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Verwirrendes Paradies: Eine Suche nach Geborgenheit
Verwirrendes Paradies: Eine Suche nach Geborgenheit
Verwirrendes Paradies: Eine Suche nach Geborgenheit
eBook341 Seiten4 Stunden

Verwirrendes Paradies: Eine Suche nach Geborgenheit

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Über dieses E-Book

Im Band 3 der Bettina-Kolpin-Reihe scheint sich Bettinas Traum endlich zu erfüllen. Ein faszinierender Mann ist in ihr Leben getreten. Er zeigt ihr eine völlig neue Welt voller Leichtigkeit, ist großzügig, fürsorglich, will all ihre Wünsche erfüllen, und es ihr ermöglichen, bisher ungelebte Talente zu entfalten. Sie ist verliebt wie noch nie, glaubt, ohne ihn nicht mehr leben zu können, und stimmt einer raschen Eheschließung zu. Schon bald bemerkt sie in ihrer direkten Umgebung Umstände, die sie zunächst verwirren, dann entsetzen, und ihr bisheriges Weltbild durcheinanderwirbeln. Er redet ihr die Wahrnehmungen aus, doch mehr und mehr muss sie begreifen, wer ihre Ehe steuert, und dass sie fast chancenlos ist, dieser Tatsache entgegenzutreten. Sie beginnt, zu kämpfen.
Die Bettina-Kolpin-Reihe greift die Themen Narzissmus und Co-Abhängigkeiten auf, und macht den Lesern Mut, sich aus krankmachenden Abhängigkeiten zu befreien.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum30. Mai 2022
ISBN9783347541719
Verwirrendes Paradies: Eine Suche nach Geborgenheit

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    Buchvorschau

    Verwirrendes Paradies - Heike Möller

    Carla! Gleich! Ich dachte, du schläfst schon. Es ist schon nach Mitternacht. Schläft Magnolia?

    Weiß ich nicht, die schläft ja oben. Ihre Stimme wurde lauter.

    Du! Das ist jetzt die allerletzte Warnung! Du kommst sofort zu mir!

    Gleich, Schatzilein, entgegnete Klauspeter schwach. Ich muss noch den Test fertig machen! Morgen früh ist Abgabe!

    Er unterdrückte ein Stöhnen, erhob sich, nahm ihre Hände und sah sie liebevoll an.

    Bitte Carla, geh wieder hoch ins Bett. Ich komm gleich!

    Wehe nicht! Sie sah ihn einem strafenden Blick an und stapfte die Treppe hoch.

    Hat sie mich wieder heimlich beobachtet?, überlegte Klauspeter besorgt, während er sich reckte. Sie wird allmählich zum Problem.

    Er schaltete den Computer ab, sammelte die Gummibärchen vom Teppichboden, und schlurfte leise in den offenen Wohnraum. Carlas Stimme aus dem Schlafzimmer ließ ihn zusammenfahren.

    Brauchst du noch lange?

    Er blieb stehen und fuhr sich durch den borstigen Oberlippenbart.

    Schatzilein, ich bin müde und mache den Test morgen fertig. Lass mich noch ein Bier trinken, dann komme ich ganz sicher!

    Nein, du kommst jetzt!

    Von oben raschelte es. Barfüßige Schritte klatschten leise auf jeder einzelnen Stufe. Heiß stieg es in Klauspeters Hals auf. Er schluckte, sprang zur Wohnzimmertür und verschloss sie. Dann rannte er in die angrenzende offene Küche, um auch dort die Tür zum Flur zu versperren. Schwer atmend stützte er sich auf die Spüle und lauschte ins Haus.

    Mit beiden Fäusten trommelte Carla abwechselnd gegen beide Türen.

    Das machst du nicht mit mir!, schrie sie und weinte zugleich, das wirst du bereuen!Ich habe dich gewarnt!

    Klauspeter versuchte, den Krach zu ignorieren, nahm aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier und griff nach der grünen Flasche mit dem Kräuterlikör. Aus dem untersten Fach der abgewohnten Schrankwand suchte er ein Schnapsglas und einen Flaschenöffner zusammen. Stöhnend öffnete er die Bierflasche, füllte das kleine Likörglas randvoll, und ließ sich auf das durchgesessene braune Ecksofa fallen. Nach dem ersten großen Schluck rülpste er und kippte den Likör hinterher. Er goss sich einen weiteren Kräuterlikör ein, und griff nach der Fernbedienung. Auf dem Flur war es jetzt ruhig.

    Nach dem dritten Bier öffnete er vorsichtig die Küchentür, lauschte, und schlich dann die freitragende Holztreppe hoch. Die Schlafzimmertür stand offen. Carla lag im Ehebett auf Ludmillas ehemaliger Seite, und gab leise Schnarchgeräusche von sich.

    Mit angehaltenem Atem zog Klauspeter die Bettdecke und das Kopfkissen von seinem Bett, griff nach dem Schlafanzug und schloss die Schlafzimmertür. Erneut stöhnend machte er sich sein Nachtlager im Wohnzimmer auf dem Sofa.

    Trotz der Alkoholmenge konnte er nicht einschlafen. Der Rücken tat ihm weh. Unruhig wälzte er sich hin und her.

    Wie war er nur in diese Situation gekommen? Was wollte Carla von ihm? Jeder Versuch, sich an die Ereignisse dieser Nacht zu erinnern, endete im Nichts.

    ***

    Seit mehr als zwei Jahren nahm Ludmilla zweimal in der Woche an psychologischen Seminaren in Stuttgart teil. Persönlichkeitsentwicklung nannte sie es. Bei einem dieser Seminare hatte sie ihre große Liebe, den sechs Jahre jüngeren Eugen kennengelernt.

    'Wenn ich bedenke, wie ausgiebig sie mir jedes Mal von den Treffen mit ihm erzählt hat, schüttelt es mich', überlegte er, 'Was sollte das?'

    Vor einem halben Jahr war sie dann zu ihm gezogen und gleich darauf schwanger geworden. Die Kinder waren bei Klauspeter geblieben. Er setzte sich auf.

    Sechzehn Jahre waren sie verheiratet gewesen, Carla und Magnolia waren zwölf und acht. Ludmilla hatte ihm von Anfang an erklärt, ihn nicht zu lieben. Doch er war überzeugt gewesen, das würde schon noch kommen. Jetzt war es gekommen, aber ihre Liebe galt einem anderen. Wenigstens hatte sie ihm die Kinder gelassen. Carla und Magnolia, seine Töchter, waren sein Lebensinhalt. Vor allem Carla.

    Am Abend nach Ludmillas Auszug hatte er seinen Kummer ertränkt. Wie er in sein Bett gekommen war, wusste er nicht mehr. Nachts war ihm, als habe jemand an seinem Arm gerüttelt. Als er mühsam die Augen öffnete, bemerkte er Carla, die schluchzend neben seinem Bett stand.

    Pabi, ich habe solche Angst!

    Schlaftrunken hatte er sie in sein Bett gezogen.

    Am nächsten Morgen war er völlig benebelt durch ein zärtliches Streicheln auf seiner Brust unter dem Schlafanzug und ein knabberndes Gefühl an seinem linken Ohrläppchen erwacht.

    Du, das war schön heute Nacht, hatte sie ihm ins Ohr gehaucht. Jetzt bin ich deine Frau. Die Mama hat ja den Eugen.

    Ja ja! Er hatte sie von sich geschoben. Sein Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an, und sein Körper, als habe er einen nächtlichen Boxkampf verloren. Wie er sich auch das Hirn zermarterte, aus Carlas zärtlichen Worten konnte er sich nichts zusammenreimen. Anstatt einer Erinnerung klaffte so etwas wie ein tiefes, schwarzes Loch in ihm.

    Klauspeter erhob sich ächzend und holte ein weiteres Bier. Der Vollmond tauchte den Raum in ein mysteriöses Licht. Die Zweige der Rotbuche schlugen in einem sanften Rhythmus gegen das Glasdach des angrenzenden Wintergartens. Er seufzte.

    'Ich gebe ja zu, dass ich nicht allzu traurig über Ludmillas Weggang bin. Endlich habe ich die ersehnte Freiheit! Und endlich, endlich, bin ich autark! Aber es fühlt sich alles andere als frei an.'

    ***

    Ludmilla war es aufgrund ihrer Schwangerschaft äußerst recht, dass Carla und Magnolia überwiegend bei Klauspeter lebten. Sein Heimarbeitsplatz als Ingenieur bei dem schweizerischen Computernnternehmen Hemmi AG und sein Status als Schwerbehinderter gaben ihm viel Freiheit.

    Seit seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er eine chronische Darmkrankheit, die oft unangenehm war, ihn aber nicht allzu sehr einschränkte. Diesen Umstand behielt er für sich, denn schon bald hatte er erkannt, dass ihm die Schwerbehinderung das Leben erleichterte. Er berichtete freizügig über seine chronische Krankheit und ließ sich gern für seinen Heldenmut bewundern, mit dem er diese Einschränkung trug. Vor allem momentan, dass er nach Ludmillas Auszug, trotz seiner Schwerbehinderung einen Alltag mit Beruf und zwei Kindern bewältigte. Klauspeter stellte die leere Flasche auf den Boden und gähnte.

    Ich bin frei!, murmelte er. Keiner bestimmt über mich!

    Er stand schwankend auf, betrat den Wintergarten, und öffnete die Schiebetür zum Garten.

    'Warum dirigiert mich Carla und droht dabei unterschwellig?', kamen dunkle Gedanken in ihm auf. 'Da war doch nichts in dieser Nacht, oder?'

    Er fuhr sich durch seinen roten, struppigen Oberlippenbart und sog die klare Nachtluft ein. Die dicken Kabel der breiten Stromtrasse über dem Garten knisterten. Das zugeschneite Kinderplanschbecken und die vertrockneten Blumen erinnerten im Vollmondlicht an moderne Kunstwerke. Seufzend schloss er die Tür und ließ sich in einen der beiden zerschlissenen graubraunen Sessel fallen. Stöhnend vergrub er seinen Kopf in beide Hände.

    'Ich brauche noch ein Bier und einen Schnaps. Wenn ich morgen einen schweren Kopf habe, werde ich mich in der Firma krankmelden. Bin ja schließlich schwerbehindert.'

    ***

    Nach dem Studium in seiner Heimatstadt Berlin hatte er ein Praktikum in der Berliner Niederlassung des Schweizer Computerkonzerns Hemmi AG gemacht und danach ein Angebot im schwäbischen Böhlerkingen angenommen.

    'Endlich war ich weg von Mutti!' Er rülpste laut. 'Aber sie kam hinterher, zog auch nach Böhlerkingen, wollte angeblich ihre künftigen Enkel aufwachsen sehen.'

    Er kicherte. 'Dabei hatte ich noch nicht einmal eine Freundin!'

    Anfang der Achtzigerjahre heiratete er Ludmilla, ein sieben Jahre jüngeres neunzehnjähriges Mädchen russischer Abstammung, schlank, mit langen dunklen Haaren und schräg geschnittenen grauen Augen. Er war fest überzeugt, Ludmilla nach seinen Ansprüchen formen zu können.

    Über viele Jahre waren sie kinderlos geblieben. Sämtliche medizinischen Möglichkeiten hatten nichts bewirkt, bis sie sich zu einer künstlichen Zeugung entschlossen. Der Tag, an dem Carla geboren wurde, war der Glücklichste in seinem Leben.

    Zwei Jahre später kam Magnolia auf völlig natürlich Art auf die Welt. Auch das zweite Kind liebte er, aber Carla empfand er als einen Teil von sich. Sie war sein Ein und Alles, unfehlbar, rein wie ein Engel. Klauspeter kippte den Likör herunter und schniefte.

    'Wenn Ludmilla Ärger machte, ging ich zu Carla, und der ganze Stress der Erwachsenenwelt war vergessen. Ihre Reinheit, ihre Wärme und ihr kindlicher Geruch waren so tröstend.'

    Er suchte nach einem Taschentuch.

    'Was hat sie so verändert?' Tränen rollten plötzlich über sein Gesicht. Er kippte einen weiteren Kräuterlikör.

    'War da eben ein Geräusch?' Er richtete sich auf und lauschte.

    'Junge, du hörst Gespenster!' Er wurde schläfrig.

    ***

    Papa! Schläfst du auf dem Sofa, weil die Carla wieder Randale macht?

    Klauspeter zuckte zusammen. Magnolia stand mit ihrem Teddy im Arm vor dem Sofa.

    Papa hat etwas Bauchweh. Komm, ich bring dich ins Bettchen.

    Er nahm die Achtjährige auf den Arm und wankte die Treppe hinauf. Die dritte Stufe knarrte. Magnolia kicherte in seine Nackenfalte.

    Ist Carla jetzt deine Frau, Papa? Psst, lauf leise wie ein Indianer, sonst wacht sie auf!

    Vorsichtig tappten sie in den zweiten Stock ins Kinderzimmer. Klauspeter küsste Magnolia auf die Stirn und deckte sie zu.

    Lass das Licht an, Papa, und die Tür auf. Nachti!

    Nachti, Magnolia!

    Vom oberen Treppenabsatz bemerkte Klauspeter Carlas schmale Gestalt in der geöffneten Schlafzimmertür.

    Wo bleibst du? Wie lange soll ich noch warten?

    'Ist das noch mein kleiner Engel? Warum hat sie plötzlich so eine unbarmherzige Stimme?', purzelte das Gehörte in seinem Kopf durcheinander. Ein plötzlicher Schmerz im Unterbauch ließ ihn zusammenfahren.

    Carla, lass mich jetzt einfach in Ruhe!

    Betont aufrecht ging er an ihr vorbei, die Treppe hinunter. Carla heulte laut auf. Er hielt sich die Ohren zu.

    'Wie ein Wolf', dachte er schwerfällig. 'Das kann ja morgen früh heiter werden.'

    Er gähnte laut, verschloss wieder beide Türen, löschte das Licht und schlüpfte unter die Bettdecke. Das Sofa knarrte.

    'Morgen werde ich auf die Anzeige im Böhlerkinger Boten antworten. Eine Frau sucht einen Tanzpartner. Ich war ja mal Turniertänzer. In einem früheren Leben.' Er gähnte wieder.

    'Tanzen bringt mich auf andere Gedanken. Und das mit Carla wird sich dann mehr oder weniger regeln.'

    ***

    Mama! Dieser komische Brief lag noch im Briefkasten!

    Hastig erklomm Conny die oberen ausgetretenen Stufen, riss die Wohnungstür auf und streckte Bettina einen zerknitterten Umschlag entgegen.

    Komisch!

    Bettina drehte den schmuddeligen Briefumschlag in ihrer Hand. In winziger, schräger Handschrift war die Adresse des Böhlerkinger Anzeigers und die Chiffre gekritzelt. Kein Absender.

    Ach ja! Jetzt weiß ich, was das ist! Oje, wer will denn mit so einem schlampigen Brief punkten?

    Conny trat näher, bohrte die Fäuste tief in die Taschen ihrer verwaschenen Jeans, griff in ihr schulterlanges glattes, mittelblondes Haar, und pustete Ponysträhnen aus der Stirn.

    Was Schlimmes? Stresst Papa wieder?

    Nee, Conny! Lass mich mal kurz in Ruhe, ich mache mir einen Kaffee!

    Beate, die Vierzehnjährige, schlurfte neugierig aus ihrem Zimmer. Dunkles Wasser tropfte aus ihrem schwarz glänzenden, nassen Haar, auf ein Handtuch von undefinierbarer Farbe, das ihr gerade langsam von Schultern rutschte.

    Bea! Färbst du deine Haare?, entfuhr Bettina ein entsetzter Ausruf. Was soll das?

    Beate tat, als habe sie ihre Mutter nicht gehört.

    Komm, Bea, ich wasche dir deine Farbe ab!

    Conny sah ihre Mutter verschwörerisch an und schob die ältere Schwester über den kleinen dunklen Flur in Richtung Bad.

    Wieso willst du jetzt schwarzes Haar haben, Bea? Du bist doch genau so straßenköterblond wie Mama und ich.

    Dummerle, Papa ist schwarzhaarig. Ich will es auch sein!

    Aber das merkt der doch nicht. Der kennt uns gar nicht mehr!

    Kichernd verschwanden beiden im Bad. Bettina ging langsam in die kleine Wohnküche der Böhlerkinger Altbauwohnung und warf den Umschlag auf den Küchentisch.

    Da sind ja noch die Krümel vom Frühstück drauf! Ach nee!, griff sie hinter sich auf die mit schmutzigem Geschirr beladene Spüle. Klirrend fielen zwei Frühstücksteller auf den Boden.

    Beate, du solltest das Geschirr in die Spülmaschine räumen! Jetzt habe ich einen Teller runtergeschmissen!

    Mama, mach ich nach den Haaren!, tönte es aus dem Bad.

    Dann eben kein Kaffee!

    Bettina nahm den Umschlag, pustete die Krümel ab und ging über den Flur zum Schlafzimmer. Kurz blieb sie vor dem Flurspiegel stehen. Eine mittelgroße, schlanke Frau mit weiblichen Formen sah ihr entgegen. Kurzgeschnittenes aschblondes Haar umrahmte das herzförmige Gesicht und bildete einen Kontrast zu den dunkelblauen Augen. Seufzend wandte Bettina sich ab und öffnete die vergilbte Schlafzimmertür.

    Das kleine Fenster ließ nicht allzu viel Licht herein. Sie setzte sich auf das helle Massivholzbett, knipste die antike Nachttischlampe an und schlitzte mit dem Daumennagel den Umschlag auf.

    'Der Brief wirkt mehr als dürftig', seufzte sie innerlich. 'Aber es ist der einzige. Sonst hat sich niemand auf meine Anzeige hin gemeldet.'

    Die Nachmittagssonne warf bizarre Schatten auf die blaue Tagesdecke. Vom Krankenhaus her vernahm sie ein ansteigendes Martinshorn. Bettina zog ein unordentlich gefaltetes weißes Druckerpapier aus dem Umschlag und schlug sich mit der Hand vor den Mund.

    'Ist das alles? Maschinengeschrieben: 'Hallo, ich würde mit dir tanzen. Melde dich. Telefon 124116'. Darunter eine kleine, schräg nach oben verlaufende Unterschrift, 'Sascha'. Ohne Nachname. Und auch noch per 'Du'. Das ist ja unterste Schublade!' Sie seufzte. 'Aber es hat sich sonst niemand gemeldet. Jetzt mache ich mir doch einen Kaffee und muss dann selbst den Küchentisch abwischen.' Sie löschte die Nachttischlampe.

    Bettina, sprach sie im Vorübergehen zu ihrem Spiegelbild. "Du suchst nur einen Partner zum Tanzen. Nichts anderes! Ruf ihn an! Enttäuschen kann er dich ja wirklich nicht mehr! Sie blieb stehen und sah wieder hinein.

    'Ich bin doch ganz ansehnlich für meine siebenundvierzig Jahre', überlegte sie und zog den Bauch ein.

    'Aber irgendwie zu klein für mein Gewicht. Vielleicht sollte ich wieder regelmäßiger zum Joggen gehen. Ach, die Pfunde werden beim Tanzkurs schon wieder purzeln. Wenn ich ihn mache!'

    Mama, suchst du 'n Lover? Der Brief ist von der Zeitung, hat Conny gesagt. Schiff ist draufgestanden.

    Beate rubbelte das schwarz glänzende schulterlange Haar mit dem roséfarbenen Duschtuch, das jetzt so etwas wie Kuhfellflecken aufwies.

    Mama, ich gehe nachher mit Mimi weg. Bin um zehn zurück!

    Nein Bea! Du bist vierzehn. Punkt acht bist du zurück!

    Ach Menne! Beate reckte ihren zierlichen Körper und schritt betont aufrecht in ihr Zimmer.

    Bea, Conny, stört mich jetzt nicht. Ich will telefonieren!

    Mit dem vom Brief? Conny wich ihr plötzlich nicht von der Seite.

    Ja, mit dem vom Brief! Ich habe eine Anzeige aufgegeben, weil ich einen Tanzkurs machen möchte und einen Tanzpartner suche. Weiter nichts! Und ihr räumt jetzt die Küche auf, wie versprochen!

    ***

    Die Kaffeemaschine verbreitete einen verführerischen Duft. Bettina balancierte die randvoll eingegossene Tasse vorsichtig durch den Flur, und griff an der dunklen, antiken Flurgarderobe nach dem kabellosen Telefon. Sie stellte die Tasse ab, tippte die Telefonnummer ein, und ging mit der Kaffeetasse und dem zwischen Hals und Schulter eingeklemmten Hörer ins Schlafzimmer.

    Hallo? krächzte es nach zehnmaligem Freizeichen.

    Hallo, ich bin Bettina Wieczynski, ich habe eine Anzeige…

    Er unterbrach sie.

    Ach ja, ich kann gerade nicht, ich mache ein System-Update. Ich melde mich wieder! Bettina vernahm nur noch das Freizeichen.

    So ein eingebildeter Aaa…, entfuhr es ihr. Dann eben keinen Tanzkurs! Belassen wir es beim Singen im Popchor Steinhausen. Bea, Conny, rief sie in die Wohnung und stand auf, ich mache die Küche! Habe geschenkte Zeit zum Nachdenken!

    Ehrlich? Danke, Mama! Beates überraschender Kuss auf dem Flur irritierte sie.

    Bettina stellte sich in der dunklen Küche ans Fenster und sah auf die kahlen Zweige der alten Linde im Hof. Sie fühlte sich plötzlich so einsam wie lange nicht mehr.

    ***

    Mama, da ist ein Sascha am Telefon! Neugierig lächelnd hielt Conny Bettina das Telefon hin.

    Der ist aber peinlich, Mama. Der hat kleines Fräulein zu mir gesagt. Kleines Fräulein, ppp!

    Verwundert ergriff Bettina den kabellosen Hörer.

    Hallo, ich bin Sascha Ballardino. Vorhin konnte ich nicht aus dem Programm raus. Ich bin nämlich Heimarbeiter bei der Hemmi AG. Jetzt können wir reden, unsonsowasch. Ein verlegenes Lachen beendete den Satz.

    'Was ist denn sonsowasch?', überlegte Bettina kopfschüttelnd.

    Wie konnten Sie mich zurückrufen? Woher haben Sie meine Telefonnummer?

    Der Mann lachte.

    Wissen Sie, als Ingenieur hat man natürlich die neuesten Techniken. Meine Telefonanlage zeichnet sämtliche Nummern auf.

    Er wurde sehr gesprächig und berichtete, seine Frau sei ausgezogen, aber seine beiden Töchter lebten bei ihm. Er habe eine verheiratete Freundin und sei wiedergeborener Christ.

    'Oh Herr', schickte Bettina ein Stoßgebet nach oben. 'Wiedergeborener Christ, verheiratete Freundin! Deine Gefolgsleute sind auch nicht mehr das, was ich aus Herrlingen zu kennen glaubte!'

    Bettina heißt du?, unterbrach er ihre innere Einkehr. Also gut, wir treffen uns dann morgen im Stadtcafé in Böhlerkingen.

    Ja, nein, stammelte Bettina. Herr Ballalila, ich habe etwas Probleme mit dem sofortigen Du.

    Ja? Ich nicht. Also bis morgen um achtzehn Uhr!

    'Warum sage ich nicht nein?', rang sie mit sich.

    Herr Ballalila, wie sehen Sie denn aus?

    Ballardino! Ich bin vierundvierzig, sehe aber jünger aus! Und ich bin rothaarig!

    Herr Ballardino…

    Und bin ich ausgebildeter Turniertänzer unsonsowasch!

    Bettina sah einen Hoffnungsschimmer, aus diesem Gespräch aussteigen zu können.

    Herr Ballardino, dann wird das wohl nichts, es ist ein Anfängerkurs!

    Das macht doch nichts! Wiederholen kann man immer. Also dann bis morgen, Bettina, Stadtcafé!

    Sie vernahm nur noch das Freizeichen. Ärgerlich brachte sie das Telefon auf die Station. Warum hatte sie sich nicht durchsetzen können?

    Mama hat ein Date, Mama hat ein Date! Conny kam hinter der halb offenen Tür hervor und tanzte um Bettina herum.

    Waas? Ungläubig trottete Beate heran.

    Bitte, Bea, Conny, ich brauche einen Tanzpartner für den Kurs. Weiter nichts!

    Ach, ja? Dann ist ja alles gut, Mama!

    Bettina bemerkte nicht den verschwörerischen Blick, den ihre Töchter tauschten.

    Sie löschte das Deckenlicht, und sah in die Nacht hinaus. Durch die kahlen Zweige der Linde blitzten die beleuchteten Fenster des kleinen Kaufzentrums in der Stuttgarter Straße.

    'Bettina, vielleicht ist er gar nicht so furchtbar', versuchte sie, ihr vermeintliches Versagen zu beschönigen. 'Du kannst immer noch nein sagen!'

    Sie knipste wieder das Deckenlicht an und begann, die Spülmaschine auszuräumen, legte dann das feuchte Geschirrtuch beiseite und setzte sich an den Küchentisch. Das bekannte Kloßgefühl breitete sich in ihrem Hals aus. Plötzlich glaubte sie, Omis Worte an die damals fünfjährige Bettina zu hören.

    'Du bist ein Nichts, Bettina, und du kannst nichts. Wage nicht, mir noch einmal zu widersprechen, sonst schicke ich dich wieder in den Keller!'

    Warum bestimmte nach wie vor eine latente Angst ihr Leben, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden? Als Bestrafung dafür, nein gesagt zu haben. Auch Georg hatte die Scheidung eingereicht, als sie ihn nach mehr als zwanzigjähriger Ehe aufgefordert hatte, sie nicht mehr wie eine Leibeigene zu behandeln. Solange sie denken konnte, hatte ihr Nein ein Ausgestoßenwerden bedeutet.

    Sie löschte wieder das Licht und sah aus dem Fenster. Kleine Sterne funkelten am Nachthimmel.

    'Immer noch träume ich von einer harmonischen Familie mit einem Mann, an den ich mich anlehnen kann. Er sollte mich und die Kinder lieben, genug Geld verdienen und mich vor Georgs Schikanen schützen.' Sie schluckte, um das Kloßgefühl loszuwerden.

    'Eigentlich geht es uns gut', überlegte sie weiter. 'Beate und Conny gehen auf die beste Schule in Böhlerkingen, aber ich habe einen Vollzeitjob und zwei Nebenjobs. Martin bringt mich zwar mit seinen ständigen Geldforderungen immer wieder in Bedrängnis, aber ich kann ihm kein Geld mehr geben. Wir müssen doch selbst knausern.'

    Sie wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln. Dabei hatte sie Beate nicht bemerkt.

    Mama, warum sitzt Du hier im Dunkeln? Gibt es heute kein Abendbrot?

    Gleich, Bea! Lasst mich bitte noch einen Augenblick allein!

    Ist alles in Ordnung, Mama? Ist das wegen dem, mit dem du tanzen willst? Der war am Telefon doch so uncool. Fang bloß nichts mit dem an, Mama!

    Wegen des…, ach ist ja egal! Bea, mach bitte das Licht an.

    Bettina stand auf und griff nach den Vesperbrettern. Schuldgefühle kamen in ihr hoch.

    'Bettina!', versuchte sie, sich zu beruhigen. 'niemand hat dir gerade Strafe angedroht, weil du nicht gehorcht hast! Beate hat nur gefragt, ob es kein Abendbrot gibt! Bist du wirklich schon so autonom, wie du es dir einbildest?'

    ***

    Mit erhobenem Kopf schritt Carla am Esstisch vorbei. Wie zufällig streifte ihr linker Arm Klauspeters Schulter. Er lächelte sie an.

    Guten morgen, Schatzilein!

    Mit verkniffenem Mund setzte sich die Zwölfjährige an den Frühstückstisch und griff nach einer frischen Brezel. Magnolia stürmte in die Küche und sah Klauspeter strahlend an.

    Papa, ich habe in der Schule gleich Malen. Wir malen einen Zirkus und dann wollen wir…

    Halt die Klappe! fuhr Carla sie an. Magnolia zuckte zusammen.

    Tschuldige Carla, hast du nicht gut geschlafen?

    Ich sagte, halte die Klappe! Richte dich danach!

    Carla, Magnolia hat dir nichts getan, wandte Klauspeter vorsichtig ein.

    Und du sei besonders still, Pabi, sonst werde ich… Den Rest verschluckte sie.

    Was, Carla?

    Klauspeter verspürte plötzlich einen Schmerz im Unterbauch und legte sein Marmeladenbrötchen zurück auf den Teller. Er versuchte, tief durchzuatmen, nahm einen Schluck Kaffee und griff nach der Gummibärchentüte in seiner Hosentasche.

    Was, Carla? Magnolia sah auch ihre Schwester an.

    Mit hasserfülltem Blick sprang Carla auf. Polternd fiel der Stuhl hinter ihr um.

    Du! Pabi, du! Du wirst schon sehen, was passiert! Sie riss den Schulrucksack hoch und stürmte auf die Haustür zu. Klauspeter sprang auf und hielt sie am Arm zurück.

    Was soll das, Carla? Was ziehst du hier für eine Show ab?

    Der kalte Ausdruck in ihren Augen erschreckte ihn.

    Du weißt ganz genau, was war, Pabi!

    Sie drehte ihren Arm aus seinem Griff.

    Wenn du das noch einmal machst, wie gestern Abend, dann gehe ich zur Mama und erzähle ihr alles. Die geht dann zum Jugendamt und ich komme nie mehr zurück!

    Sie riss die Haustür auf und rannte die Außentreppe hinunter.

    Carla, warte doch! Du hast dein Pausenbrot vergessen!

    Pausenbrot? Das bringt mir die Mama in die Schule. Die rufe ich vom Sekretariat aus an!

    'Carla will mich verlassen!', hämmerte es in Klauspeters Kopf. Schwindel erfasste ihn und eine bislang vergessene Angst stieg in ihm auf. Er empfand sich plötzlich wieder als der kleine Junge in Marienfelde. Die Mutti war fortgegangen und hatte ihn zurückgelassen! Sie würde nicht wiederkommen und er würde in dem Kohlenkeller elendig sterben. Klauspeter glaubte, in ein schwarzes Loch zu fallen. Alles um ihn herum erschien plötzlich wie im Nebel. Er hielt sich am Türrahmen fest und versuchte, durchzuatmen. Eine kleine warme Hand schob sich in seine.

    Papa, die Carla hat bloß wieder schlechte Laune, aber ich habe dich lieb. Ich habe mir für die Pause eine Brezel geschmiert. Tschüss, Papa, bis heute Mittag, tschüüüss!

    Mit beiden Händchen winkend sprang Magnolia die drei Stufen hinunter und dreht sich noch einmal.

    Tschüss, Papa!

    Er schaffte es gerade noch, zurückzuwinken und die Haustür zuzuwerfen, dann wurde ein Brechreiz übermächtig.

    ***

    Das kalte Wasser tat gut. Klauspeter hielt den geöffneten Mund unter den Strahl

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