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Drausserhalb: Eine Suche nach Geborgenheit
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eBook326 Seiten4 Stunden

Drausserhalb: Eine Suche nach Geborgenheit

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Über dieses E-Book

Beiden soll die 1949 unehelich geborenen Bettina ein bequemeres Leben ermöglichen: Der despotischen Großmutter Ottilie, die das Kind als Buben erzieht, ihm Scham und Wertlosigkeit einredet, Dankbarkeit, Gehorsam und Arbeitsleistung fordert. Ebenso der unzufriedenen Mutter Luise, die das Kleinkind bei ihrer Mutter zurückließ, und später die Achtjährige zum Arbeiten in ihre kinderreiche Familie entführt. Ausgrenzung, Lügen und Gewalt, Schulverbot, stetiges Hin- und Herschieben zwischen Mutter und Großmutter, prägen Bettinas weitere Jahre. Niemand steht zu ihr. Die Heranwachsende versucht pflichtbewusst, sich Liebe und Geborgenheit zu verdienen, bis sie die völlige Selbstbezogenheit von Mutter und Großmutter erkennen muss. Mit siebzehn verliebt sie sich in den älteren Georg, der sie trotz ihrer angenommenen Wertlosigkeit will. Ihr Traum von Liebe und Geborgenheit wird greifbar. Doch die eifersüchtige Großmutter bedroht sie zunehmend. Bettina flüchtet nach einem schlimmen Streit und findet Hilfe beim Jugendamt. Georg zeigt plötzlich ein zweites Gesicht. Wie wird Bettina ihren Traum verwirklichen?

Die Bettina-Kolpin-Reihe greift die Themen Narzissmus und Co-Abhängigkeit auf, und macht Lesern Mut, sich aus krankmachenden Abhängigkeiten zu befreien.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. März 2022
ISBN9783347585997
Drausserhalb: Eine Suche nach Geborgenheit

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    Buchvorschau

    Drausserhalb - Heike Möller

    Kapitel 1

    April 1949

    Kirchtaufen

    Ein eisiger Wind wehte durch die alte Kastanienallee, direkt an der Landstraße zwischen Uhlensack und Kirchtaufen. Immer wieder drehten die eisenbeschlagenen Räder des kleinen Handwagens durch, rutschten auf dem sandigen Radweg neben dem Grünstreifen. Ein VW Käfer holperte ihnen auf dem Kopfsteinpflaster entgegen. In seinen trüben Scheinwerfern bemerkte Luise ein beginnendes Schneetreiben. Ihre Stirn fühlte sich an, als sei der Schweiß darauf gefroren. Keuchend zog sie das dunkelblaue wollene Kopftuch tiefer über ihr schulterlanges blondes Haar und verknotete einen Zipfel über die spröden Lippen. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten in den ausgetretenen braunen Schnürstiefeln. Das warm eingepackte Bündel in dem Handwagen brüllte immer fordernder.

    Pscht, ruhig, Bettina, gleich gibt es Happihappi!

    Die junge Frau blieb stehen und band den Gürtel ihres umgearbeiteten Wehrmachtmantels fester um die Taille.

    Mannomann, muss es jetzt im April noch einmal so einen Wintereinbruch geben?, stöhnte sie, ergriff wieder den knorrigen Holzgriff der schmalen Deichsel und versuchte, schneller auszuschreiten. Von der Zuckerfabrik wehte der typische Geruch herüber, leicht süß und verbrannt.

    Das Schneetreiben nimmt zu! Luise drehte sich zu ihrem Stiefvater Fritz um, der sich mühte, den kleinen Holzhandwagen anzuschieben.

    Auch das noch! Es ist doch schon schwer genug! Blöder Sandweg!, keuchte er in seinen nassen Wollschal. In der Ferne tauchten die Lichter des Hofguts Krähenbüttel auf. Nachdem sie die Anhöhe erreicht hatten, kamen die ersten beleuchteten Fenster der Häuser von Kirchtaufen in ihren Blick. Immer noch bogen sich die Äste der alten Alleebäume unter dem eisigen Wind. Luise sah sich wieder zu Fritz um und versuchte, ihr Zähneklappern zu unterdrücken.

    Papa, der Wind heult so! Und der heftige Schnee! Das ist so gruselig! Papa, ich habe Angst, dass sie mich jetzt holen! Papa!

    Luise, niemand holt dich! Lass diese Ammenmärchen! Du bist erwachsen!

    Der schmächtige Mann schniefte geräuschvoll, wischte sich mit dem Ärmel der schneenassen Wolljoppe über das Gesicht und schob das knarrende Gefährt kräftiger an. Das unter den schweren Kissen verborgene Kind weinte immer heftiger.

    Wer soll dich denn holen, Luise?, keuchte er. Da ist nichts! Reiß dich zusammen und beruhige das Kind! Wir sind gleich im Dorf. Denk an die Leute! Wenn deine Mutter das Brüllen hört, regt sie sich wieder furchtbar auf. Du kennst sie doch. Mensch, dass es so einen Wintereinbruch noch mal geben würde? Der Plan deiner Mutter wäre fast schiefgegangen!

    Fritz lief nach vorn und zog gemeinsam mit Luise an der Deichsel. Sein alter Wehrmachtmantel war völlig durchnässt, und seine geschnürten Lederstiefel gaben mit jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich. Luises zog einen Zipfel ihres nassen Wollschals vor den Mund. Ihre Füße waren so kalt, dass sie ihre Zehen nicht mehr spürte.

    Der Sandweg führte jetzt leicht bergab, und der Handwagen begann, selbstständig zu rollen. Luise und Fritz boten alle Kräfte auf, ihn zu halten. Der kalte Wind verstärkte sich. Der Schneefall hatte nachgelassen. Hinter dem schmalen Waldstück neben dem Gutshof Krähenbüttel kam das Signal einer Lokomotive näher. Von seiner dunkelgrünen Schirmmütze tropfte Fritz Wasser ins Gesicht. Er zog sie fester auf den Kopf.

    Papa, was ist das? Was heult da? Das ist gruselig!

    Luise, das ist doch nur der Güterzug von Lüneburg nach Uhlensack. Gleich hält er an der Zuckerfabrik. Sie wollen heute Nacht Rübenblatt verladen, hat mein Kollege gesagt. Der hat Nachtschicht. Gut, dass ich heute nicht dran bin mit der Schicht. Sonst… Der Rest des Satzes verlor sich im Wind. Schweigend zogen

    beide den Handwagen die leichte Anhöhe hinauf nach Kirchtaufen.

    Luise, wir sind gleich da!

    Fritz blieb stehen und wies auf das rostige Ortsschild. Die junge Frau atmete schwer und versuchte, die hervorquellenden Tränen zu unterdrücken. Das Kind weinte heftiger. Ein Hund schlug an, und an einem der ersten Häuser flammte ein Licht auf. Fritz stieß Luise an.

    Um Gotteswillen! Suche den Schnuller! Beruhige das Kind! Was sollen die Leute denken?

    Lauschend drehte er sich nach allen Seiten um. Wenn sie nur niemand sah. Luise nestelte in der Manteltasche nach dem zweiten Schnuller und steckte ihn dem Säugling in den Mund. Sofort trat Ruhe ein.

    Bei dem Gedanken, ihrer Mutter Ottilie gleich zu begegnen, kroch Angst in ihr hoch. Das Kloßgefühl im Hals nahm ihr fast die Luft. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

    'Ottilie, meine Mutter, die Selbstgerechte', dachte sie bitter. 'Meine Mutter, die immer recht hat und der ich nie etwas recht machen kann. Die mich nach Kriegsende als Tommy-Hure beschimpfte, sich aber die Schokolade schmecken ließ, die ich mitbrachte.'

    Sie wischte sich mit dem rauen Mantelärmel über das Gesicht und atmete tief ein, um sich zu beruhigen.

    Solange sie denken konnte, hatte ihre Mutter, eine kleine, korpulente Frau mit lauter, durchdringender Stimme, rücksichtslos alles durchgesetzt, was ihr in den Sinn kam. 'Feldmarschall', nannte ihr zweiter Mann Fritz sie insgeheim. Luise fürchtete sich vor ihr. Allein ihr lautes Schimpfen machte ihr Angst. Sie fühlte sich dann wie ein Wurm, den ihre Mutter gleich zertreten würde. Warum konnte ihre Mutter sie noch immer so beherrschen? Sie war doch erwachsen.

    Der alte Handwagen holperte über das Kopfsteinpflaster der schmalen Dorfstraße. Noch mehr Hunde begannen zu bellen. Der Schnee war mittlerweile in heftigen Regen übergegangen und peitschte ihnen ins Gesicht. Die alten Eichen entlang der Dorfstraße knarrten im Wind. Das Kind begann wieder zu weinen.

    Luise, beruhige die Kleine irgendwie, bis wir durch das Dorf sind. Deine Mutter wird sonst wieder toddern!

    Fritz angstvoller Ton machte Luise noch nervöser. Ihr Mund war trocken und ihre Kehle wie zugeschnürt. Die Angst kroch ihr Wirbel für Wirbel den Rücken nach oben. Angst vor der Begegnung mit ihrer Mutter. Sie versuchte, an etwas Gutes zu denken.

    'Luise, sei doch froh, dass deine Mutter dich mit dem Kind wieder aufnimmt. Wo du doch solch eine Schande über die Familie gebracht hast, dass Mutter dich schwanger aus dem Haus werfen musste. Ein uneheliches Kind!'

    Sie versuchte, sich einzureden, ihrer Mutter gegenüber dankbar sein zu müssen. Sie würde mit der Kleinen wieder ein Zuhause haben.

    'Ja', dachte sie, 'ein Zuhause, aber als ein Gefängnis, mit meiner Mutter als Gefängniswärterin. Ich hätte doch so gern mein Leben genossen! Singen, tanzen, fröhlich sein!'

    Luise, bitte! Der Schnuller ist schon wieder weg! Suche ihn!

    Die verzweifelte Stimme ihres Stiefvaters holte sie in die Gegenwart zurück. Während er den Handwagen weiterzog, versuchte Luise, den Schnuller in den Kissen und Decken zu finden. Das Kind weinte wieder lauter. Luise brach trotz der Kälte der Schweiß aus. Endlich hatte sie ihn zwischen den Decken gefunden. Sie lutschte ihn sauber, spuckte aus und gab ihn der Kleinen in den Mund. Außer dem Heulen des Windes war nun nichts mehr zu hören. Luise lief hinter das kleine Holzgefährt und schob es an. Sie fuhr sich über die tränennassen Augen. Ihre Gedanken gingen zurück.

    ***

    Gut sieben Monate zuvor war sie im Celler Waisenhaus, das ledige Schwangere aufnahm, untergekommen. Nach ihrer Entbindung in der Landesfrauenklinik durfte sie wieder dorthin zurückkehren. Ihrer Mutter Ottilie und ihrem Stiefvater Fritz hatte sie am nächsten Tag Bettinas Geburt per Postkarte mitgeteilt.

    Zu ihrer Überraschung stand Ottilie vor drei Tagen plötzlich im Heim und erklärte, sie wolle Luise und den Säugling in den nächsten Tagen nach Kirchtaufen holen. Hanna, die ältere Schwester, sei ausgezogen und würde demnächst einen Steuerberater heiraten. Und da in Kirchtaufen bekannt geworden sei, dass Luise seit längerer Zeit nicht mehr dort wohne, hätten sie und Fritz zwei frei werdende Räume an andere Flüchtlinge abgeben müssen.

    Ottilie sei dann eingefallen, dass Luise mit dem Baby Anspruch auf zwei Räume in der ehemaligen Villa habe, in die sie nach ihrer Ausreise aus Sachsen, die Ottilie stets als Flucht bezeichnete, eingewiesen worden waren. Luise könne mit dem Kind in dem kleinen, ausgebauten Kellerraum wohnen. Sie und Fritz würden dann die gesamte obere Wohnung für sich haben.

    Allerdings dürften die Leute in Kirchtaufen nichts von der Heimreise mitbekommen. Bisher habe sie die Familienschande, den Bastard, verheimlicht. Sie plane, ihr Mann Fritz solle Luise am kommenden Montag spätnachmittags vom Bahnhof in Uhlensack mit dem Handwagen abholen. So würden sie das warm eingepackte Kind im Dunkeln möglichst ungesehen nach Kirchtaufen bringen.

    Am nächsten Morgen wäre das Kind bereits in der Wohnung. Ihr würde schon etwas einfallen, was sie den Leuten erzählen könne. In diesen Nachkriegszeiten gab es die abenteuerlichsten Dinge. Ein Baby könne von überall her kommen.

    ***

    Der Schneeregen hatte völlig aufgehört, dafür nahm der Wind zu. Äste der Alleebäume knirschten und bogen sich. Schiefe Gartentore klapperten. Immer noch bellten Hofhunde unter dem Rasseln ihrer Ketten die Ankommenden an. Ein verbeulter Eimer wurde über das Kopfsteinpflaster getrieben. Fritz hielt mit der linken Hand seine Mütze fest. Die rechte umklammerte die Holzdeichsel. Luise konnte ein erneutes Zähneklappern nicht unterdrücken. Sie schritten kräftiger aus und duckten sich unter den einzelnen Böen. Der Säugling begann wieder zu schreien. Fritz sah sich ängstlich nach allen Seiten um.

    Luise, die Leute! Oh, bei Meyers geht die Haustür auf! Hoffentlich fragen die nicht! Oh Gott, oh Gott, deine Mutter wird schimpfen und toddern! Er keuchte.

    An der mächtigen alten Dorflinde machte die Straße eine Abbiegung nach rechts. Schnee wehte vom Dach des kleinen Postgebäudes. Ein Scheunentor auf dem linksseitigen Bauernhof schlug wie im Takt gegen eine Mauer. Die Kabel der Telegrafenmasten summten.

    Im Schein der schwachen Außenbeleuchtung eines in der Dunkelheit herrschaftlich wirkenden zweigeschossigen Hauses hob sich Ottilies kleiner runder Leib in einem dunklen bodenlangen Mantel ab. Ihr wollenes Kopftuch hatte sie tief ins Gesicht gezogen. Wild fuchtelte sie mit ihren kurzen Armen herum.

    Wie lange soll ich noch warten? Luise, mach das Gör ruhig! Was sollen die Leute denken! Beeilt euch! Alle wachen doch von dem Geschrei auf! Oh Gott, oh Gott, was sollen nur die Leute denken!

    Luise kämpfte gegen das Bedürfnis an, sofort wieder umzukehren und mit der Kleinen in die Nacht zurücklaufen. Sie begann zu schluchzen.

    Papa, sie hat sich nicht geändert. Ich halte das nicht aus!

    Fritz sah sie warnend an und zog heftiger an der Deichsel.

    Luise, du kennst sie doch, sie ist alt!

    Ja, dass die Mutter alt ist, sagst du immer als Entschuldigung dafür, dass sie alle herumkommandiert, murmelte Luise in ihr Wolltuch.

    Fünfundfünfzig ist sie, das ist doch noch kein Alter, um sich so aufzuführen. Und alle kuschen vor ihr!

    Luise konnte sich nicht daran erinnern, ihre Mutter je anders als gebieterisch erlebt zu haben. Immer hatte sie sich nach einer liebevollen Mutter gesehnt, so wie die Mutter von Renate, ihrer alten Schulfreundin. Ottilie bestimmte über alles um sie herum. Schaudernd fiel Luise der immer alles entscheidende Satz ein. Das kommt ja gar nicht infrage! Egal, mit welcher Bitte sie an ihre Mutter herantrat. Und dabei spielte es keine Rolle, ob es um die Erlaubnis ging, spielen gehen zu dürfen, oder um den Wunsch nach einem neuen Kleid. Ottilie entschied grundsätzlich zuerst einmal dagegen. Und alle fügten sich. Fritz hatte sich im Laufe ihrer langjährigen Ehe angewöhnt, sämtliche Ansprüche seiner Frau mit einem ja, Ottilie, ja, zu kommentieren.

    Durch ihren massigen Körper und ihre durchdringend tiefe Stimme wirkte Ottilie Respekt einflößend. Diese Stimme konnte urteilen, verurteilen. Vor dieser Stimme erzitterte nicht nur Luise.

    Fritz war ihr zweiter Mann. An ihren Vater konnte sich Luise nur bruchstückhaft erinnern. Als er die Familie verließ, war sie ein Kleinkind. Damals in Sachsen, gegen Ende der Zwanzigerjahre war der Vater eines Tages verschwunden. Die Mutter räumte unmittelbar danach alles fort, was an ihn erinnerte. Luise und ihren älteren Geschwistern Hanna, Jochen und Ilse wurde verboten, den Namen des Vaters auch nur zu erwähnen.

    Von diesem Mistkerl mit seinen Weibergeschichten will ich nichts mehr hören, habt ihr verstanden? Nie mehr ein Wort!

    Nach der Trennung von ihrem Vater kam sehr bald der nette Kaffeehausmusiker Fritz zu ihnen. Lächelnd dachte Luise an das Knarren der Diele, wenn Fritz, oder Onkel Fritz, wie sie ihn damals nannte, gegen Morgen aus Mutters Zimmer die Treppe herunterschlich. Heute war sich Luise nicht mehr sicher, ob die Mutter Onkel Fritz wirklich erst nach der Trennung vom Vater kennengelernt hatte.

    Ihre so moralisch auftretende Mutter würde doch wohl nicht mit zweierlei Maß messen? Denn gerade sie achtete doch besonders, wie sie es ausdrückte auf Sitte und Moral in unserer Familie.

    Onkel Fritz, ein schmächtiger, dunkelhaariger, stiller Mann, machte seinerzeit Abend für Abend im Café Schönfeld gemeinsam mit einem Stehgeiger Kaffeehausmusik. Luise und ihre älteren Geschwister mochten den kleinen freundlichen Mann. Er brachte ihnen die Aufmerksamkeit entgegen, die sie bei der Mutter vermissten.

    Im Frühjahr 1929 heirateten die Mutter und der zehn Jahre jüngere Onkel Fritz. Die Kinder nannten ihn ab diesem Zeitpunkt Papa. Sie taten es gern, und im Laufe ihres Lebens wurde er 'unser Vater'.

    Fritz hatte stets für alle Kinder ein offenes Ohr. Luise konnte mit all ihre kleinen und großen Sorgen zu ihm kommen. Er hörte geduldig zu. Das Verhältnis zwischen Luise und ihrer Mutter verschlechterte sich jedoch zusehends, je älter sie wurde. Oft spürte sie eine Form von Hass bei Ottilie. Ihr Ausspruch Du bist genau wie dein Vater, begleitete sie durch ihre Kindheit und durch die Jugend. Sie fühlte sich so wertlos, wie er wohl gewesen sein musste. Doch ihr Vater war Fritz, der sich aber nie getraute, seiner Frau zu widersprechen. Wenn sich Luise weinend bei ihm beklagte, antwortete er fast gebetsmühlenartig: Du weißt doch, sie ist alt.

    Ottilie war eifersüchtig auf das gute Verhältnis zwischen ihrer heranwachsenden jüngsten Tochter und ihrem Mann. Um den Beschimpfungen ihrer Mutter auszuweichen, übernachtete Luise so oft es möglich war, bei ihrer Freundin Renate. Doch auch auf Renate war die Mutter eifersüchtig und verbot den Umgang.

    Der Zweite Weltkrieg, wie er später einmal genannt werden würde, war ausgebrochen. Fritz wurde eingezogen und kam an die Westfront. Ottilie lebte mit ihren Kindern in einer kleinen Kellerwohnung in Leipzig. Auch der Sohn Jochen wurde 1944 eingezogen. Als die russische Front immer näher rückte, beschloss Ottilie, in Richtung Westen zu gehen. Ottilies Schwestern Else und Gertrud schlossen sich mit ihren Kindern an und nahmen den fast achtzigjährigen Großvater mit. Mit Schauern dachte Luise an die nächtlichen Zugfahrten, durch die kahle und teilweise zerstörte Landschaft Sachsens und Anhalts, die oftmals mitten auf der Strecke endeten und Fußmärsche von Bauernhof zu Bauernhof nach sich zogen. In diese Zeit hinein kam das Kriegsende.

    Ottilie und ihre Schwestern wurden mit dem alten Vater als Flüchtlinge dem Kreis Uhlensack in der Lüneburger Heide zugeteilt. Luise hatte bisher nichts von diesem Ort gehört. In einem Viehtransportwagen der Bahn kamen sie dort an. Die Dorfbewohner des kleinen Vororts Kirchtaufen mussten eine Unterkunft für die Flüchtlinge frei machen.

    Kirchtaufen, eine kleine beschauliche Gemeinde mit ungefähr dreihundert Einwohnern, an der Bundesstraße vier in der Senke zwischen Uhlensack und Bad Bavensen gelegen, wurde ihre neue Heimat. Luise fand bald Kontakt zu den Einheimischen. Ottilie ließ sich mit keinem der Dorfbewohner näher ein. Bald galt sie im Ort als vornehme Dame, die sich auch durch ihr äußerlich elegantes Auftreten Respekt verschaffte.

    Als Fritz aus der englischen Kriegsgefangenschaft zurückkam, fand er Arbeit in der Warenannahme der Uhlensacker Zuckerfabrik. Sohn Jochen war nicht aus dem Krieg zurückgekehrt und galt als vermisst. Die ältere Schwester Ilse hatte einen afrikastämmigen Besatzungssoldaten geheiratet und lebte in Süddeutschland. Die ältere Schwester Hanna ließ sich von ihrer Mutter Ottilie nichts sagen. Sie war mit einem angehenden Steuerberater verlobt. Luise war Ottilies Machtanspruch nicht gewachsen und ließ sich von ihrer Mutter herumkommandieren. Nichts konnte sie ihrer Mutter recht machen. Ottilie hielt ihr ständig Hanna als leuchtendes Beispiel vor. Luise sollte sich wie sie verhalten.

    Auch Hanna sprach mit ihrer jüngeren Schwester stets in einem Befehlston. Luise fühlte sich klein, hässlich und minderwertig. Sie litt unter der Lieblosigkeit ihrer Mutter und suchte ständig nach Möglichkeiten, ihr zu gefallen.

    Mit Raffinesse gelang es ihr immer wieder, bei den englischen Besatzungssoldaten zusätzliche Lebensmittel zu besorgen, auch Zigaretten, Kaffee und Schokolade. Dadurch erhoffte sie sich die Zuneigung ihrer Mutter. Doch Ottilie verspeiste kommentarlos alle Extrarationen, die Luise den Soldaten abgeschmeichelt hatte, ohne das kleinste Zeichen von Dankbarkeit oder Freude. Bitterkeit stieg in Luise auf, wenn sie die Mutter nachts mit Schokoladenpapier rascheln hörte und beim Verzehr genussvoll stöhnen. Egal, wie viele Leckereien sie zusätzlich besorgte, Ottilie zeigte sich ihr gegenüber nie erkenntlich.

    So flüchtete sich Luise in Tagträume. Bald, sehr bald würde sie einen Mann treffen, der etwas darstellte, der sie lieben und auf Händen tragen würde. Dieser Mann würde sie für die lieblosen Jahre bei ihrer Mutter entschädigen. Obwohl sie sich hässlich fühlte, bemerkte sie die Blicke junger Männer, vor allem die amerikanischen Soldaten, und die anerkennenden Pfiffe. Die besorgten Blicke ihres Vaters Fritz wollte Luise nicht sehen. Sie hatte nur ein Ziel: endlich fort aus den Krallen ihrer Mutter.

    ***

    An einem warmen Sonntagnachmittag im Juni 1948 lernte sie Ludwig kennen. Ottilie war durch einen Besuch ihrer Schwester Ella abgelenkt, so konnte Luise sich in Uhlensack in der neuen Eisdiele Florenz ein Eis kaufen und mit der Eistüte über die wiederaufgebaute Lüneburger Straße schlendern, als sie ihn sah.

    'Das ist er! Blondes Haar und blaue Augen! Mein Traumprinz! Toll sieht er in seiner Unteroffiziersuniform aus!', schoss es ihr durch den Kopf. Im selben Moment fühlte sie Schmetterlinge im Bauch. Endlich schien die Zeit des lieblosen Lebens vorbei zu sein.

    Ludwig war als Soldat der zwischenzeitlich gegründeten Bundeswehr in Lüneburg stationiert. Auch er zeigte Interesse an dem hübschen Mädchen. Seine ruhige Art weckte ihr Vertrauen. Sooft es sein Dienstplan zuließ, trafen sie sich und sprachen schon bald von einer gemeinsamen Zukunft. Luise erschien die Welt rosarot, und sie brannte darauf, den neuen Freund der Mutter vorzustellen.

    Artig stand Ludwig an einem Samstagnachmittag mit rosafarbenen Nelken vor der Tür und überreichte sie mit einer galanten Verbeugung der Mutter seiner Braut. Ottilie fühlte sich geehrt. Bekam sie doch von Fritz schon lange keine Blumen mehr. Höfliche Belanglosigkeiten wurden bei Kaffee und Apfelkuchen plaudernd ausgetauscht, bis Ottilie Ludwig geradeheraus nach der Höhe seines Gehalts fragte. Luise glaubte, vor Scham in den Boden versinken zu müssen.

    Dann schickte Ottilie sie unter dem Vorwand aus dem Zimmer, ein Weckglas Kirschen aus dem Keller zu holen. Währenddessen berichtete sie dem jungen Mann, was für eine liederliche und unzuverlässige Person ihre jüngste Tochter sei. Sie habe sich sogar mit englischen Soldaten eingelassen, nur um an Zigaretten und Schokolade heranzukommen. Er solle sich also lieber so schnell wie möglich davonmachen. Luise sei kein Mädchen zum Heiraten. Bei einer Verbindung mit ihrer Tochter sei sein Unglück bereits vorprogrammiert.

    Luise, die auf dem Hausflur die Worte ihrer Mutter mitbekommen hatte, fühlte sich wie ein beschmutzter kleiner Straßenköter. Doch sie traute sich nicht, Ottilie sofort zur Rede zu stellen.

    'Hoffentlich hat Ludwig ihr nicht geglaubt, hoffentlich!', betete sie innerlich.

    Luise war nach weiteren Treffen mit ihm überzeugt, er habe ihrer Mutter nicht geglaubt. Er begann, mehr von ihr zu wollen. Sie war noch nicht bereit, wollte ihn aber auf keinen Fall verlieren. Es war das erste Mal, dass sich Luise einem Mann hingab.

    'Ist das alles?', dachte sie danach. 'Und alle tuscheln hinter der Hand, dass es so etwas Tolles sei. Darauf kann man doch getrost verzichten. Aber wenn das der Preis dafür ist, dass er mich heiratet, dann zahle ich ihn. Ich liebe ihn ja, und er liebt mich sicherlich auch. Und ich will von zu Hause weg!'

    Einige Wochen später fühlte Luise, dass sie schwanger war. Sie konnte es gar nicht erwarten, Ludwig diese Neuigkeit mitzuteilen. Bei dem Gedanken an einen Heiratsantrag erschauderte sie.

    Was dann kam, hatte sich fest in ihr eingebrannt. Vor Aufregung hatte ihre linke Hand den kalten schwarzen Telefonhörer im Postamt fast zusammengedrückt, als sie Ludwigs Stimme hörte. Ihr Herz klopfte bis zum Halse.

    Ludwig, wir bekommen ein Baby. Ich freue mich so! Dann war ihr, als griff eine kalte Hand nach ihr.

    Ein Kind?

    Diesen Klang seiner Stimme hatte sie so noch nie gehört.

    Luise, ich wollte dich testen, und du hast dich mir sofort an den Hals geworfen! Deine Mutter hatte völlig recht. Ich heirate doch kein Mädchen, wie du eines bist. Lieber bezahle ich! Das Klacken des beendeten Gesprächs traf sie bis ins Mark.

    Wie betäubt war sie danach durch Uhlensacks Straßen gelaufen und hatte unbewusst den Feldweg nach Kirchtaufen eingeschlagen. Sie konnte und wollte nicht glauben, was Ludwig soeben gesagt hatte. Und noch weniger konnte sie ihrer Mutter beichten, dass sie schwanger war. Auch wenn das vielen Mädchen in diesen Nachkriegszeiten passierte. In den Augen ihrer Mutter war das der endgültige Beweis dafür, dass sie nichts anderes war, als 'nur ein wertloses Stück Dreck.'

    In Gedanken versunken, vernahm sie nicht das Klingeln des Fahrrads. Erschreckt erkannte sie Fritz, der von der Zuckerfabrik kam. Schluchzend sank sie in die Arme ihres Stiefvaters.

    Papa, er will mich nicht heiraten!

    Sag nicht, du kriegst ein Kind!, stammelte Fritz fassungslos. Mein Gott, was wird deine Mutter sagen, und die Leute …?

    ***

    Luise fühlte sich wie ein Wurm, als sie in das hämisch grinsende Gesicht ihrer Mutter sah. Ottilie ließ sich auf den Küchenstuhl plumpsen. Fritz trat hinter seine Stieftochter und legte ihr eine Hand auf den Rücken.

    Ich habe ja immer gesagt, Luise, du taugst nichts. Gut, dass ich Ludwig aufgeklärt habe. Jetzt haben wir ja den Beweis! Nein, aber auch, diese Schande über unsere Familie! Fritz, sag du doch auch mal was! Fritz ließ Luise los. Plötzlich begann Ottilie zu schreien.

    Hau ab, hau ab! Verlass sofort unser Haus! Wir sind ein ordentliches und moralisches Haus! So jemand wie du hat hier nichts zu suchen! Schande! Schande! Raus! Raus!

    Ottilie steigerte sich mehr und mehr in ihre Wut hinein und schrie dabei immer lauter. Fritz hatte längst die Küche verlassen und suchte im Keller Beschäftigung. Luise hielt es nicht mehr aus, rannte aus der Küche und knallte die Tür hinter sich zu.

    ***

    Hanna zog den Vorhang zu ihrer winzigen Schlafkammer beiseite und sah Luise geringschätzig an.

    Das war ja klar, dass du in der Gosse enden würdest. Ein uneheliches Kind. Wie kannst du nur?

    Luise suchte mit tränenverschleierten Augen ihre Kleidungsstücke zusammen, holte die alte Einkaufstasche unter der Treppe hervor und warf alles hinein. Mit schleppenden Schritten ging sie noch einmal in die Küche und sah Ottilie beschwörend an.

    Mutter, bitte!

    Ottilie hob die Hand zur Ohrfeige, ließ sie aber wieder sinken.

    Raus! Raus!, überschlug sich ihre Stimme. "Mit so einer

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