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eBook404 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Eine Mordserie erfasst die Stadt Hannover. Sämtliche Opfer sind Lehrer eines Gymnasiums. Für Hauptkommissar Jan Jäger und sein Team beginnt ein Wettlauf mit der Zeit.
Brütende Hitze, keine verwertbaren Spuren, eine Mauer aus Schweigen ebenso wie seine hoffnungslose Liebe zu seiner neuen Kollegin erschweren die Ermittlungsarbeit. Und am Ende muss Jäger feststellen, dass er die ganze Zeit einer falschen Fährte hinterhergejagt ist....
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum27. Nov. 2014
ISBN9783738003857
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    Buchvorschau

    quintus - Sabine Bresan

    Prolog

    „Verschwinde jetzt!", kommandierte er und machte eine Handbewegung, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.

    Mühsam erhob sie sich. Ihre Beine, an deren Innenseite eine Blutspur klebte, waren wie Pudding. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihr blütenweißer Satinslip schimmerte auf der versifften Matratze wie ein Diamant im Schlamm. Er lag verkehrt herum da. Als sie nach ihm griff, packte plötzlich die behaarte Pranke ihr linkes Handgelenk, und umklammerte es wie ein Schraubstock.

    „Du sagst zu niemandem ein Wort!", befahl er und drückte noch fester zu.

    „Ich sage nichts. Wirklich, Ehrenwort!", versprach sie wimmernd.

    Sein lautes Lachen hallte von den kahlen Wänden wider.

    „Es wird dir sowieso niemand glauben!"

    Endlich ließ er ihr schmerzendes Handgelenk los. Sie schnappte sich ihre Unterhose, hielt sie schützend vor ihre entblößte Brust und trat einen Schritt beiseite. Es platschte kurz. Das schleimige Latex saugte sich an ihrem nackten Fuß fest. Ein Schauder ergriff sie, ihr Magen drehte sich um. Sie würgte den Brocken, der in ihrem Hals drückte, runter. Ein saurer Thunfischgeschmack breitete sich in ihrem Mund aus.

    Selbstgefällig lag der nackte Fettsack in den feuchten Laken, seine Hände nun hinter dem Kopf verschränkt.

    Er beobachtete sie.

    So schnell sie konnte, sammelte sie ihre Kleidungsstücke vom Teppich auf. Dabei spürte sie seine Blicke im Rücken wie Messerstiche. Hastig zog sie sich an. Es fiel ihr unsagbar schwer, denn alles tat ihr weh, als wäre sie eine große offene Wunde.

    Warum war sie nur so dumm gewesen, hierher zu kommen? Sie hätte es sofort wissen müssen, als sie dieses Drecksloch betrat. Es war ganz offensichtlich, was er von ihr wollte: kein Schreibtisch, keine Bücher - nur diese Matratze. Und dieser penetrante Gestank nach Schweiß, Sperma, Bier! Als sie begriff, dass sie einen schweren Fehler begangen hatte, spürte sie bereits die Matratze unter sich. Unfreiwillig.

    Jetzt wollte sie nur schnell raus aus dieser Hölle. Weit weg.

    „Und, wie war ich?", dröhnte es wie Hohn in ihren Ohren und riss sie aus ihren Gedanken.

    Tränen stiegen in ihre Augen, die Thunfischpizza kroch wieder in ihren Hals. Nie wieder würde sie Pizza essen können.

    Sie schluckte. Sie zitterte. Schweißperlen strömten aus allen Poren.

    Bloß nicht mehr heulen! Reiß dich zusammen! Sieh zu, dass du hier raus kommst! Beeil dich! Los!

    „War doch gar nicht so schlimm", beteuerte er mit Unschuldsmiene.

    Bitte lieber Gott, dieses ekelhafte Dreckschwein soll mir nie wieder wehtun. Nie mehr! Bitte!!!

    Sie verlor ihr Gleichgewicht, als sie sich ihre Stiefel anzog, und sie sah aus dem Augenwinkel, dass sein dickes Ding schon wieder begierig stand.

    Nackte Angst packte sie.

    War die Tür verschlossen?

    Montag, 22.40Uhr

    Die Hitze war erbarmungslos.

    Eine fette, grün schimmernde Fliege schwirrte um seinen Kopf, bis sie auf seiner schweißbenetzten Stirn landete.

    Er schüttelte sie angewidert ab, nahm die Fernsehzeitung vom Tisch, rollte sie auf und lauerte bis der dicke Brummer sich auf den Tisch begab. Heftig schlug er zu. Die Fliege war sofort tot. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Nun hörte er, dass es morgen noch heißer werden sollte. 33 Grad!

    Seufzend wischte Winfried Heller sich den Schweiß von der Stirn, schaltete den Fernseher aus, hievte sich aus seinem bequemen Fernsehsessel und trank den schalen Rest Bier aus seinem Glas. Er stellte es in die Küche und sprach zu seinem Rauhaardackel, der nach dem Pawlowschen Prinzip immer um diese Zeit voller Vorfreude mit dem Schwanz wedelnd hinter ihm herdackelte: „Ja, mein Guter, nun wollen wir beide Gassi gehen". Er tätschelte Cäsar liebevoll über den Kopf, bevor er die Haustür öffnete. Draußen zog er leise die Tür ins Schloss, er wollte Ingrid, seine Frau, nicht aufwecken. Nach ein paar Metern durch den Vorgarten traten sie durch das Tor des Jägerzauns auf den Bürgersteig. Sogleich hob Cäsar das Bein und hinterließ seine Markierung. Sie bogen rechts ab, bis sie nach etwa hundert Metern eine schmale Holzbrücke überquerten, bogen dann gleich wieder links ab. Hier befand sich ein Trampelpfad zwischen Maisfeldern, Wiesen und Bäumen.

    Es war drückend schwül draußen und Winfrieds hundertzwanzig Kilo belasteten ihn daher besonders. Aber er war ein Prinzipienreiter: Jeden Abend um dieselbe Zeit führte er seinen Hund eine Dreiviertelstunde auf diesem Weg spazieren. Bei Wind und Wetter. Er brauchte dieses Ritual. Es befreite den Kopf. Etwa zwanzig Minuten waren sie bereits unterwegs. Sein T-Shirt klebte wie ein nasses Küchenhandtuch an ihm. Sein Atem keuchte, seine Schritte waren schwerfällig und langsam. Wie im Zeitlupentempo. Cäsar rannte hingegen munter das Maisfeld entlang. Er war außer Sichtweite.

    Winfried fühlte sich hier sicher. Es war eine ruhige und solide Gegend, ohne nennenswerte kriminelle Delikte. Außerdem war er ein Koloss von einem Mann, und er war eine Respektperson. Er war Lehrer.

    Wie aus dem Nichts kam ihm eine Person entgegen, die er nicht richtig einordnen konnte. Er kniff die Augen zusammen. Da es noch hell war, konnte er sie deutlich sehen: lange Haare, Käppi, Jeans, Stiefel. Er wunderte sich, wieso man bei dieser Hitze Stiefel tragen konnte. Seine Füße glitschten in seinen Sandalen. Eine leichte Beklemmung beschlich ihn. Er spähte nach Cäsar, doch sein Hund war weder zu sehen noch zu hören. Er fand es merkwürdig. Plötzlich war ihm, als würde das Blut in seinen Adern gefrieren. Er erkannte die Person.

    Doch die Person trat ihm freundlich grüßend entgegen. Erleichtert grüßte er zurück.

    „Was für eine furchtbare Hitze, nicht wahr, Herr Heller?"

    Beide blieben stehen.

    Winfried Heller lachte innerlich über sich, dass er tatsächlich einen Augenblick Angst verspürt hatte. Was sollte auch schon passieren? Man konnte ihm nichts beweisen. Gar nichts. Die Verschnaufpause tat ihm gut. Sein Atem erholte sich.

    „Und morgen soll es noch heißer werden. Das habe ich vorhin im Wetterbericht gehört", berichtete Heller und stöhnte.

    „Grausam", erwiderte die Person.

    „Ja. Haben Sie meinen Hund gesehen?"

    „Nein!"

    „Nicht? Merkwürdig. Er reckte den Hals und spähte wieder nach Cäsar. „Cäsar, Cäs..., seine Stimme erstarb, denn blitzartig wurde ein Messer in seinen Bauch gerammt. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er an sich hinunter, konnte kaum glauben, dass das sein Blut war, das sein T-Shirt besudelte. Und schon durchzuckte ihn erneut ein heftiger Schmerz. Er wollte um Hilfe schreien, aber kein Laut kam aus seinem staubtrockenen Mund. Er war nur noch in der Lage den nächsten Stich zu spüren. Dann sackte er zusammen und fiel mit gebrochenen Augen auf den noch warmen Boden.

    Dienstag, 00.30 Uhr

    „Du siehst so schön aus", sagte Gregor und streichelte Katharina zärtlich über ihre Wange.

    Sie schnurrte wohlig wie eine Katze bei dieser zarten Berührung seiner warmen Hand. Wie sehr hatte sie sich auf diesen Abend und eine lange Nacht mit ihm gefreut. Gregor war ein einfühlsamer Liebhaber und er hatte so schöne blaue Augen. Als er seine Hand entfernte, sagte sie: „Danke fürs Kompliment. Aber du siehst abgekämpft aus."

    „Ich hatte einen anstrengenden Tag", rechtfertigte er sich.

    Sie saßen sich auf Barhockern an einem hohen Bistrotisch gegenüber. Das Lokal war schon fast leer, als die Kellnerin zwei Bierkrüge auf den Tisch stellte.

    Katharina, die ihre hellblonden Locken lässig zu einem Dutt gesteckt hatte, trank ihr großes Bier mit gierigen Schlucken.

    „Mein Gott, hab ich einen Durst. Die Hitze trocknet einen so richtig aus. Sie wischte sich mit dem Unterarm den Schaum vom Mund. „Wie war übrigens das Konzert? Ich wäre ja so gerne mitgegangen. Aber du weißt ja, Olaf ist total eifersüchtig. Und wenn uns irgendwelche Kollegen von ihm sähen. Das geht gar nicht.

    „Das kann ich verstehen, mein blonder Engel. Trotzdem, dieses Versteckspiel halte ich langsam nicht mehr aus. Ich möchte dich normal treffen können. Ich möchte jedem zeigen können, was für eine wunderschöne Frau ich habe. Ich möchte mit dir etwas erleben. Ich möchte mit dir zusammenwohnen. Ich möchte mit dir Kinder haben. Und ich will nicht zur Schlafenszeit in irgendwelchen finsteren Spelunken am Stadtrand sitzen und mich wie ein Verbrecher verstecken. Ich liebe dich, Katharina."

    „Ich liebe dich doch auch, Gregor. Aber lass mir noch ein wenig Zeit", säuselte sie und schaute ihn mit ihren großen braunen Rehaugen beschwichtigend an, während sein geäußerter Kinderwunsch in ihr bohrte. Denn obwohl es schon fast drei Jahre her gewesen war, dass sie ihr Baby verloren hatte, tat es ihr immer noch weh. Ihr Junge wäre nun in seiner Trotzphase, kam es ihr in den Sinn. Für Olaf und sie war damals eine Welt zusammengebrochen. Er hatte sich komplett in seine Arbeit vergraben. Sie hatte sich aufs Sofa verkrochen und wochenlang apathisch herumgelegen: kaum gegessen, zuviel Alkohol getrunken, sich um nichts gekümmert. Seitdem kriselte es in ihrer Ehe. Besser gesagt, es krachte.

    „Und dass es heute so spät wurde, dafür kann ich nichts. Du hattest ja im Gegensatz zu mir vorher keine Zeit", bemerkte sie leicht vorwurfsvoll.

    Er beugte sich ein wenig über den Tisch, damit er ihren Arm streicheln konnte.

    „Komm, lass uns nicht streiten, Katharina!"

    Sie winkte mit der freien Hand die Bedienung herbei und bestellte sich noch ein großes Bier.

    Nun entdeckte Gregor einen großen blauen Fleck an ihrem gebräunten Arm. „Was ist denn da passiert?", fragte er besorgt.

    „Nicht so schlimm. Ich habe die schwere Gartenschere auf den Arm bekommen, als ich einen Ast abschneiden wollte, dabei bin ich gestürzt. Und prompt fiel die Schere auf meinen Arm. Manchmal bin ich doch so ungeschickt, sagte sie lächelnd. Dabei erinnerte sie sich, wie Olaf aus dem Schlafzimmer gebrüllt hatte: „Wo ist mein blaues Hemd?

    Blitzschnell und mit klopfendem Herzen war sie ins erste Stockwerk gerannt. Sie versuchte ihm zu erklären, dass sie es wegen der Gartenarbeit und der quälenden Hitze noch nicht geschafft hatte, zu bügeln. Bis zum Bügeln war sie gar nicht mehr gekommen, schon hatte er ihr in die Magengrube geboxt, als wäre sie ein Sandsack. Gnadenlos hatte er weiter auf sie eingeprügelt, als sie bereits wimmernd am Boden gelegen hatte. Nur ihr Gesicht hatte er verschont. Es sollte ja niemand sehen.

    „Was macht denn die Schule?", fragte sie, um das Thema zu wechseln.

    „Alles gut. Bestens. Ich komme mit allen gut klar. Es ist ganz anders als in der Referendariatszeit. Keiner schaut dir mehr über die Schulter. Keiner sagt dir, was du zu tun oder zu lassen hast. Keiner kritisiert dich ständig. Ich habe jetzt praktisch freie Hand. Und ich bin jetzt richtig anerkannt. Irgendwann werde ich noch Schulleiter, dabei rieb er sich selbstgefällig sein Kinn. „Sogar Schiller, Heller und Co akzeptieren mich mittlerweile. Und ich habe eine Menge Spaß mit denen, erzählte er stolz, wobei seine Stimme eine Note zu hoch rutschte.

    „Wie kann man denn mit denen Spaß haben? Oder bist du jetzt auch auf den Hund gekommen?", fragte sie provozierend.

    „Der Gedanke ist nicht ganz abwegig. Ich wünschte mir schon als kleiner Junge einen Hund. Doch meine Eltern erlaubten es nicht. Unsere Wohnung war viel zu klein und wir hatten kaum Geld. Meine Mutter ging putzen, um uns satt zu kriegen. Den Luxus, sich einen Hund zu halten, konnten wir uns nicht leisten. Weder finanziell noch zeitlich. Aber als kleiner Junge verstehst du das nicht. Und es zerreißt dir das Herz." Er trank einen großen Schluck Bier, als wollte er diese Kindheitserinnerungen hinunterspülen.

    Katharina schaute ihn mitfühlend an, während er erzählte. Sie legte ihre Hand liebevoll auf seinen Arm, der auf dem Tisch lag, und streichelte ihn zärtlich.

    „Ein großer Jagdhund wäre schon etwas Feines. Und wenn wir erst zusammenwohnen, könnten wir uns das Gassi gehen teilen, das heißt: Ich übernehme zwei Drittel und du ein Drittel."

    Er sah sie an, als hätte er ihr eine teure Perlenkette geschenkt.

    Katharina verschluckte sich an ihrem Bier und fing an zu husten.

    Gregor stand auf, kam seitwärts auf sie zu und klopfte ihr sachte auf den Rücken.

    Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Sogar diese zarte Berührung tat ihr noch weh. „Danke. Ist schon gut. Ich habe nur zu schnell getrunken."

    „Du kippst Dir das Bier rein, als wärst Du am Verdursten", tadelte er sie.

    Gregor setzte sich wieder.

    Ein unangenehmes Schweigen entstand.

    „Was sagst du dazu?", nahm er den gesponnenen Faden wieder auf.

    „Wozu?", stellte sie sich begriffsstutzig.

    „Nun, zu unserem Hund? Wie wollen wir ihn denn nennen? Ich bin für Napoleon."

    Katharina setzte das Glas wieder an ihre Lippen und trank in vollen Zügen. Danach stellte sie das fast leere Glas wieder auf den Holztisch, wischte sich den Schaum vom Mund und guckte sich im Lokal um.

    „Schau mal, außer uns beiden hocken nur noch zwei einsame, besoffene Typen am Tresen. Wollen wir nicht lieber zu dir gehen?" Sie hatte weiß Gott keine Lust auf eine Diskussion über Hunde. Und sie wollte verdammt noch mal keinen Hund haben. Sie wollte geliebt werden.

    „Gute Idee mit dem Gehen. Ich finde, du hast genug getrunken. Außerdem muss ich morgen früh aufstehen, deshalb wäre es besser, wenn du zu dir fährst. Sei mir nicht böse. Ich habe morgen so einen nichtsnutzigen Referendaren zu betreuen. So einen Nichtskönner. Der unterrichtet morgen in meiner 7b Englisch - past tense und present perfect. Und der Typ kann es selber nicht. Eine totale Graupe, sage ich dir. Wenn ich Fachleiter wäre, ich ließe ihn knallhart durchfallen. Er gähnte lauthals. „Ich bin hundemüde. Es war ein langer Tag. Lass uns losgehen.

    Katharina versetzte es wieder einen Stich. Ihre Gesichtszüge verkrampften sich zusehends. Sie fragte sich auf einmal, ob er schon immer so war. So ich-bezogen. Und seine Aussage über den armen Referendar kränkte sie persönlich. Denn sie war durchs Zweite Staatsexamen gefallen und danach aus allen Wolken. Wegen dieses Schweinehundes von Winfried Heller.

    „Gut, ich lade Dich ein. Und dann fährt jeder zu sich nach Hause", versuchte sie leichthin zu sagen, während sie ihren Ärger runterschluckte.

    Gregor war sofort einverstanden. Als Katharina die Rechnung bezahlte, guckte er verlegen beiseite, suchte wichtigtuerisch nach seinem Autoschlüssel und freute sich insgeheim über das gesparte Geld. Nach einem kurzen Abschiedskuss fuhr jeder seiner Wege.

    Dienstag, 01.22 Uhr

    Katharina fuhr ihren Wagen rückwärts in die Einfahrt, schaltete den Motor aus, suchte in ihrem Prada-Rucksack nach dem Hausschlüssel und stieg aus. Der Kies knirschte unter ihren Stiefeln, während sie ein paar Schritte zur Eingangstür lief. Sofort sprang der Bewegungsmelder an. Sie schloss die knallrote Eingangstür mit dem goldenen Löwenknauf auf. Das war ein Andenken aus London, ein Andenken aus einer glücklichen Zeit. Lange schien es her zu sein, sie konnte sich kaum noch an dieses Gefühl von Glück erinnern.

    Als sie in der großen Diele stand, sah sie sofort das Blinken der Diode. Das rote Lämpchen erschien ihr wie ein Warnsignal. Sie atmete tief durch, bevor sie mit schlechtem Gewissen den Knopf des Anrufbeantworters drückte, denn sie ahnte, wer es war.

    „Sie haben eine neue Nachricht. - Hallo, Kathi. Ich bin es. Ich wollte dir nur sagen, dass ich länger in Polen bleiben muss. Die Geschäftslage erweist sich als besonders schwierig. Rechne also nicht vor nächstem Mittwoch mit mir. Sag mal, wo steckst du eigentlich? Ich versuche den ganzen Abend dich zu erreichen. Egal. Ich muss jetzt Schluss machen, die Geschäftsleute warten auf mich. Bis dann. Piep, Piep."

    Sie atmete erleichtert auf. Eine ganze Woche noch sturmfrei. Eine Woche lang keine Schläge. Sieben Tage keine Angst. Sie schaltete das Licht ein und lief durchs große Haus, das sich in einer der besten Wohngegenden Hannovers, dem Zoo-Viertel, befand. Es war ein wunderschöner Jugendstilaltbau, den sie aufwendig renovieren ließen. Denn Olaf war ein Karrieretyp. Ein Sohn aus gutem Hause. Ein Snob. Und ein brutales Arschloch.

    Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn das Haus ihr allein gehören würde. Eine herrliche Vorstellung. Sie überlegte, während sie durch die Räumlichkeiten schlenderte, was sie alles verändern würde. Diesen ganzen Designerkram, besonders der im Wohnzimmer, würde sie als erstes hinauswerfen. Es sah zwar edel aus, aber es wirkte kalt. Alles in schwarz und weiß gehalten. Raus damit! Auf diesen teuren Sesseln konnte man nicht mal seinen Kopf anlehnen. Weg damit! Stattdessen ein rotes, weiches Kuschelsofa mit vielen Kissen. Und zwei bequeme Ohrensessel. Und Sitzkissen auf dem Boden. Ein paar große Grünpflanzen wären nicht schlecht, dachte sie. Vor allem müssten diese grässlichen, abstrakten Kunstbilder von der Wand. Überwiegend in kalten Farben gehalten. Schrecklich. Jetzt fiel ihr ein, dass Olaf beim Renovieren den Ton angegeben hatte. Er war wenig kompromissbereit gewesen. Es war ja schließlich sein Haus. Leider.

    Am liebsten hätte sie ein Messer gegriffen und die kostbare aber kalte Kunst damit zerstört. Am liebsten würde sie alles zerstören, was sie zerstört hatte. Auch ihren brutalen Ehemann, diesen kalten Fisch.

    Danach würde sie das Haus und ihr Leben bunter und gemütlicher gestalten. Nur wovon sollte sie leben? Ihr Berufstraum Lehrerin war ja nun passe´. Die Schweine haben mich durchfallen lassen, schoss es ihr wieder durch den Kopf. Knallhart. Gnadenlos.

    Unwillkürlich ergriff sie die kostspielige Berliner Blumenvase und schleuderte sie durch das Zimmer. Sie schmetterte gegen die Wand, sodass sich die Scherben über das glänzende Fischgrätparkett ausbreiteten und die roten Rosen den Boden wie Blutstropfen besprenkelten. Ein Rinnsal breitete sich langsam aus und kroch ins teure Holz. Es war ihr egal. Scheißegal. Nun schleuderte sie den nächsten Gegenstand, es war ein Geschenk seiner Eltern, eine große Porzellanstatue, durch den Raum. Sie krachte aufs Parkett und zersprang. Es tat so gut. Verdammt gut. Sie stapfte in die Küche, griff sich die angebrochene Wodkaflasche aus dem Kühlschrank und kippte sich den Alkohol hinein. Der Wodka brannte in ihrer Kehle. Er wirkte sofort. Nach ein paar Schlucken fühlte sie sich noch ein bisschen besser. Entspannt. Sie schnappte sich nun eine Packung Erdnussflips, eine Tafel Schokolade, die Flasche Wodka, lief damit ins Schlafzimmer, schaltete den Flachbildschirm ein und kuschelte sich mit ihrem kulinarischen Trost in die Kissen.

    Ein Liebesfilm lief.

    Tränen strömten über ihr Gesicht. Warum? Warum habe ich nur so viel Pech mit den Männern?, dachte sie verzweifelt. Was habe ich nur getan?

    Dienstag, 8.25Uhr

    Der neununddreißigjährige Hauptkommissar Jan Jäger saß übermüdet und verkatert in dem Zweierbüro der Polizeidirektion Hannover am Waterlooplatz und blätterte lustlos in einer alten Akte herum. Er musste sich durch die liegengebliebenen Aktenberge arbeiten, die ihn gewiss noch ein paar Tage beschäftigen würden. Er hasste Papierkram. Vielmehr noch hasste er es, einen ganzen Tag lang am Schreibtisch sitzen zu müssen. Er brauchte Action. Bewegung. Er rieb sich seine schmerzende Stirn. Gestern hatte er eindeutig zuviel Wein getrunken und das bei dieser fürchterlichen Hitze. Um die Einsamkeit zu betäuben, allein auf seinem Balkon.

    Sein Blick streifte die Hannover 96 - Fahne an der Wand. Ein Relikt von seinem alten Kollegen und Freund Peter, der nach Berlin gezogen war. Wegen einer Frau. Dabei waren sie beide eingefleischte, zufriedene Singles gewesen. Und jetzt? Jetzt schmeckte Jan sein Junggesellenleben auch nicht mehr, insbesondere seit die neue und verdammt hübsche Diana Templin Peters Platz eingenommen hatte. Seit ungefähr sechs Monaten wusste er nicht, wie er es anstellen sollte, sie für sich zu gewinnen. Auf die übliche Art und Weise konnte er sie nicht anbaggern.

    Erstens: Er war ihr Vorgesetzter.

    Zweitens: Er war leicht aus der Übung.

    Drittens: Er war verliebt in diese Frau.

    Seit Ewigkeiten mal wieder.

    Er schaute auf die große Wanduhr. 8.27 Uhr. Ganz schön spät dran die Dame, dachte er und zuckte zusammen, als Kriminalrat Sven Meyer, sein Chef, in den Raum stürmte. „Was für ein beschissener Tag! Diese widerliche Hitze und dazu eine Leiche zum Frühstück. Der siebenundfünfzigjährige, dickbäuchige Meyer tupfte sich den Schweiß mit einem Stofftaschentuch von seiner Halbglatze. „Ein Toter wurde in einem Maisfeld in Bothfeld gefunden, in der Nähe des Jägerstiegs. Also Jäger, auf zur Jagd! Zwei Streifenwagen sind schon vor Ort. Die Spurensicherung ebenfalls. Wo ist Templin?, fragte er vorwurfsvoll und schaute demonstrativ auf seine goldene Armbanduhr.

    „Auf dem Klo, Chef", log Jäger.

    „So genau wollte ich es nicht wissen. Sehen Sie zu, dass Sie sich zum Fundort begeben. Möglichst bald", herrschte Meyer ihn an.

    „Bin ja schon unterwegs, Chef", erwiderte Jäger patzig. Doch er ließ sich nicht hetzen. In aller Seelenruhe ging er zum Garderobenständer, nahm seine Jeansjacke, die er sogar bei Hitze benötigte, um seine Arbeitsutensilien wie Latexhandschuhe, Plastikbeutel, Visitenkarten verstauen zu können, vom Haken, zog sie sich an, lief zurück zum Schreibtisch und griff sich seine Zigaretten, sein iPhone und verstaute alles in seiner Jackentasche, setzte sich seine Ray-Ban auf, marschierte zum Wandspiegel, warf einen Blick hinein und fuhr sich mit den Händen durch seine straßenköterblonden Haare. Dann verließ er kommentarlos den Raum, wobei er die Tür krachend in Schloss fallen ließ.

    „Vollidiot!", grummelte Jäger in sich hinein. Der Alte hat mal wieder schlechte Laune. Wie so oft in letzter Zeit. Er rannte die Treppen vom dritten Stockwerk hinunter. Draußen auf dem Parkplatz angekommen, fischte er seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn ins Schloss seines alten dunkelroten Benz. Er klopfte aufs Dach und sprach: „Harry, wir sind dran. Es gibt wieder dreckige Arbeit." Jan fuhr nur selten mit einem der Dienstfahrzeugen, denn er liebte diesen Kultwagen: ein 200D/8 mit Schiebedach und Hochkantscheinwerfern. Er nannte ihn Harry, denn der amerikanische Filmcop Dirty Harry war sein Vorbild und das Allerweltsauto des letzten Jahrhunderts besaß für ihn eine Seele. Er öffnete die Autotür, stieg ein und fuhr los. Sofort drückte er die Handynummer von Diana Templin.

    „Hey, Diana, wo steckst du?", brummte er in die Freisprechanlage, das einzig Moderne an diesem Wagen.

    „Bin schon unterwegs ins Büro. Konnte heute so schlecht schlafen."

    „Nix Büro, fahre nach Bothfeld, Jägerstieg, in der Nähe des Naturschutzgebietes. Wir haben mal wieder richtige Arbeit."

    „Nee, auch das noch! Bis gleich, Kumpel."

    „Okay, bis..." Sie hatte aufgelegt.

    Jan grinste verzerrt in den Rückspiegel. „Kumpel!", äffte er widerwillig nach. Kräftig drückte er aufs Gaspedal; Harry jaulte auf. Meyer hatte Recht, was für ein beschissener Tag.

    Auf der Podbielskistraße herrschte mal wieder Vollbetrieb und Jäger fluchte wie wild, wenn eine lahme Ente oder eine leuchtend rote Ampel ihn am Fahren behinderten. Nach einer nervenaufreibenden Fahrt gelangte er endlich zum Tatort. Jäger wies sich gegenüber den uniformierten Beamten aus, sprang mühelos aus dem Stand über die rotweiße Absperrung und schob sich seine Sonnenbrille auf den Kopf.

    „Wo liegt denn das gute Stück?", fragte er den blassen Beamten.

    „Dort drüben im Maisfeld liegt der Tote. Wir haben nichts angerührt!", verteidigte der Polizist sich im Vorfeld.

    „Gut so!, er klopfte ihm auf die Schulter. „Wer hat ihn gefunden? Wissen wir schon, wer es ist?

    „Ein Hund hat ihn gefunden, Herr Hauptkommissar", antwortete der Uniformierte.

    „Aha, und hat der Hund Ihnen auch erzählt, wie die Leiche heißt?"

    „Nein, natürlich nicht, Herr Hauptkommissar. Sein Herrchen kennt den Toten. Es soll ein Nachbar sein, aber seinen Namen kannte er nicht."

    „Ich dachte, es wurde nichts angerührt. Wie konnte sein Herrchen denn den Toten erkennen?", fragte Jäger mit Ironie. Er wollte den kleinen Beamten ein wenig verunsichern, denn Scheiße rollte bekanntlich von oben nach unten.

    „Tut mir leid, das weiß ich nicht. Da müssen Sie ihn schon selber fragen. Er sitzt im Streifenwagen. Ihre Kollegin, Frau Templin, ist gerade bei ihm, soweit ich weiß."

    „Danke. Entspannen Sie sich", er klopfte dem jungen Mann abermals auf die Schulter. Dann konnte sie noch nicht lange unterwegs gewesen sein, als er sie anrief. Ertappt! Jetzt grinste Jäger.

    Durch das mannshohe Gestrüpp bahnte er sich einen Weg zu dem Leichnam und dem über ihm hockenden Rechtsmediziner der medizinischen Hochschule Hannover, Professor Dr. Christian Bäumler, Jägers Lieblingspathologe. Er bewunderte Bäumler, dass er sich tagein, tagaus mit dem Aufschneiden von Leichen beschäftigen und den Toten ein Thermometer manchmal in einen zum Teil verwesten oder verschissenen Hintern stecken konnte. Und dies alles bei einem unerträglichen Gestank. Und niemals verlor er dabei seine gute Laune. Christian Bäumler war ein sportlicher Mittvierziger, allzeit braungebrannt, meistens von der Sonnenbank. Sein ehemals schwarzes Haar war graumeliert, aber immer noch dicht. Ein akkurat gezogener Seitenscheitel seiner ohrläppchenlangen Haare verlieh ihm einen aristokratischen Ausdruck, der durch seinen perfekt geschnittenen Dreitagebart verstärkt wurde. Bäumler wirkte wie alter Landadel und an Verehrerinnen mangelte es dem Junggesellen nicht. Jäger wusste, dass er einige seiner Studentinnen im Bett gehabt hatte. Heute trug Bäumler einen seiner maßgeschneiderten Anzüge, die immer so lässig wirkten. Taubengrau. Weiße Einweg-Überziehschuhe überdeckten seine teuren Lederschuhe. Handgenäht. Eigentlich ist er ein arroganter Snob, dachte Jäger. Trotzdem, er mochte ihn, vor allem wegen seines makabren Humors und seiner hervorragenden Arbeit, die genauso akkurat war wie sein Scheitel. Zwischen den beiden herrschte eine kumpelhafte Kollegialität, die allerdings nicht über das berufliche Leben hinausging.

    „Fünf Einstiche, welcher davon tödlich war, kann ich noch nicht sagen. Kampfspuren habe ich bislang keine entdeckt", erklärte Bäumler statt einer Begrüßung.

    „Guten Morgen, Bäumler."

    „Guten Morgen ist gut."

    „Sei froh, du lebst doch nicht schlecht von den Toten. Hatte er etwas bei sich?"

    „Nein, nur einen Schlüsselbund. Keine Brieftasche etc."

    „Hast du die eingesteckt? Oder war es Raubmord?"

    „Guck dir den mal genau an! Sieht der aus, als hätte er eine goldene Visa Karte? Die Bermudas sieht billig aus und das T-Shirt hat seine beste Zeit hinter sich. Und erst diese abartigen Sandalen..."

    „Kein Wunder. Das T-Shirt ist zerfetzt und blutverschmiert. Im Übrigen kann nicht jeder so teure Designerklamotten tragen wie die Herren Doktoren."

    „Höre ich da so etwas wie Neid?" konterte Bäumler ohne aufzublicken.

    „Wie lange ist er tot?" fragte Jäger nun geschäftstüchtig.

    „Gedulde dich einen kleinen Moment. Zaubern kann ich nicht. Er tastete die Haut des Leichnams ab, holte ein Thermometer aus der neben ihm stehenden Tasche, maß die Temperatur des Toten rektal. Nach einem kurzen Moment zog er das Thermometer wieder heraus. „Achtundzwanzigneun. Die Leichenstarre ist vollständig ausgebildet, ebenso die Leichenflecken. Die Außentemperatur beträgt jetzt 22,5 Grad Celsius, er hielt einen Moment inne und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Bisschen zu schick angezogen, dachte Jäger. Und morgen muss der teure Anzug in die Reinigung. Er bemühte sich ein Grinsen zu verkneifen.

    „Also, ich vermute, er liegt circa zehn bis zwölf Stunden hier."

    Jäger schaute auf seine Uhr und rechnete. „Die Tatzeit liegt demnach zwischen 21.30 Uhr und 23.30 Uhr."

    „Kommt hin, antwortete Bäumler trocken, piekte mit einer Pinzette eine weiße schleimige Made auf und ließ sie in ein Gefäß fallen, in dem sich einige nekrophage Insekten tummelten. „Wollen wir den Fleischfressern mal einen ordentlichen Schluck Alkohol zum Nachspülen geben, scherzte er, „ich bin ja schließlich kein Unmensch. Und du hast

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