Endlich fröhliche Kinder: Mami 1874 – Familienroman
Von Anna Sonngarten
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Über dieses E-Book
Marleen Gerlinger hatte heute ihre dritte Nachtwache in Folge. Allein in dieser Nacht waren bereits zwei Babys mit ihrer Unterstützung auf die Welt gekommen, und gerade erst hatte sie einer erschöpften, aber überglücklichen Mutter ihr kleines Baby in die Arme legen können.
Marleen Gerlinger war seit vielen Jahren Hebamme, aber dies war immer wieder der schönste Augenblick in ihrem Beruf. Ein Moment, der ihr auch heute noch die Tränen der Rührung in die Augen treiben konnte. Die letzte Geburt war leicht und problemlos verlaufen, und die frischgebackenen Eltern wollten jetzt mit sich und dem neuen Erdenbürger allein bleiben, so daß sich Marleen ins Hebammenzimmer zurückziehen konnte. Sie wollte gerade eine Tasse Tee trinken und ein wenig ausruhen, doch daraus schien vorerst nichts zu werden, denn an der Eingangstür zum Kreißsaal läutete unverkennbar die Nachtklingel. In Erwartung einer weiteren werdenden Mutter öffnete sie die Tür. Doch zu ihrem Erstaunen erblickte sie zwei uniformierte Polizeibeamte.
»Guten Morgen«, sagte der ältere der beiden Beamten, nachdem er sich mit einem knappen Blick auf seine Armbanduhr über die Tageszeit Gewißheit verschafft hatte. Es war drei Uhr in der Nacht.
»Sind Sie die Hebamme Marleen Gerlinger?« fuhr der Beamte fort.
»Ja, das ist richtig. Wollen Sie zu mir?«
Marleen Gerlinger glaubte an einen Irrtum. Was wollte die Polizei im Kreißsaal und dazu noch mitten in der Nacht?
»Ja, Frau Gerlinger. Es handelt sich um Ihren Sohn.«
Marleen mußte sich an der Tür festhalten, um nicht in sich zusammenzusacken. Sie hatte weiche Knie, und in ihrem Kopf rasten die Gedanken.
»Ich… ich verstehe nicht«, brachte
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Buchvorschau
Endlich fröhliche Kinder - Anna Sonngarten
Mami –1874–
Endlich fröhliche Kinder
Für Lucas und Julia ist eine schlimme Zeit vorbei
Anna Sonngarten
Marleen Gerlinger hatte heute ihre dritte Nachtwache in Folge. Allein in dieser Nacht waren bereits zwei Babys mit ihrer Unterstützung auf die Welt gekommen, und gerade erst hatte sie einer erschöpften, aber überglücklichen Mutter ihr kleines Baby in die Arme legen können.
Marleen Gerlinger war seit vielen Jahren Hebamme, aber dies war immer wieder der schönste Augenblick in ihrem Beruf. Ein Moment, der ihr auch heute noch die Tränen der Rührung in die Augen treiben konnte. Die letzte Geburt war leicht und problemlos verlaufen, und die frischgebackenen Eltern wollten jetzt mit sich und dem neuen Erdenbürger allein bleiben, so daß sich Marleen ins Hebammenzimmer zurückziehen konnte. Sie wollte gerade eine Tasse Tee trinken und ein wenig ausruhen, doch daraus schien vorerst nichts zu werden, denn an der Eingangstür zum Kreißsaal läutete unverkennbar die Nachtklingel. In Erwartung einer weiteren werdenden Mutter öffnete sie die Tür. Doch zu ihrem Erstaunen erblickte sie zwei uniformierte Polizeibeamte.
»Guten Morgen«, sagte der ältere der beiden Beamten, nachdem er sich mit einem knappen Blick auf seine Armbanduhr über die Tageszeit Gewißheit verschafft hatte. Es war drei Uhr in der Nacht.
»Sind Sie die Hebamme Marleen Gerlinger?« fuhr der Beamte fort.
»Ja, das ist richtig. Wollen Sie zu mir?«
Marleen Gerlinger glaubte an einen Irrtum. Was wollte die Polizei im Kreißsaal und dazu noch mitten in der Nacht?
»Ja, Frau Gerlinger. Es handelt sich um Ihren Sohn.«
Marleen mußte sich an der Tür festhalten, um nicht in sich zusammenzusacken. Sie hatte weiche Knie, und in ihrem Kopf rasten die Gedanken.
»Ich… ich verstehe nicht«, brachte sie mühsam hervor.
Der jüngere der beiden Polizeibeamten nahm ihren Arm und stützte sie. »Sie brauchen sich keine unnötigen Sorgen zu machen, Frau Gerlinger. Ihrem Jungen geht es den Umständen entsprechend gut. Er liegt hier im St. Elisabeth Krankenhaus auf der Kinderstation.«
Seine Worte sollten Marleen beruhigen, doch sie erreichten das Gegenteil. »Was! Das kann doch nicht sein… er sollte doch im Bett liegen… zu Hause«, rief Marleen außer sich.
»Ja, wenn die lieben Kleinen immer das täten, was sie sollten«, sagte der ältere Polizeibeamte und fuhr in einem ernsthafteren Ton fort: »Lucas ist mit vermutlich zwei anderen Jugendlichen dabei erwischt worden, wie er in ein Kaufhaus einbrechen wollte. Der Nachtwächter hat die drei aufgeschreckt. Bei der Flucht ist Lucas von einer Mauer gestürzt, über die er entkommen wollte. Was die Diagnose betrifft, müssen Sie mit dem Arzt sprechen. Wir sind nur hier, um Sie über diesen Vorfall und über mögliche Konsequenzen zu unterrichten.«
»Konsequenzen«, wiederholte Marleen tonlos. Sie hatte sich mittlerweile auf einen Stuhl gesetzt und blickte starr vor sich hin. Sie konnte die Informationen der Polizisten nicht richtig aufnehmen. Aus ihrem schönen Gesicht war sämtliche Farbe gewichen. Die großen blauen Augen hatten einen unnatürlichen Glanz. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus dem blonden, zu einem langen Zopf geflochtenen Haar gelöst hatte. Der jüngere Beamte ergriff wieder das Wort. Ihm tat die junge Frau leid. Was für eine Nachricht! Anstatt daß ihr Sprößling, wie sie glaubte, friedlich schlafend im Bett lag, während sie arbeitete, trieb er sich draußen herum.
»Frau Gerlinger, Sie können doch auf der Kinderstation anrufen und sich nach Lucas’ Befinden erkundigen. Wie ich die Lage einschätze, können Sie jetzt sowieso hier nicht weg. Heute nachmittag kommen Sie dann bei uns im Präsidium vorbei, und wir sprechen über die Angelegenheit.«
»Was ist denn mit dem Vater von Lucas?« wollte der ältere Polizeibeamte wissen.
»Lucas hat natürlich einen Vater, aber ich erziehe Lucas allein. Wir sind schon seit Jahren getrennt.«
»Na, von Erziehung kann man ja kaum sprechen, wenn ein Elfjähriger nachts allein auf der Straße herumlaufen darf«, sagte der Beamte. Sein jüngerer Kollege warf ihm einen strafenden Blick zu.
Marleen blickte kurz zu den Beamten auf. Als alleinerziehende Mutter hatte sie schon häufiger Kritik zu hören bekommen, dabei tat sie ihr Bestes, um Lucas den Mangel eines richtigen Familienlebens zu ersetzen, aber es war sehr schwer. Den Beweis ihrer Unfähigkeit schien Lucas gerade erbracht zu haben. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Dann schien sie sich plötzlich wieder gefangen zu haben.
»Sie können mir im Augenblick nicht weiterhelfen, ich werde mich heute nachmittag mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte sie tonlos, stand auf und ging zum Telefon. Die Nummer der Kinderstation kannte sie auswendig.
»St. Elisabeth Krankenhaus, Schwester Ruth«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Hallo, hier ist Schwester Marleen aus dem Kreißsaal. Ich habe gehört, daß mein Sohn bei euch liegt.«
»Ach, Sie sind es, Marleen. Ich habe gehört, daß es sich bei dem Jungen um das Kind einer Kollegin handeln soll. Aber an Sie habe ich nicht gedacht.«
Marleen hatte keine große Lust, mit der Kollegin von der Kinderstation zu plaudern. Deshalb fragte sie knapp. »Wie geht es Lucas?«
»Also, dem Lucas geht es einigermaßen. Er hat eine Radiusfraktur rechts, einige Hautabschürfungen, ein großes Hämatom auf der Stirn und leider eine leichte Gehirnerschütterung.«
Marleen stieß hörbar einen Seufzer aus, doch es war kein Seufzer der Erleichterung, sondern eher Ausdruck absoluter Ratlosigkeit.
»Ruth, ich habe zur Zeit selbst Nachtwache. Ich bin frühestens in drei Stunden bei Lucas. Können Sie ihm das irgendwie begreiflich machen?«
»Er schläft jetzt. Vielleicht sind Sie ja bereits da, wenn er aufwacht. Ansonsten werden wir es ihm schon erklären.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Marleen noch, bevor sie auflegte.
Glücklicherweise kam in dieser Nacht keine weitere Frau zur Entbindung. Marleen hatte trotzdem genug zu tun. Aber sie konnte nachdenken, während sie mechanisch ihre Arbeit erledigte. Die Instrumente mußten gereinigt und für die Sterilisation vorbereitet werden, Papier für den Wehenschreiber nachgelegt werden, Medikamente aufgefüllt, die Entbindungsräume vorbereitet werden.
Marleen arbeitete und dachte immer wieder: Warum? Was war in den Jungen gefahren? Was waren das für Freunde, mit denen er sich herumtrieb? Wie konnte das alles passieren? Sie bemerkte kaum, daß ihr die Tränen die Wangen herunterliefen. Sie fühlte sich allein, hilflos und überfordert. Als die Kolleginnen der Frühschicht kamen, war sie erleichtert. Jetzt mußte sie sich zusammennehmen, da sie zunächst einmal den Vorfall für sich behalten wollte. Soweit dies möglich sein würde, denn in der Klinik wurde viel geredet.
*
Marleen war nicht lange bei Lucas geblieben. Da er etwas gegen die Schmerzen bekommen hatte, war er noch sehr schläfrig, als Marleen an sein Bett trat. Sie hatte ruhig und leise mit ihm gesprochen, ihn getröstet und zunächst kein Wort des Vorwurfs an ihn gerichtet. Wozu auch? Bestraft war er genug. Wegen der Gehirnerschütterung mußte er ganz flach liegen. Sein rechter Arm war eingegipst, und die zahlreichen Hautabschürfungen taten gemein weh. Marleen tat es in der Seele weh, ihn so liegen zu sehen.
»Ich komme heute nachmittag wieder, Lucas. Mama muß erst selbst ein bißchen schlafen. Das verstehst du doch, nicht wahr?« hatte sie gesagt.
Lucas hatte nur wortlos genickt und die Augen wieder geschlossen. Sie gab ihm noch einen Kuß und machte sich auf den Heimweg.
Sie war todmüde, konnte aber zunächst nicht einschlafen. Erst nach einiger Zeit fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Das Telefon weckte sie gegen Mittag. Marleen war schlagartig wach und nahm ab.
»Gerlinger.«
»Guten Tag, Frau Gerlinger. Hier spricht Sabine Dorweiler, die Klassenlehrerin von Lucas.«
»Ja?«
»Ich wollte gern ein Gespräch mit Ihnen vereinbaren. Es geht, wie Sie sich denken können, um Lucas.«
»Können Sie mir nicht am Telefon sagen, um