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Winter des Lichts
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eBook309 Seiten4 Stunden

Winter des Lichts

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Über dieses E-Book

Die Halblichtelfe Lily und der ehemalige Engel Raphael sind endlich vereint und dürfen ihrer Liebe freien Lauf lassen. Glauben sie!
Ihr Glück währt nicht lange, denn Lily und ihr Bruder Lucian erfahren, das ihre Mutter in Watin verstorben ist. Um sich zu verabschieden, macht sich die junge Frau auf den Weg zum König und wird dort mit ihm zusammen von dem mysteriösen Black Ticks entführt. Dieser hat einen Pakt mit der bösen Königin Rilaona geschlossen. Sie will König Calomel tot sehen und die Herrschaft an sich reißen. Werden Lily und ihre Freunde das schreckliche Schicksal abwenden können?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Feb. 2020
ISBN9783750224308
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    Buchvorschau

    Winter des Lichts - Alex C. Morrison

    1 Der Traum

    Raphaels Finger fuhren sanft an ihrem nackten Rücken entlang.»Guten Morgen!«, flüsterte er und goldene Locken fielen ihm ins Gesicht, als er Lily anlächelte. Seine Hände waren so warm wie Sonnenstrahlen und so weich wie ein Kissen. Ehe Lily sichs versah, übersäte er ihren Rücken mit Hunderten von Küssen. Ihr wurde über die Maßen heiß. Mittlerweile waren sie schon eine Weile zusammen. Sechs Monate, um genau zu sein, aber sie hatten es bisher nicht vollzogen …

    War es ihnen überhaupt erlaubt? Raphael war ein Hybrid gewesen. Eine Mischung aus Engel und Lichtelf. Als Mikhael ihm jedoch in Watin die Flügel abgeschlagen hatte, wurden ihm damit alle Privilegien des Himmels entzogen. Demnach durfte er so gesehen mit Lily eine Verbindung eingehen. Die Stimmung war elektrisierend. War sie denn schon so weit? Lichtelfen verlieben sich nur einmal im Leben und das für immer. Lily war selbst ein Hybrid, halb Lichtelfe und halb Mensch. Er ist doch der Richtige? Oder? Immerhin sind wir beide markiert. Was im Detail genau bedeutete, dass sie zusammengehörten.

    Sie drehte sich langsam auf den Rücken und zog die dicke Decke über ihre Brust. Dann suchte sie nach seinen strahlenden Augen.

    »Raphael?«

    »Hm?«, hörte sie ihn neben sich. Sie blinzelte und da waren hellgrüne Augen. Hellgrün?, dachte Lily. Aber Raphael hatte doch blaugrüne Augen!

    Sie blinzelte erneut. Doch es war nicht Raphael, der jetzt neben ihr lag und sie durchdringend anstarrte.

    »Hallo, Lily!«, erklang eine tiefe Stimme.

    Lily fuhr im Bett hoch und presste ihre Decke enger an sich, bevor sie ungläubig ausrief: »Gabriel!«

    Lily war vollständig nassgeschwitzt. Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie ins Leere. Polternd kam Lucian in ihr Zimmer gerannt. Atemlos saß sie in ihrem Bett und musterte ihn angstvoll.

    »Was ist passiert? Warum hast du so laut geschrien, Schwesterherz?«, fragte er, während er sich zu ihr ans Bett setzte. Lily blieben die Worte im Halse stecken und so kam nur ein leises Stöhnen aus ihrer Kehle.

    »Geht es dir gut? Lily?«

    Lucian packte sie fest an den Schultern und schüttelte sie. Erst jetzt bemerkte er, dass ihre Augen nass waren. Hatte sie etwa im Schlaf geweint?

    »Luc!«, wisperte sie. Ihre Augen sahen ihn traurig und gleichzeitig angstvoll an.

    »Hm?«

    Ohne zu zögern, nahm er sie in die Arme und dann brach alles aus ihr heraus. Tränen liefen ihr übers Gesicht.

    »Dieser Traum …«, schluchzte sie. »… er war so real!«

    »Was hast du geträumt?«

    »Ich habe Gabriel gesehen!«

    »Was?« Lucian löste sich von ihr. »Aber das kann unmöglich sein. Es kann unmöglich heißen, dass …«

    Lily zuckte mit den Schultern.

    »Vielleicht ist er gar nicht tot!«

    Lily wusste genau, dass Gabriel, der gefallene Engel, der sich als ihr bester Freund ausgegeben hatte, womöglich leben musste. Sie war sich sicher, sonst hätte sie nicht von ihm geträumt!

    Lucian blickte sie ernst an. »Das wäre eine Katastrophe! Wir müssen Mom und Dad davon erzählen.Und Rufus und Raphael!«

    »Nein!«, schrie Lily. Panik und Angst standen ihr ins Gesicht geschrieben. Er hatte sie noch nie so gesehen. Ihre Stirn war durch die zusammengezogenen Augenbrauen gefurcht und ihre Wangen leuchteten lichterloh.

    Lucian stand vom Bett auf und schaute sie an. »Doch! Wir müssen!«

    Lily schluckte laut. Sie wickelte sich in ihre Decke und folgte ihrem Bruder, der sich ihr mit dem Rücken zuwandte und durch die Tür hinaus in den Flur lief. Lucian schlich die hellen, holzfarbenen Treppenstufen hinunter, während Lily ihm träge folgte. Zuerst suchte er in der Küche nach etwas und als er es schlussendlich in einer der Küchenschubladen gefunden hatte, ging er damit ins offene Wohnzimmer. Lily blinzelte, denn durch die breiten, bodentiefen Fenster drang helles Licht. Fast wäre Lily davor zurückgewichen, aber dieses Mal genoss sie es. Seltsam, dachte sie. Es fühlt sich anders an, ein Hybrid zu sein. Das war sie nun. Bis vor Kurzem hatte Lily es selbst nicht gewusst. Es stellte sich heraus, dass sie und Luc adoptiert worden und in Wirklichkeit halb Elfen und halb Menschen waren. Lucian war ein Dunkelelf und Lily eine Lichtelfe. Lucs Vater war der Bösewicht Nyro gewesen, der sie aufgesucht und gefunden hatte. Nur um beide zu töten, damit sie nicht den Thron erklimmen konnten. Doch Luc und Lily hatten ihn mithilfe eines Zaubermeisters und echter Engel besiegt. Gabriel aber war ihnen entkommen. So wie die furchteinflößende Königin aus dem Sommertal. Lily sog das Licht förmlich in ihre Adern auf, als wäre es etwas zu trinken. Genüsslich aber leise stöhnte sie auf. Ihre Haut prickelte. Und mit einem Mal fühlte sie sich hellwach und nicht mehr so träge wie noch vor fünf Minuten. Lily legte die Decke auf einem der Ohrensessel ab und folgte Lucian hinaus in den Wintergarten. Es war Mitte Februar und draußen lag überall meterhoher Schnee. Luna und George frühstückten soeben. Während Lily in der Tür zum Wintergarten stehen blieb, und ein wenig die zarten Strahlen der Sonne genoss, setzte sich Lucian an den Tisch und holte sein Smartphone aus der Tasche. Er tippte etwas ein und legte es auf den Tisch. Dann sah er ernst zu Lily rüber und sie setzte sich zügig an den Frühstückstisch. Sein Blick hatte was Durchbohrendes. Lucians Handy blinkte einige Male auf, doch er würdigte es keines Blickes mehr. Seine Aufmerksamkeit galt alleine ihr.

    »Guten Morgen, ihr zwei«, sagte Luna und nippte an ihrer Tasse mit Kaffee. Der Duft der frischgekochten Bohnen erfüllte die Luft und Lily würgte.

    »Alles gut bei dir?«, fragte George und drehte sich zu ihr um.

    Lily hielt sich mit der einen Hand die Nase zu und sagte näselnd:

    »Die Hybriden-Sache fängt an, merkwürdig zu werden.«

    George schaute zu Luna, die ihm gegenübersaß und zog die Augenbrauen zusammen.

    »Inwiefern?«Georges Augen weiteten sich.

    »Du bist doch nicht etwa schwanger?« Luna stellte ihre Tasse schwungvoll auf dem Tisch ab.

    »Mom!« Lily nahm ihre Hand wieder von der Nase und lief rot an. »Wir haben ja noch gar nicht … wir verhüten, aber haben noch nicht …« Sie konnte den Satz nicht beenden, weil es ihr so peinlich war, mit ihren Eltern jetzt darüber zu reden. Es war viel zu früh am Morgen und Lucian war dabei.

    Lily zuckte mit den Schultern. »Luc?«

    Sie blickte ihn an, doch er schüttelte langsam seinen Kopf. »Erzähl du ihnen alles!«

    »Lily, jetzt bekomme ich Angst. Erzähl schon!«, sagte Luna. Sie nahm einen Schluck vom Kaffe und stellte ihre Tasse hastig zur Seite.

    »Na ja. Ich …« Sie schluckte erneut. »… ich habe wieder so einen komischen Traum gehabt.«

    Luna und George tauschten Blicke.

    »Was für einen Traum?«

    Doch Lily vermochte nicht zu antworten, weil Lucian mit voller Wucht seine Faust auf den Tisch donnerte, sodass die Tassen einige Millimeter in die Luft befördert wurden. Lily zuckte zusammen.

    »Sie hat von ihm geträumt! Von Gabriel!«, schrie Lucian.

    In Lilys Augen sammelten sich Tränen, die wie ein Bach über ihre zart rosafarbenen Wangen flossen. Sie senkte ihren Blick und schaute zu Boden, dabei spielte sie an ihrem Siegelring herum. Auf irgendeine Weise fühlte sie sich schuldig.

    »Ich … ich habe Angst, Mom!«, flüsterte sie schluchzend. Luna erhob sich von ihrem Platz und lief zu Lily rüber, um sie in den Arm zu nehmen. George blickte Lucian an. »Sei nicht so grob zu deiner Schwester! Sie kann nichts dafür, von wem oder was sie träumt.«

    »Entschuldigt!«, sagte Lucian reumütig. »Ich habe meine Kräfte nicht im Griff. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich verrückt werde. Unter meiner Haut brodelt es und die Wintersonne scheint angenehmer auf der Haut zu sein als die Sommersonne. Aber am liebsten würde ich mich den ganzen Tag lang im Keller verkriechen«, brach es aus ihm heraus und er schaute sanft in Georges Augen.

    Es klingelte an der Tür. Ein helles Ding-Dong schallte durch das Erdgeschoss.

    »Habt ihr jemanden eingeladen?«, wollte Luna wissen und sah in die Runde, während sie sich von Lily löste. Diese hatte sich wieder beruhigt.

    »Ich habe jemanden eingeladen, ja«, erwiderte Lucian und wandte sich Lily zu.

    »Tut mir leid, Kleines.« Luc schaute Lily sanft an.

    »Schon gut«, sagte sie stockend und rang sich ein Lächeln ab.

    In der Zwischenzeit hatte Luna die Tür geöffnet. Kurz darauf kam Raphael in den Wintergarten gehechtet.

    »Lily! Alles in Ordnung?«

    Seine goldenen Locken glänzten in der Morgensonne. Wie bildschön er doch ist. Obwohl sie sich erst gestern gesehen hatten, hatte sie schon fast vergessen, wie wunderschön er war! Sein ganzes Wesen leuchtete. Wie die Sonne. Jedes Mal, wenn er wieder nach Hause ging, vergaß Lily nahezu, wie betörend er war. Aber wenn sie ihn wiedersah, wirkte er fast noch bezaubernder als am Tag davor.

    »Komm, lass uns in mein Zimmer gehen. Hier unten riecht es mir viel zu sehr nach Verrat.« Lily blickte düster in Lucians Richtung. Er saß immer noch auf einem der Stühle und spielte mit dem Eierlöffel.

    Es schellte erneut an der Tür und Lily und Raphael verschwanden in Lilys Zimmer.

    »Wen hast du noch eingeladen?«, fragte George. Luc zuckte entschuldigend mit den Schultern, lief zur Tür und öffnete sie weit.

    »Den Rotschopf!«

    »Das habe ich überhört!«, sagte eine bekannte Stimme.

    »Rufus! Es ist mir eine Ehre«, erwiderte George und erhob sich aus seinem Stuhl. Luna tat es ihm gleich.

    Der Kimono, den Rufus stets trug, passte wunderbar zu seinen grauen Augen. Sein langer, roter Zopf hing ihm ordentlich gekämmt über die rechte Schulter.

    »Sorry, ich habe mich noch gar nicht umgezogen. Ich springe eben unter die Dusche und dann erzähle ich dir alles. Ist das okay?« Lily setzte zum Gehen an. Doch Raphael hielt sie an ihrer rechten Hand fest.

    »Aber mir gefällt dein Outfit. Sehr sogar!«

    Er schob sie näher zu sich, seine Haare knisterten und ein Grinsen huschte über seine Lippen. Raphael war nun ein reiner Lichtelf und seine Energie zeigte sich jedes Mal als Knistern oder ein warmes, helles Leuchten, das ihn stets umgab, wenn Lily in seiner Nähe war. Sie errötete. Klar, die Hotpants würden womöglich die meisten Jungs spitze finden. Diese waren zwar verwaschen, aber Lily gefiel sie trotzdem. Weil sie sich anfühlten, wie eine zweite Haut. Das grüne T-Shirt, welches sie trug, hatte sie noch aus London. Dort hatte sie mal an einem Lesewettbewerb teilgenommen und tatsächlich auch gewonnen. Als Hauptgewinn gab es das Shirt und ein Buchpaket. Darauf stand in weißen Lettern: Reading is my superpower.

    »Soso! Hätte ich ja nie im Leben gedacht, dass du gerne liest.« Ein Lächeln bildete sich auf Raphaels Lippen, als er einen Blick auf ihre großen, weißen Regale warf, die über und über mit Büchern vollgestopft waren. Lily grinste und fast hätte sie den Traum vergessen. Aber der ploppte immer wieder in ihren Gedanken auf wie Werbung im Internet. Sie wurde ernst und blickte Raphael tief in seine unwiderstehlichen blaugrünen Augen.

    »Ich habe von Gabriel geträumt!«

    »Von Gabriel?«

    Raphaels Miene wurde ernst und ein helles Glühen drang aus seinen Händen. Er strich ihr eine Strähne hinters Ohr.

    »Autsch!«, rief Lily und ließ ihn los. Ein kleiner Blitz durchfuhr ihren Körper. Lily rieb sich das Ohr und setzte sich auf die Bettkante.

    »Was hat das zu bedeuten? Er lebt noch, oder? Hab ich recht?« Lily rutschte auf ihrem Platz hin und her.

    Raphael schloss die Augen und versuchte, sich auf die Lichtenergie in seinen Händen zu konzentrieren. Es war gar nicht so leicht. Immer wenn Lily in seiner Nähe war, fiel es ihm besonders schwer, seine Lichtenergie im Zaum zu halten.

    »Er wollte mich im Traum verführen!«, sagte Lily und schaute dabei zu Boden. Ihr war es sichtlich peinlich und ihre Wangen glühten rosa. Aber sie hatte ja nichts Unrechtes getan.

    Unerwartet explodierte ihr Mülleimer und der Inhalt verteilte sich im ganzen Zimmer.

    »Es tut mir leid!«, stammelte Raphael mit geballten Fäusten.

    »Wie hast du das angestellt?«

    »Ich muss noch lernen, mit dieser Kraft umzugehen. Nur ein bisschen Wut oder Eifersucht und schon … bäm.« Er gestikulierte wild und klatschte dabei in seine Hände.

    »Aber du hattest die Kräfte auch vorher schon.«

    »Jetzt habe ich das Doppelte davon. Das ist manchmal mehr, als ich ertragen kann. Ich habe das Gefühl, ich entwickle mich zu einer Mimose.«

    »So ein Blödsinn«, winkte Lily ab.

    »Komm, lass mich das wegräumen. Schließlich bin ich für das Chaos verantwortlich.« Er kniete sich auf den Boden und sammelte den Inhalt des Mülleimers wieder ein.

    Nachdem Lilys Zimmer sauber und sie selbst frisch geduscht, geschminkt und umgezogen war, rief Luna nach ihr.

    Raphael hatte artig unten bei den anderen im Wintergarten auf sie gewartet. Der Gedanke, dass Lily von Gabriel geträumt hatte, ließ ihn schaudern. Er musste sich konzentrieren. Nicht dass gleich etwas in die Luft flog oder auf einmal ein Platzregen einsetzte. Mitten im Wohnzimmer.

    Lily begrüßte Rufus, den Zaubermeister, mit einer ausgiebigen Umarmung. Er hatte ihnen geholfen, Nyro zu vernichten und heil wieder aus Watin nach Hause zu kommen. Rufus gehörte mittlerweile zur Familie und so behandelte Lily ihn auch, wie ein Familienmitglied. Sie war froh, ihn an ihrer Seite zu wissen.

    »Lily, ich habe gehört, dass du von Gabriel geträumt hast.«

    »Ja. Ich habe mittlerweile das Gefühl, es weiß die ganze Welt Bescheid«, schnaubte sie.

    »Das könnte ein Zeichen sein.« Rufus rieb sich die Hände.

    »Was denn für ein Zeichen?«, platzte es aus Lucian raus.

    »Einige Portale weisen wieder eine erhöhte Nutzung auf. Eines besonders.«

    »Welches?« Raphael sprang von seinem Stuhl auf. Schon wieder, dachte er. Genauso wie letztes Mal.

    »Das im Garten von Familie Lichtenwald«, erklärte Rufus.

    »Sonja?« Lily blickte zu Raphael hoch. Dieser setzte sich wieder.

    »Ich erhielt gestern Abend noch einen Brief! Er kam aus Watin. Schlechte Nachrichten«, sagte Rufus und sah traurig in die Runde.

    Raphael griff nach Lilys Hand. Sie war augenblicklich warm und nicht mehr heiß. Lily wurde das Gefühl nicht los, dass die anderen die Nachricht schon kannten. Alle bis auf sie und Lucian.

    »Raus damit!«, sagte Luc.

    »König Calomel hat mir zugetragen, dass … Norma … vorgestern Abend …« Er hielt kurz inne und seine Augen blitzten in einem lilafarbenen Ton auf.

    »Sie ist verstorben! Mein Beileid!«, sagte er letztendlich und senkte seinen Blick.

    Lily schlug sich eine Hand vor den Mund. »Nein!«

    Raphael nahm sie in seine Arme. Nein. Das darf nicht sein. Kann nicht sein! »Unmöglich!«, flüsterte Lily. »Und was ist das mit dem Portal?«

    »Wieso ist sie eigentlich dortgeblieben?« Raphael umarmte Lily und drückte sie eng an sich. Sie weinte.

    »König Calomel hielt es für zu risikoreich, sie gehen zu lassen.« Rufus rieb sich die Nasenwurzel. Er sah erschöpft aus.

    Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaute ihn Raphael an.

    »Das Passieren eines Portals ist sehr kräftezehrend«, erwiderte der Zaubermeister. »Das hätte Norma nicht überlebt, deswegen ist sie dortgeblieben. Aber ihre Kräfte schwanden immer mehr.«

    »Und das ist deine Antwort?« Lily hatte von Raphaels Armen aus wütend herausgeblickt.

    Rufus nickte und schaute zu Boden.

    Irgendwann erwachte Lily und blinzelte in blaugrüne Augen. Sie musste eingeschlafen sein.

    »Wie spät ist es?«

    »Sechs Uhr abends«, flüsterte Raphael.

    Der Lichtelf war die ganze Nacht und den ganzen Tag über hier bei ihr geblieben. Er war einfach nur da. Seine Anwesenheit alleine erfreute sie.

    Er lag neben ihr. Während sie geschlafen hatte, hatte er sie beobachtet. Raphael hatte sich auf die Seite gedreht und jedes Mal, wenn ihre Augen unter den geschlossenen Lidern wild hin und her gezuckt waren, hatte er schneller geatmet und praktisch mit ihr mitgefiebert. Obwohl er gar nicht wusste, was sie träumte. Als sie dann seinen Namen stöhnte, bescherte es ihm ein warmes Lächeln.

    »Du solltest vielleicht zu deinem Bruder gehen. Sprich mit ihm und ich warte hier solange.«

    Lily rieb sich die Augen. Sie löste sich von Raphael und schauderte. Seine Wärme tat so unglaublich gut. Träge kam sie hoch und schob ihre Füße aus dem Bett. Sie schlich hinaus aus ihrem Zimmer. Vorsichtig klopfte Lily an Lucians Tür.

    »Herein!«

    Mit dem Rücken gegen die hohe Bettkante des Bettes gelehnt, saß Luc in seinem Bett und war in ein Buch vertieft. Die Rollläden hatte er runtergelassen. Auf dem Schreibtisch leuchtete eine kleine Lampe. Diese surrte sanft vor sich hin. Lily kam einige Schritte auf ihn zu.

    Er las J.R.R. Tolkiens Das Silmarillion.

    »Hey, wie geht es dir?«

    Er zuckte mit den Schultern. »Wie soll es mir schon gehen? Ein beschissener Tag neigt sich dem Ende.«

    Lily setzte sich zu ihm ins Bett und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. »Kaum haben wir sie kennengelernt und schon haben wir sie verloren! Alle beide!« Lily löste sich von Luc.

    Sie schluchzte und er drehte sich ihr zu. Luc nahm sie in seine Arme. »Wir haben noch uns und das wird immer so bleiben! Gott Gnade dem, der versucht, unsere Familie zu zerstören.«

    »Ich liebe dich, Lucian! Du bist ein großartiger großer Bruder!«

    »Schwesterherz!«, flüsterte er und küsste sie auf die Stirn.

    Ihr Magen verkrampfte sich. Auch wenn sie sich manchmal stritten, dachte Lily, war es besser, als gar keinen Bruder zu haben. Sie liebte ihn mit all seinen Ecken und Kanten. Wie war es ihm ergangen, fragte sie sich, als er plötzlich keinen besten Freund mehr hatte? Was hatte Herr Philips gesagt, dass Gabriel beim Fechten fehlte? Und wo waren überhaupt seine Eltern? Tränen stiegen ihr in die Augen. So viele Fragen. Doch Lily versuchte, die Tränen sowie auch die Gedanken beiseitezuschieben. Sie mit aller Macht fernzuhalten. Es gelang ihr so gut wie.

    »Wie geht es den beiden?«, wollte Rufus wissen.

    »Es geht ihnen den Umständen entsprechend. Raphael hat die Nacht bei Lily geschlafen. Lucian hat sich in sein Zimmer zurückgezogen.«

    »Gut! Dann werde ich jetzt gehen. Wenn ihr etwas über Gabriel erfahrt oder wenn ich etwas höre, komme ich

    wieder.«

    George nickte. Die beiden verabschiedeten Rufus und brachten ihn zur Tür.

    Luna half George beim Einräumen der Spülmaschine.

    »Wie bringen wir den beiden bei, dass Norma schon verbrannt wurde und wir nicht zu ihrer Beerdigung kommen können?«, fragte Luna und setzte sich auf einen der mit weißem Leder überzogenen Stühle.

    »Ich weiß es nicht, Liebling! Vielleicht könnten wir …«

    »Nein!«, schrie Luna.

    »Nein«, wiederholte sie, leiser jetzt.

    »Wir könnten sie hierherbringen und hier beerdigen.«

    »Das geht nicht, George. Ehepaare, egal welcher Abstammung, müssen immer in einem Land beerdigt werden! Hast du das etwa schon vergessen? «

    »Aber es ist ihre leibliche Mutter! Lily hat erst vor sechs Monaten herausgefunden, wer sie wirklich ist und nun folgte ein Schicksalsschlag nach dem anderen. Wie überlebt sie das alles? Sie ist erst sechzehn, Luna!«

    Sie nahm ihren Kopf in beide Hände und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. »Ich werde mir etwas einfallen lassen.«

    2 Zwischen den Welten

    Zerbrochen und doch ganz, dachte Lily, als sie auf ihren Siegelring starrte. So fühlte sie sich. Obwohl Sonja ihre beste Freundin war, konnte Lily ihr nicht erzählen, wo sie letzten Sommer in Wirklichkeit gewesen war. Sie hätte sie für verrückt erklärt. Deshalb hatte sie erzählt, dass ihre Großmutter in London schwer krank geworden war und sie ebendarum mit der ganzen Familie dorthin geflogen waren. Als Sonja Lily später in der Schule auf Gabriel ansprach, hatte sie nur mit den Schultern gezuckt und war in Tränen ausgebrochen. Sein Verschwinden hatte Luna später mit den Worten, »Seine Familie ist wieder nach London gezogen«, beteuert. Schon einige Monate sprachen die Mädchen nicht miteinander. Jedes Mal, wenn Sonjas Nummer auf Lilys Smartphone aufblinkte, hatte sie sie weggedrückt. Sie hätte ja doch nicht verstanden, was los war!

    Lilys Siegelring lag in ihrer Schreibtischschublade. Letzte Nacht hatte sie ihn wütend dort reingeschleudert und nahm ihn jetzt gerade leise wieder raus. Sie zog ihn sich über den Mittelfinger ihrer linken Hand. Diese fing sofort an, zu prickeln, und fühlte sich gleichzeitig wärmer an als vorher. Lily starrte den Ring eine Weile an und schaute rüber zu ihrem Sofa. Raphael lag dort eingewickelt in eine Wolldecke und schlief tief und fest. Er sah so friedvoll aus. Immer wieder kam ihr der Gedanke in den Kopf, dass sie ein Hybrid war, und sie empfand jedes Mal Unwohlsein dabei. Lily fühlte sich gefangen zwischen den Welten. Gefangen zwischen der Elfen- und der Menschenwelt. Wer war sie wirklich? Was waren die Elfen für ein Volk? Sie wusste es nicht so genau. Lily kannte viele Sagen, Legenden und Geschichten und nicht in allen wurden sie positiv beschrieben. Gab es in Wahrheit Wechselbalge? Sie musste es herausfinden. Gegebenenfalls würde sie sich danach selbst besser akzeptieren und verstehen können. Sie strich mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand über den Siegelring. Auf ihm war eine Sonne von vier Wolken umgeben. Sole. Die Sonne. Das Volk der Leuchtenden. Zu diesem gehörte sie jetzt. Und da kam ihr ein abstrakter Gedanke. Sollte sie es wirklich wagen?

    Raphael erwachte von einem warmen Kribbeln auf seinem Gesicht. Er stöhnte leise auf und blinzelte. Es musste die Sonne sein. Jeden einzelnen Sonnenstrahl sog er in sich auf wie ein Verdurstender das Wasser. Dann öffnete er seine Augen und blickte sich um. Er schaute rüber zu Lilys Bett. Doch es war leer. Raphael sah auf sein Smartphone. 7:45 Uhr. Womöglich war Lily schon unten und frühstückte mit ihren Eltern. Er rappelte sich auf und schwebte sonnentrunken die Stufen hinab.

    »Guten Morgen, Raphael!«, begrüßte ihn George. Er stand an der Kaffeemaschine und goss sich etwas von dem Getränk in eine Tasse. »Auch einen?«

    Raphael schüttelte den Kopf. »Guten Morgen. Ich nehme lieber einen Tee.«

    »Wie hast du geschlafen?«, fragte George.

    »Gut, danke.«

    »Wo ist Lily?«

    »Wie bitte?«, fragte Raphael und erstarrte in seiner Bewegung.

    »Ich habe sie heute Morgen noch nicht gesehen.«

    »Ich dachte, sie wäre hier unten.«

    Georges Augen weiteten sich. »Oh nein!«, flüsterte er.

    »Was heißt hier›Oh nein‹?«

    Raphael drehte sich hastig um und rannte nach oben zum Badezimmer.

    »Lily?«, rief er. »Lily!

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