Die Mula: Erinnerungen einer ehemaligen Drogenkurierin
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Über dieses E-Book
Erica Brühlmann-Jecklin
Erica Brühlmann-Jecklin, Jahrgang 1949, Lehrerin für Krankenpflege, Anatomie und Physiologie, lebt und arbeitet als Schriftstellerin, Liedermacherin und Psychotherapeutin in Schlieren. Für ihren Erstling «Irren ist ärztlich» erhielt sie den Literaturpreis Luzern, von der Stadt Schlieren den Kulturpreis für ihr Gesamtwerk.
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Buchvorschau
Die Mula - Erica Brühlmann-Jecklin
Inhalt
Cover
Impressum
Titel
Prolog
Teil 1 – Kinder- und Jugendzeit
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
Teil 2 – Unheilvolle Geschäfte
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
Teil 3 – In Hindelbank
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
Teil 4 – Frei
I
II
III
IV
Epilog
Betreuerin Silvia erinnert sich
Nachwort
Über das Buch
Erica Brühlmann-Jecklin
Die Mula
Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
© 2021 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Thomas Gierl
Umschlaggestaltung: bido-graphic, Muttenz
eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar
ISBN ePub 978-3-7296-2352-1
ISBN mobi 978-3-7296-2353-8
www.zytglogge.ch
Erica Brühlmann-Jecklin
Die Mula
Erinnerungen einer
ehemaligen Drogenkurierin
emptyProlog
«Ein Brief für dich, Luz», sagt die Betreuerin und hält ihr ein Couvert entgegen. «Ein Brief vom Gericht.»
«Ich verstehe nicht Deutsch», antwortet Luz und begibt sich in ihre Zelle.
Die Betreuerin folgt ihr, setzt sich neben sie auf die Pritsche, nimmt ihr den Brief aus den Händen, öffnet das Couvert, schweigt einen Moment, sagt dann auf Spanisch zur Gefangenen: «Sechs Jahre Haft und Landesverweisung.»
Luz senkt den Kopf, hält ihn in ihren Händen, beginnt zu weinen. «Sechs Jahre weniger zwei Jahre und zwei Monate, nochmals vier Jahre hier, mehr als das Doppelte.»
«Du schaffst das. Bei guter Führung wirst du doch früher entlassen. Dann werden es nicht sechs Jahre sein. Du bist jung, dann bist du frei. Gehst zurück in deine Heimat. Zu deiner Mutter, den Schwestern, zu deinem Sohn.» Die Betreuerin erhebt sich und verlässt die Zelle.
Luz legt sich auf die Pritsche, die Hände über den Augen, das Licht blendet stärker als sonst. «Ich habe alles verloren», flüstert sie vor sich hin, «bin lebendig begraben.» Unaufhaltsam fliessen die Tränen, rinnen seitlich über die Schläfen, benetzen die Ohren. «Ich muss sterben», geht es ihr durch den Kopf, «ich will sterben.» Es ist besser, wenn du tot bist, sagt eine Stimme in ihr. Langsam erhebt sie sich, wankt zum schmalen, in die Wand eingelassenen Schrank, öffnet ihn, zieht unter der Unterwäsche ein Glas hervor. Ihr Notvorrat für den Fall, dass das Leben noch unerträglicher, ja, nicht mehr lebbar würde. In Gedanken geht sie nochmals den abendlichen Weg ins Büro, wo ihr Abend für Abend eine der diensthabenden Betreuerinnen die Tablette gegen die Depression gab. Sorgfältig schob sie diese stets unter die Zunge, trank einen Schluck, vorsichtig genug, dass die Pille nicht mitrutschte, hinunter in den Schlund, wo einstmals die mit Kokain gefüllten Plastikfingerlinge sie fast in den Tod getrieben hatten. Jetzt geht sie in Gedanken wieder zurück in die Zelle, wo sie die Tablette aus dem Mund nahm und in das Glas gab.
«Nun müsste es reichen», flüstert sie zu sich. «Jetzt kann ich gehen, kann sterben. Ich habe alles verloren, auch die letzte Hoffnung.» Die Mutter hatte es ihr klar gesagt am Telefon: «Wenn du zurück nach Kolumbien kommst, bringen sie uns alle um, zuallererst deinen Sohn.» Mit dieser Angst kann sie nicht mehr leben, will sie nicht mehr leben.
Sie nimmt ein Stück Papier und einen Stift und schreibt:
Lieber Miguel,
es tut mir leid, aber es ist besser, wenn ich gehe, dann ist dein Leben nicht mehr in Gefahr. Deines und das deiner Grossmutter. Tschau euch beiden.
Das muss genügen, denkt sie, legt den Brief offen auf den kleinen Klapptisch, den Kugelschreiber daneben.
Sie wartet, bis um neun Uhr die Zelle für die Nacht geschlossen wird, und als sie das Rasseln des Schlüsselbundes hört und weiss, dass nächstens alle Zellen geschlossen würden, nimmt sie die Pillen aus dem Glas und wartet. Wann endlich würde sie das Drehen des Schlüssels an ihrer Zellentür vernehmen? Aber dann will sie nicht mehr warten, beginnt, die Tabletten einzunehmen, schluckt immer einige aufs Mal mit etwas Wasser hinunter.
Sie legt sich auf das Bett. Langsam kommt ein leichtes Zittern über sie, dann wie eine trübende Wolke eine Umnachtung, die ihr den unerträglichen Schmerz aus Herz und Hirn verbannt. Aber tritt da noch jemand an ihr Bett? Oder träumt sie? Sie versucht, das Wegdämmern noch etwas aufzuschieben, aber dann überwältigt sie ein tiefer, dunkler Schlaf.
Was war geschehen?
Teil 1 – Kinder- und Jugendzeit
I
«Wieder ein Mädchen», sagte die Hebamme zum Vater. Man schrieb den 31. August im Jahr 1963.
«Das neunte, das lebt», erwiderte er und ergänzte: «Nun ja, einen Sohn habe ich ja.»
Die Wöchnerin lag erschöpft im Bett, eine leise Traurigkeit gesellte sich zur Freude über das gesunde kleine Mädchen, das sie Luz Estella nennen würden. José Alejandro, der zusammen mit seiner Zwillingsschwester Maria als erstes ihrer Kinder auf die Welt gekommen war, diese aber nach nur zehn Monaten wieder verlassen musste, wäre jetzt elfjährig. Der nur wenige Woche nach dem Tod des Zwillings geborene zweite Bub trägt immerhin dessen und des Vaters Namen. José. Ihr war es egal, ob sie Mädchen oder Buben bekam, Hauptsache, sie waren gesund, und wie ihr Mann eben zur Hebamme gesagt hatte: Einen Sohn hat er ja. Und er war jemand, war immerhin Polizeiwachtmeister im kleinen Dorf Guateque im Bezirk Boyacà. Mit den Vorzügen, die sich aus seinem Beruf ergaben, war es ihm problemlos möglich, eine Grossfamilie zu ernähren. Möge es am Leben bleiben, dachte er, der sich ungern daran erinnerte, dass vom Zwillingspaar der Bub nicht überlebt hatte. Die Mutter blickte auf das kleine Wesen, flüsterte: «Zehn Monate hast du mich warten lassen. Na ja. Jetzt bist du ja da.»
Luz wird sich nicht an das kleine, hübsche Dorf mit den wenigen paar tausend Einwohnern erinnern. Kaum dass sie auf der Welt war, zog die Familie um. «Hier will ich nicht bleiben», sagte der Vater zu seiner Frau, «das Geschäft mit den Smaragden blüht und bringt zu viel Kriminalität.» Zu oft wurde er an die Schauplätze von Gewalttaten gerufen. Seine Kinder sollten an einem sicheren Ort aufwachsen: Bucaramanga, knappe dreihundert Kilometer von Bogotá entfernt.
Man kann es ahnen, Luz blieb nicht die Jüngste. Ihr folgte ein zweiter Bruder, Jorge Eduardo, aber auch er sollte diese Welt nach nur eineinhalb Jahren wieder verlassen. Eine Magenentzündung, hatten die Ärzte gesagt. Die beiden Jüngsten, Elena und Sarah, wurden nach ihm geboren, und die jeweils verantwortliche Hebamme dürfte wohl beide Male erneut gesagt haben: «Wieder ein Mädchen.»
II
Margherita, das achte der lebenden Geschwister, hatte eben erst laufen gelernt. Aber sie hatte keine Freude am kleinen Wesen, das da neu in die Familie gekommen war. Wenn die Mutter sich um Luz kümmern wollte, schrie sie so herzzerreissend, dass sie Atemnot bekam und kurz ohnmächtig wurde. Aber Mama Epifania war der ganzen grossen Arbeit gewachsen. Vater José Alejandro hatte ihr ein Dienstmädchen zur Seite gestellt, eines aus dem Dorf, so dass sie von der Koch- und Haushaltarbeit entlastet war und ihrer grossen Leidenschaft als Schneiderin nachgehen konnte. Die Mutter nähte viel, nähte die Kleider für all ihre Kinder, nähte für Verwandte und auch für Leute im Dorf. Für die Kinder wählte sie stets denselben Stoff, dieselbe Machart. Wie in Schuluniformen kamen die Fernandez-Kinder daher. Wenn sie die Mädchen zum Coiffeur brachte, wünschte sie, dass alle die gleiche Frisur bekamen, ein gerader Schnitt, ringsum gerade, so wollte sie es. Schmuck sahen sie aus, und allenthalben erntete Epifania viel Lob für diese Begabung, die gepaart mit ihrem Fleiss und ihrer Tüchtigkeit die Kinder so adrett daherkommen liess. Bloss der Schmerz um den zweiten verlorenen Buben wollte nicht weichen. «Ich will nicht in diesem Dorf bleiben», sagte sie zum Vater, «alles hier erinnert mich an Jorge, Die Trauer bringt mich ins Grab.» Elena, die wie Jorge in Bucaramanga zur Welt gekommen war, konnte den Schmerz der Mutter nicht aufwiegen. So beschloss der Vater, in Bogotá, wo auch die Grosseltern wohnten, ein Haus zu bauen.
Das Grosselternhaus sollte als Zwischenstation dienen, bevor man in das eigene Haus einziehen würde, das der Vater in dieser Zeit bauen liess.
Nun wohnte die Familie also im Haus der Grosseltern. Die Ankunft der kleinen Sarah rundete die Geschwisterreihe ab. Für die Kinder standen zwei Zimmer zur Verfügung, alle verteilt in diesen beiden Räumen, in einem die sechs Grossen, im andern die fünf Kleinen. Das Baby schlief bei der Mutter, wurde noch gestillt, brauchte deren Nähe. Dies war die Übergangslösung, wie sie der Vater geplant hatte. Die Kleinen genossen das Zusammensein in diesem Schlafraum, lachten und spielten. Manchmal schaute der Vater