verließ den Raum. Heute war ihr nicht nach Diskussionen zumute. In Gedanken freute sie sich auf einen ruhigen Abend, und nach dem langen Tag hatte sie nur noch den Wunsch, ihre Füße hochzulegen.
Nachdem alle Arbeit erledigt und längst alle Kunden gegangen waren, hatten auch endlich die Mitarbeiter Feierabend. Monika atmete tief durch und suchte Stefan. Sie betrat das Büro und betrachtete ihren Lebensgefährten von der Seite.
»Wollen wir?« fragte sie.
»Sofort. Ich fülle noch schnell das Formular aus.«
»Kannst du das nicht vielleicht morgen erledigen? Annika wartet doch auf uns.«
»Ich bin schon fertig. Was gibt’s denn heute abend Gutes zu essen?«
»Mal schauen, was der Kühlschrank so hergibt!« war ihre lässige Antwort. Stefan verzog das Gesicht.
»Was Warmes wäre mir wirklich lieber.«
Endlich verließen sie den Supermarkt, und Monika ließ sich erschöpft in den Autositz fallen. Sie mochte die langen Tage überhaupt nicht. Da das Leben aber nicht umsonst war, mußte sie zweimal die Woche bis abends arbeiten, ansonsten hatte sie schon mittags Schluß und konnte sich um ihre Tochter Annika kümmern. Vor der Geburt ihrer Tochter war sie Landschaftsgärtnerin gewesen. Sie liebte ihren Beruf in der freien Natur sehr. Doch seit ihr Mann gestorben war, war alles anders.
»Hallo, Mausi! Wir sind wieder da!« rief Monika in den leeren Flur.
»Hallo, Mami!«