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Außerhalb: Umwege ins Leben
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eBook385 Seiten4 Stunden

Außerhalb: Umwege ins Leben

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Über dieses E-Book


„Majas Blick wanderte durch den warm erleuchteten Wohnflur voller Musik, voller Ekstase und voller Menschen, die trunken waren vom Leben.
In dieser Nacht sah sie Rebecca funkeln und tanzen, sie sah Charlotte lachen und erstrahlen. Sie sah das leuchtende Glück in Julies Augen und die aufgeregte Begeisterung in Miras. Sie sah, wie Sympathie ein freundschaftliches Band zwischen Mirjam und Andrea flocht. Sie sah, dass alle einander und den Augenblick feierten. Weil es das war, was sie hatten. Und weil das der beste Weg war, mit dem umzugehen, was sie nicht hatten.“

Nach der Zeit in der psychotherapeutischen Klinik stehen Maja und Julie im therapielosen Leben außerhalb. Julie balanciert zwischen Magersucht, Schule und einer Familie, die so tut, als hätte es die Klinikzeit nie gegeben. Maja sieht sich nach dem Umzug mit Blackouts und inneren Stimmen konfrontiert, die sie zurück  in eine Vergangenheit voll von extremer Gewalt führen. Zwischen Uni-Alltag, alten und neuen Freunden, zwischen Marihuana, dem Versuch der Liebe und Psychiaterterminen eskaliert die Situation immer mehr. Schließlich müssen einige drastische Entscheidungen getroffen werden ...

 

 

„Außerhalb“ ist der zweite Band der Reihe „Umwege ins Leben“.

 

Bisher sind aus der Reihe erschienen:
„Stationär“ (Band 1)
„Außerhalb“ (Band 2)
„Jenseits“ (Band 3)

„Nebenan“ (Band 4)

„Innendrin“ (Band 5)

 

Für die gesamte Reihe gilt eine Triggerwarnung. 

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum10. Aug. 2018
ISBN9783736849136
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    Buchvorschau

    Außerhalb - Fia-Lisa Espen

    Donnerstag, 20.11.

    Julie glaubte, den kalten Novembernebel durch das Fenster sickern zu sehen. Graufingrig suchte er sich seinen Weg durch Ritzen und Spalten und überzog ihren Körper mit Schaudern. Den Rücken an das Kopfende des Kinderbettes gelehnt, wickelte Julie die Wolldecke enger um sich. Ihr kleiner Bruder murmelte im Schlaf. Sein unruhiger Körper drängte sich dicht an sie. Julie spürte Florians Wärme durch den rauweichen Baumwollstoff wie eine ungreifbare Erinnerung. Sie schloss die Augen und atmete den Geruch von Piratenshampoo und Abenteuerträumen. 

    Julie schreckte auf, als sie die Haustür schlagen hörte. Ihre Mutter war nach Hause gekommen. Während Julie die Decke zurückschlug, um nach unten zu gehen, fuhr ein Kältezittern durch ihre Glieder. Bevor sie ihrer Mutter begegnete, musste sie noch einen Blick auf den Brief werfen.

    Julie spürte Charlottes weich getragene Botschaft in ihrer Hosentasche. Ihre blau gefrorenen Finger zogen das Papier zwischen den Jeansfalten hervor. An den Knickstellen war das Schreiben bereits mürbe geworden. Papier war nicht dafür geschaffen, so sehr beansprucht zu werden. Aber Julie brauchte diesen Brief. Denn ihre Gedanken lösten Bilder aus Buchstaben und trugen sie zurück in eine Welt, die sie verloren hatte. Es war eine harte Welt, voller Extreme, und doch durchzog die Hoffnung sie wie das Licht. 

    ›Liebe Julie‹, las sie die Worte, die längst in ihrem Gedächtnis nisteten, ›wenn man einen Moment lang inne- und die Welt anhält, spürt man, wie atemlos die Zeit außerhalb der Klinik verrinnt. Die Außendinge nehmen so viel mehr Raum ein und sie scheinen die Tage voranzutreiben. Manchmal, wenn ich an die letzten Wochen denke, kann ich kaum glauben, was alles geschehen ist. Vor nicht allzu langer Zeit war ich noch Abiturientin, dann Patientin in einer Klinik und nun bin ich Medizinstudentin und wohne in einem Studentenwohnheim. Anfangs war ich an der Uni genauso überfordert wie während der ersten Kliniktage. Ich habe mich in den Gebäuden verlaufen und konnte den Gesichtern kaum Namen zuordnen. Aber mittlerweile beginne ich, mich hier wohlzufühlen. Rebecca sehe ich sehr oft und das ist gut. So fühlt sich nicht alles fremd an. Wie geht es dir? Ich denke so oft an dich! Charlotte‹.

    Julie sah Charlotte vor sich, eingetaucht in das Gegenlicht des Sommers, in die Umrisse von Menschen, die ihre Freunde gewesen waren. Die Klinikwelt zog in raschen Bildern an ihr vorbei. Lautlos erzählten sie von Nähe und Herausforderung, von Mut und Verzweiflung, von Dauer und Verlust. Julie flüsterte die letzten Worte des Briefes. Sie wünschte sich, auf den Buchstaben reisen zu können. Zurück in die Welt, aus der der Brief gekommen war und die viel zu schnell unter einem Aufflackern von Unwirklichkeit gestorben war. 

    »Maja?« Belustigte Augen hinter runden Brillengläsern erschienen in Majas Blickfeld. 

    Sie schüttelte mit einem Stirnrunzeln den Kopf. Die zäh in ihre Gedanken tropfenden Bilder verwandelten das verstörend fremde Gesicht langsam in ein vertrautes. Neben ihr saß Wiebke, ihre neue Uni-Bekannte. Heute Nachmittag waren sie gemeinsam im Kolloquium gewesen. Und dann waren sie – Maja blickte sich um – ins Foyer gegangen.

    Maja blinzelte Wiebke an und rang sich ein Lächeln ab. »Tut mir leid, dass ich nicht zugehört habe!« Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als könnte sie damit die beunruhigende Ahnungslosigkeit fortwischen. Die letzten Stunden lagen im Dunkel einer nicht vorhandenen Erinnerung. »Ich glaube, ich kann mich nicht mehr konzentrieren.«

    »Es ist ja auch schon spät.« Wiebke deutete in die schwarze Nacht vor den Fenstern und klappte ihr Notebook zu. »Ich hätte dich nicht mehr mit meiner Masterarbeit nerven sollen!«

    »Du nervst nicht«, widersprach Maja schnell, »wirklich nicht!«

    Sie lächelte gegen die Erschöpfung an. »Aber vielleicht sollten wir ...« Ihr Blick wanderte über die zahllosen Blätter, die über den Tisch verteilt lagen. Majas Handschrift war mal wieder ins Unleserliche gekippt. »... wann anders weiterreden?«

    »Kein Problem!« Wiebke lächelte und schlang sich den Schal um den Hals. »Soll ich dich auf dem Roller mitnehmen?«

    Maja schüttelte matt den Kopf. »Ich muss noch einkaufen.«

    Sie begann, die Zettel einzusammeln, warf Wiebke einen unsicheren Blick zu und schwenkte dann den Papierstapel in der Hand. »Brauchst du etwas davon?«

    »Von deinen Songs? Ich glaube nicht, dass du die hergeben willst!« Wiebkes Augenbrauen zogen sich skeptisch zusammen. »Bist du sicher, dass du okay bist? Soll ich dich wirklich nicht mitnehmen?«

    »Nein«, Maja versuchte ein beruhigendes Lächeln, »alles in Ordnung!«

    Songs. Sie fragte sich, seit wann sie in der Uni Songs aufschrieb, und hoffte, dass Wiebke sie nicht zu seltsam fand. Schon allein deshalb widerstand Maja dem Impuls, sich die Blätter genauer anzuschauen. Es sollte wenigstens so aussehen, als wüsste sie, was sie in der Uni tat. Aber wie, um sie vollends zu verwirren, sprang nun in ihrem Inneren eine Tonspur an.

    ›You may cover the tracks‹, sang eine weiche, melodische Stimme, ›and act like yourself ...‹

    »Also gut«, Wiebke lächelte Maja an, »dann bis morgen!«

    Maja lächelte zurück. »Ja, dann bis morgen!«

    ›... but who will uncover the songs and stop cheating oneself?‹

    Während Wiebke die schwere Feuerschutztür aufstemmte und im Gang verschwand, verstaute Maja die Papiere in ihrer Tasche. Erleichtert stellte sie fest, dass sich der Gesang in ein Summen verwandelte. Ihre Gedanken tasteten ihr Gedächtnis nach den morgigen Terminen ab und hofften hilflos auf die Zuverlässigkeit der Kalenderfunktion ihres Smartphones. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Die Ellenbogen auf den weißen Uni-Tisch gestützt, versuchte sie, die Orientierung zurückzugewinnen. 

    Seit sie umgezogen war, hatte das Chaos in ihrem Leben neue, bizarre und beängstigende Formen angenommen. Und die aufdringlichen, gesprochenen und gesungenen Sätze, die durch ihren Kopf zogen, als hätten sie ein Eigenleben, waren nur ein Teil davon.

    Dabei war Maja glücklich, hier zu sein. Die Uni mit ihren alten, hohen Gebäuden und Stuckdecken gefiel ihr. Die Angebote des Pädagogik-Studiengangs waren ausgezeichnet und Rebecca wohnte im Nachbarviertel. Mit einem verirrten Lächeln dachte Maja an Rebeccas fragiles, um so viel gepiercte Härte bemühtes Gesicht. Die wenigen gemeinsamen Klinikwochen hatten sie verbunden wie ein halbes Leben. Und dennoch brachen große Brocken Zeit aus Majas Leben, hinterließen schwarze Löcher in ihrem Gedächtnis und unerwartete Spuren in der Realität. 

    Maja sah aus dem Fenster. Draußen erwartete sie das Winterdunkel. Eine unbestimmte Angst kroch ihr die Kehle hinauf. Sie musste los, es würde nur später werden und die allabendliche Angst größer. Rasch sammelte sie die Dinge ein, die noch auf dem Tisch lagen, und machte sich auf den Weg. 

    Als Julie leise in die Küche trat, stand ihre Mutter neben dem Herd. Eine Hand bewegte den Teebeutel im Glas langsam auf und ab. Julie betrachtete Thereses abwesenden Ausdruck, in dem sich Jugend abzeichnete. Besonders, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, verlor Thereses Gesicht die Jahre und Julie bekam das Gefühl, einer Mutter gegenüberzustehen, die nie erwachsen geworden war. Vielleicht, überlegte Julie, hinterließ die Zeit keine Spuren, wenn man selbst keine große Rolle darin spielte. 

    Therese hob den Kopf und ein trauriges, azurblaues Lächeln streifte Julie. »Hallo Große.«

    »Hallo Mama«, erwiderte Julie leise. 

    In der Armeslänge zwischen ihnen schien sich eine kaum fassbare Ferne zu verdichten. Einen Augenblick lang wünschte Julie sich nichts Anderes, als dass ihre Mutter sie noch einmal wie Florian in den Arm nehmen und versprechen würde, dass alles gut werden würde. 

    Julies Finger berührten Charlottes Brief. 

    ›Warum trägst du den Brief immer mit dir rum?‹, hatte ihr kleiner Bruder gefragt. 

    Und sie hatte ihm zugeflüstert, dass Briefe Schätze sein konnten, ganz besondere Schätze. 

    Denn sie konnten alles sein. Geheimnisträger und Erinnerungsmaler, Fluchtdichter, Lichtzeichner und Wärmebewahrer ... 

    Der Teebeutel im dampfenden Becher hob und senkte sich langsam in einem einsamen Rhythmus. 

    Schließlich drehte sich Therese zu Julie um. »Wie war der Nachmittag?«

    Julie lehnte sich an den Türrahmen. »Opa Kurt und Florian haben versucht, ein paar Sachen im Garten zu vergraben.«

    Julies vokabeldurchzogener Blick wanderte über die Terrassentür, als sie plötzlich bemerkte, dass Kurt und Florian draußen waren. Sie ließ ihre Vokabelliste auf den Tisch fallen und öffnete die Tür. 

    »Hey ihr zwei! Was macht ihr denn da?«

    Florian strahlte sie mit schlammverkrusteten Händen an. »Wir vergraben einen Piratenschatz!«

    Julie beeilte sich, in die feuchte Kälte hinauszukommen. »Und was vergrabt ihr da?«

    »Briefe!«, erklärte Florian. »Und Mamas Schmuck.«

    Julie klaubte einige erdverschmierte Umschläge, zwei Ringe und eine Kette aus dem Beet, dann nahm sie Kurt den Rest des Schatzes ab. 

    »Wir suchen etwas Anderes, was ihr vergraben könnt, okay? Diese Schätze braucht Mama noch.«

    »Nein!«, widersprach Kurt heftig. Seine Augen rasten über Julie hinweg. »Wir müssen«, er deutete erregt auf das Loch in der Erde, »alles muss in Sicherheit gebracht werden!«

    In Kurts rehbraunen Augen glaubte Julie das furchtgetriebene Kind zu sehen, das vor mehr als siebzig Jahren einen Krieg überlebt hatte. 

    »Da drinnen«, sagte sie und deutete auf das Haus, »gibt es ganz sichere Verstecke!«

    Nur für Kurt gab es keine Zuflucht vor den Schatten einer längst vergangenen Zeit. 

    Julie sog an ihrer Unterlippe. »Aber ich habe alle Sachen retten können.«

    Therese nickte ausdruckslos ins Leere. Wahrscheinlich war die Bedeutung der Worte wie so oft  ungehört irgendwo in Thereses Innerem ertrunken.

    Es würden keine weiteren Fragen folgen. Julie schlang die Arme um ihren Brustkorb.

    »Wie war es in der ›Villa‹?«

    Ihre Mutter hob die Teetasse und blies vorsichtig darüber. 

    »Das war heute die friedlichste Kunststunde seit Langem. Es gab nur einmal Streit und das ohne Handgreiflichkeiten.«

    Ein schwaches Lächeln erreichte Julie. »Morgen Abend bin ich da, dann bringe ich Kurt und Florian ins Bett.«

    Julie nickte. Manchmal glaubte sie, dass ihre Mutter mit den Malkursen im Kinderheim wieder und wieder versuchte, einen Teil von sich selbst zu retten. Die heimatlose, künstlerisch begabte Sozialwaise, die sie einst gewesen war. 

    Julie löste sich vom Türrahmen. Die Vokabelliste musste noch einmal wiederholt werden.

    »Ich gehe nach oben. Morgen schreiben wir Englisch, ich muss noch lernen.«

    »Gut.« Ihre Mutter nickte leicht. »Dann bis morgen früh.«

    »Hey!« Elias’ weiche Stimme hüllte Maja auch durch das Telefon wärmend ein.

    Sie seufzte dankbar, während sie ihre Schuhe von den Füßen kickte. »Wie schön, dich zu hören!«

    Maja ließ sich auf den Teppichboden nieder und öffnete den Kaninchenkäfig. Mikado und Memory sprangen heraus und eroberten hoppelnd das Zimmer.

    Elias lachte leise. »War der Tag so schlimm?«

    »Anstrengend«, bekannte Maja. Memory stupste ihre Hand an und Maja fuhr sacht über seine schwarze Stirn. »Wie war es bei dir?«

    »Ganz okay.« Maja glaubte, Elias’ Schulterzucken zu sehen. »Die Teambesprechung war zum Sterben langweilig. Aber danach habe ich angefangen, mit den Kindern die neue Holzhütte anzustreichen.« Elias’ Stimme bekam wieder einen leuchtenden Klang. »Du hättest sehen sollen, wie stolz und wie begeistert sie waren!«

    Maja musste lächeln. Es fiel ihr ganz leicht, sich Elias inmitten der Kinder vorzustellen. Ein pinselschwingender, schlaksiger Mittzwanziger zwischen farbbeklecksten Grundschülern. Es war schwer zu sagen, wer in ihrem Bild glücklicher wirkte – die Kinder oder Elias. 

    »Ich wünschte«, brach es aus Maja heraus, »ich hätte als Kind einen Erzieher wie dich gehabt.«

    Ihre Finger erstarrten einen Moment in der Luft, als hätten Majas Worte sie erschreckt, dann strichen sie über Mikados weiches Fell. Elias’ ruhiger, gleichmäßiger Atem klang in ihrem Ohr. 

    »Du hast mich jetzt«, sagte er leise und seine Worte umarmten sie gefahrlos. 

    »Ja, das stimmt.« Maja lächelte und angelte nach ihrem Tabakpäckchen. Mit einer hellroten Haarsträhne strich sie die Vergangenheit zurück. »Und das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt habe.«

    Freitag, 21.11.

     »Ich will Honig!«, rief Florian, während er auf seinen Stuhl kletterte. »Honig, Honig, Honig!«

    »Gleich.« Julie schnitt das Marmeladenbrot andächtig in schmale Streifen. »Das ist für dich, Kurt.«

    Nacheinander legte Julie die Häppchen auf das Frühstücksbrett ihres Großvaters. »Das ist Brombeere, deine Lieblingsmarmelade.«

    Kurts Blick wanderte über die Tischplatte und Julie wischte die Marmeladenspuren an Daumen und Zeigefinger mit der Serviette ab. 

    »Jetzt will ich Honig!«, wiederholte Florian und hüpfte auf seinem Stuhl auf und ab.

    Julie nahm eine weitere Scheibe Brot aus dem Korb. Butter und Honig. Ihr Magen schmerzte bei dem Gedanken an Nahrung. Während sie das Brot bestrich, erinnerten sich ihre Geschmacksnerven an das milde, sahnige Aroma von Butter auf frischem, duftendem Brot. Sie glaubte, den knusprigen Rand zwischen ihren Zähnen brechen zu spüren, und fühlte die Süße des Blütenhonigs über ihre Zunge gleiten. Julie musste schlucken. Sie wusste, dass nur der Hunger ihr diese Vorstellungsgewalt überantwortete. Mit einem letzten, liebevollen Messerstrich verabschiedete sich Julie von Florians Frühstück. 

    Die Küchentür öffnete sich und Julie hörte die Schritte ihrer Mutter auf dem Weg zur Kaffeemaschine. Glas klapperte auf Metall, dann wurde die heiße, schwarzaromatische Flüssigkeit in einen Porzellanbecher gegossen. Kaffeeduft zog bitterölig in Julies Nase und kündigte Thereses Ankunft am Esstisch an.

    Julie schwenkte eine Milchpfütze in ihrer Tasse. Es würde so aussehen, als hätte sie etwas davon getrunken.

    »Opa!« Florian lachte glucksend und kippelte dabei gefährlich mit seinem Kakaobecher. »Guck mal Julie, was Opa macht!«

    Julie fuhr auf. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Kurt die zweite Salamischeibe in seinem Tee versenkte. Rasch nahm sie seine Tasse an sich. Der fragende Blick ihres Großvaters folgte ihr. 

    »Tee schmeckt nicht mit Wurst«, erklärte Julie.

    Unwillkürlich fragte sie sich, ob Kurt die Flüssigkeit in der Tasse für Suppe gehalten hatte. Für eine dünne Kriegsbrühe, die er mit Salami hatte schmackhafter machen wollen.

    »Wenn du möchtest«, bot Julie an, »kann ich dir aber ein Wurstbrot machen.«

    »Ich übernehme das.« Therese war im Türrahmen erschienen.

    In ihren Augen stand die gleiche matte Traurigkeit wie am Abend zuvor. Wahrscheinlich, dachte Julie, waren Thereses Nächte genauso schlaflos und gedankenschwer wie ihre. Julie schenkte ihrer Mutter ein blasses Lächeln.

    Therese nahm ihrer Tochter Kurts Tasse ab. »Geh du zur Schule, du bist sowieso schon spät dran.«

    Maja lauschte angespannt dem Tuten des Telefons. Der Kugelschreiber wanderte zwischen ihren nervösen Fingern auf und ab. Dann sprang ein Anrufbeantworter an.

    »Guten Tag! Sie sind mit der psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis von Dr. Reiner Gräbert verbunden. Im Augenblick kann ich Ihren Anruf leider nicht entgegennehmen. Wenn Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen, rufe ich Sie baldmöglichst zurück!«

    Maja stotterte ihren Namen auf die Mailbox und verstummte. Ihre Angst vor Ärzten und Therapeuten wurde unvermittelt so groß, dass sich Maja nicht mehr an ihre eigene Handynummer erinnern konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde es dunkel, als schlüge in ihrem Gehirn ein Buch zu und sie selbst wäre zwischen den Seiten gefangen. Dann sah Maja ihren Taschenkalender vor sich liegen und hörte ihre Stimme die letzten Ziffern ihrer Nummer ablesen.

    Majas Finger zitterten, als sie den Anrufbeantworter durch Auflegen abwürgte. Es war ein kaum spürbares Zeitloch gewesen. Aber sie hatte ihn wahrgenommen, den erinnerungsleeren Spalt zwischen ihrem Verstummen und der wie fremd und doch durch ihre Stimmbänder ausgesprochenen Telefonnummer. Noch eine Weile jagte ihr Herz panikgetrieben, dann schlug es zögernd langsamer und fiel schließlich in einen ruhigeren Rhythmus. Sie hatte das Telefonat überstanden.

    Majas Erleichterung war vielfältig. Sie war erleichtert, dass das Telefonat vorbei war. Dass sie niemanden erreicht hatte, mit dem sie hätte sprechen müssen. Und paradoxerweise gleichzeitig, dass sie jemanden erreicht hatte, der zurückrufen würde.

    Majas Furcht vor Psychiatern hatte in diesen Minuten ein neues Maximum erreicht. Und trotzdem hoffte sie verzweifelt, dass Dr. Gräbert bald antwortete. Es ließ sich einfach nicht länger ignorieren, dass sie Hilfe brauchte, wenn sie nicht völlig durchdrehen wollte. 

    Schon während der Klinikzeit hatten sich ihre Symptome drastisch verschärft. Anfangs hatte sie immer noch in den studentischen Funktionsmodus zurückgefunden. Aber in den letzten, herbstlichen Therapiewochen war davon nicht mehr viel übrig gewesen. Gebeutelt von Flashbacks, inneren Stimmen und Blackouts war sie schließlich entlassen worden. Und dann hatte die Großstadt begonnen, ihre eigenen Ansprüche an Maja zu stellen. Mit jeder Anfrage an ihre Fähigkeit, sich zu orientieren und den Überblick zu behalten, schien sie einen Teil davon zu verlieren. Die meiste Zeit fühlte Maja sich total konfus, überflutet, oder einfach gar nicht anwesend. 

    In der Abschlussvisite hatte Dr. Albert keinerlei Zweifel an der Notwendigkeit gelassen, dass Maja weiterhin eine Therapie brauchte. Der Arzt hatte ihr eindringlich erklärt, dass sie zur Stabilisierung unbedingt ambulante Hilfen in Anspruch nehmen müsse. 

    Aber wie schwierig es war, diese Hilfen zu finden, erfuhr sie erst jetzt. 

    Maja hatte die ganze Stadt nach Therapeuten durchforstet und jeder einzelne Anruf hatte sie so viel Kraft und Mut gekostet, dass sie danach Stunden gebraucht hatte, um wieder bei sich anzukommen. Erreicht hatte sie nichts. Es schien keinen einzigen freien Therapieplatz in dieser Stadt zu geben. Dr. Gräbert war der letzte Name auf ihrer Liste gewesen.

    Maja stützte ihren Kopf in die Hände und wartete, bis auch das letzte Zittern verschwand. Dann nahm sie ihr Smartphone und rief Rebecca an. Rebecca, die stets alles nahm, was da war, egal was es war, oder ob sie wusste, was es war. 

    »Maja?« Rebeccas Stimme klang rau und unbenutzt. »Ist was passiert?«

    »Hast du noch geschlafen?« Maja hörte ihr eigenes Erschrecken. Sie hatte wieder nicht auf die Uhrzeit geachtet. Ein gravierender Fehler, wenn die Zeit nicht linear verlief und zudem Löcher aufwies. 

    »Nein.« Maja konnte Rebeccas Feuerzeug schnappen hören. »Ich bin nur noch nicht ganz wach. War keine schöne Nacht.«

    »Tut mir leid«, murmelte Maja zerknirscht. 

    »Schon okay.« Rebecca stieß hörbar Zigarettenrauch aus. Maja stellte sich vor, wie die blauen Fäden über dem WG-Balkon in die Luft stiegen. Ihr Verlangen nach einer Zigarette vermischte sich mit dem Wunsch, Rebecca zu sehen. In deren Gegenwart, das schien ihre Sehnsucht zu versprechen, würde sich der innere Aufruhr beruhigen. Wenigstens für eine Weile. 

    »Hast du heute Zeit?«

    »Für dich immer.« Rebecca zog an ihrer Zigarette. »Wann?«

    Maja stieß einen Stapel Bücher um, als sie fahrig nach ihren Unterlagen vom letzten Freitag suchte. 

    »Ich muss um elf in die Uni«, stellte sie fest. »Wie wäre es um eins in der Mensa?«

    »Okay.«

    Maja hörte den leeren Blumentopf klappern, in den Rebecca die Zigarettenasche fallen ließ.

    Eine Welle warmer Dankbarkeit überrollte sie. Auch wenn Rebecca selbst in der ständigen Gefahr schwebte, die Balance am Abgrund zu verlieren, war sie doch Majas greifbarste Verbindung zu wackeliger Stabilität.

    »Eines muss man der Klinik lassen«, verkündete Rebecca, während sie eine lasche Pommes zwischen den Fingern drehte, »das Essen dort war auf jeden Fall besser als in der Mensa.«

    Maja lachte und rührte in ihrer Tomatensuppe. Rebecca wieder gegenüberzusitzen, tat gut. Wenn sie die Mittelmäßigkeit des Essens ausblendete und sich an Rebeccas silbrig-ernstem Gesicht festhielt, schwappte die lärmende Unruhe der Mensa über sie hinweg.

    »Aber«, stellte sie fest, »wir sitzen wieder neben einem Salatbüffet.«

    Als am Nebentisch scheppernd Besteck zu Boden fiel, ergänzte sie: »Außerdem ist um uns herum die Hölle los.«

    »Yeah«, grinste Rebecca. »Die Hölle ist echt überall.«

    Sie tunkte ihre Pommes in Majas Suppe und leckte das Rot ab. »Also, was machen wir heute?«

    Das diabolische Blitzen in Rebeccas Augen verhieß manischen Aktionismus am Rande eines destruktiven Absturzes. Maja beunruhigte der apokalyptische Schimmer.

    »War keine schöne Nacht.«

    Sie fragte sich, wohin die Dunkelheit Rebecca dieses Mal entführt, welche Bilder sie Rebecca ins Hirn gezeichnet hatte. Skizzenhafte Erinnerungen an ehemals erlebte Gewalt, oder aus der Vergangenheit geborene Albträume?

    Maja spürte, dass die Vorzeit immer noch ihre Arme ausstreckte, nach ihr, nach Rebecca, nach der Gegenwart. Wenn sie sich jetzt nicht verankerten, im Hier und Jetzt, würden sie mitgerissen werden von etwas, das keine von ihnen steuern konnte. 

    »Ich«, begann Maja zögernd, »habe heute einen Therapeuten angerufen.«

    »Gut.« Rebecca nickte und pustete sich eine ihrer kinnlangen Locken aus den Augen. »Hast du jemanden erreicht?«

    »Nur den Anrufbeantworter.« Maja legte den Löffel beiseite. »Aber ich durfte meine Nummer hinterlassen. Die meisten teilen schon in der Ansage mit, dass sie keine freien Plätze haben.«

    Die Neonröhre über ihnen flimmerte. Maja betrachtete ihre Freundin beim Wühlen nach Zigaretten. »Was ist eigentlich mit dir? Du hattest auch mal eine Therapeutin.«

    »Vor der Klinik, ja.« Rebecca fingerte eine Zigarette aus der Schachtel. Über ihnen erstarb das Licht mit einem letzten Aufblitzen. »Ich habe keine Stunden mehr.«

    Maja beobachtete, wie Rebecca das Piercing um ihre schmale Unterlippe in den Mund zog. 

    »Es ist alles ausgeschöpft. Die Kasse zahlt nicht mehr. Wir haben mehrere Gutachter durch.«

    Majas Blick suchte Rebeccas dunkle Augen vergeblich. 

    Kein Therapeut würde je zugeben, dass etwas hoffnungslos war. Aber manchmal gab es keine Antworten. Manchmal entwickelten sich keine Lösungen. Manchmal zeigten sich keine Auswege. 

    Rebeccas Leben war durchzogen von Irrsinn und Zerstörung. Aber niemand hatte einen Anspruch auf Hoffnung. Ein Bildergewitter sprengte Maja die Umrisse eines fremden Mannes vor Augen, dann verloren sich die Gestaltsplitter im Nichts.

    »Kommst du noch mit in die WG?«, fragte Rebecca. »Auf einen Espresso zum Nachtisch?«

    Maja nickte. Wie betäubt suchte sie nach einem Sinn zwischen den verlorenen Bildscherben. 

    »Dann komm!« Rebecca stand auf. »Du siehst aus, als solltest du raus aus der Hölle!«

    Der Dreiklang der Schulglocke ertönte zum letzten Mal, dann sammelte der Englischlehrer die Klausuren ein. Eine dreistündige Anspannung löste sich in Lärm auf. Stühlerücken, Papiergeraschel und einzelne Stimmen vereinten sich zu einem dröhnenden Gewirr. Julie legte ihren Kopf auf die Tischplatte. Sie spürte, wie Konzentration und Furcht aus ihr herausströmten und sie in kraftloser Schummrigkeit zurückließen. Aus nächster Nähe betrachtet, wirkte die zerlesene Ausgabe von Macbeth monströs, wie der Versuch, diesen Fels aus Buchseiten mit Markierungen und Notizen bezwingbar zu machen. 

    »Julie?«

    Julie fuhr hoch. Schwindel schlug sie mit schwarzen Flecken. Durch das Schwanken der Welt hindurch erkannte sie die Konturen ihres Englischlehrers.

    »Geht es Ihnen gut?«, erkundigte er sich, während er das letzte der zuvor abgegebenen Handys auf ihren Tisch legte. »Sie sehen sehr blass aus.«

    Unter Julies angestrengtem Blick schärften sich die Züge des Pädagogen.

    »Nein«, stotterte sie. »Ich meine, ja«. Hilflos hangelte sie nach Worthülsen. »Mir geht es gut.«

    Die Gegenwart des Lehrers machte sie nervös und seine Aufmerksamkeit war das Letzte, was sie wollte. Es war schlimm genug, dass jeder sie als Tochter des Mannes kannte, der die naturwissenschaftlichen Räume der Schule neu ausgestattet hatte. Julie selbst wollte nicht auffallen. Fahrig begann sie, die Stifte einzusammeln, um den Anschein von Unbefangenheit bemüht.

    »Gehen Sie ein bisschen an die frische Luft.« Der Lehrer deutete mit seinen Büchern zum Fenster. »Und essen Sie etwas.«

    Julie nickte, ohne ihn anzusehen. Essen. Ihre hohlen Magenwände schienen sich selbst zu verschlingen. In schmerzhaften Wellen katapultierten sie Übelkeit durch ihren Körper.

    Der Kursleiter schwenkte mit einem letzten Blick herum. »Ein schönes Wochenende!«, rief er den versprengten Resten der Klasse zu. »Bis Montag!«

    Julie wusste, dass ihr Englischlehrer nichts weiter sagen würde. Offiziell wusste in der Schule niemand von ihrer Essstörung. Sie war während der Sommerferien in der Klinik gewesen und für die letzten zwei Wochen hatten ihre Eltern sie beim Rektor entschuldigt. Benedikts Großzügigkeit hatte eine Wirkung wie Schweigegeld. 

    Langsam packte Julie ihre Sachen zusammen. Kalter Schweiß lag klebrig über den Händen, die das Buch und die übrig gebliebenen Klausurbögen in ihren Rucksack gleiten ließen. Als sie mit bebenden Fingern den Reißverschluss zuziehen wollte, nahm ihr verschwommener Blick ein kleines, weißes Quadrat auf dem Rucksackboden wahr. Julie zog es langsam hervor. Das Traubenzuckerplättchen war angeschlagen, pudrig haftete das süße Pulver an der verschmutzten Folie. 

    »23 Kalorien. Ungefähr.«

    Die Erinnerung an einen sonnendurchfluteten Klinikgang wischte das Klassenzimmer fort. Julie sah Charlottes noch unbekanntes, von Verzweiflung und Angst gezeichnetes Gesicht. Und sie hörte ihre eigene, ermutigende Stimme.

    »Traubenzucker ist echt okay.«

    Julie wog den Traubenzucker in der Hand. Dann zog sie langsam die Folie ab. 

    Die weiß gestrichene Wohnungstür schwang auf, als Andrea zwei Einkaufstüten in den WG-Wohnflur wuchtete. Maja hatte sich Rebeccas Mitbewohnerin früher immer anders vorgestellt, mehr wie Rebecca.

    »Hallo ihr zwei!«, begrüßte Andrea die beiden auf dem Flursofa und stellte Rebeccas Musik leiser.

    »He!«, beschwerte sich Rebecca. »Das ist mein Lieblingslied!«

    Andrea hob eine der Tüten auf den Esstisch. »Wenn du in zehn Jahren noch Lieblingslieder haben willst, solltest du dein Gehör schonen!«

    Maja musste schmunzeln. Rebeccas Freundin war frei von jeder Exzentrik. Kein Metall akzentuierte ihr von weichem, hellbraunem Haar umgebenes Gesicht und ihre Kleider waren niemals schwarz. Andrea hatte nichts von Rebeccas bedingungslos veräußerter Extremität, aber Maja hatte sofort verstanden, was Andrea zu einer ganz besonderen Freundin machte. Sie war einer der wenigen Menschen, die unerschütterlich und trotzdem berührbar waren.

    »Charlotte«, wandte sich Andrea an Rebecca, »kommt auch jeden Moment. Ich habe sie an der Haltestelle getroffen.«

    »Jetzt schon?« Rebeccas Freude verschluckte den Moment der Frustration.

    »Ja.« Andrea packte ihre Einkäufe auf den Tisch. »Sie hat gesagt, dass eine Vorlesung ausgefallen ist.«

    Das strahlende Leuchten, das nun in Rebeccas Augen lag, hatte nichts Diabolisches mehr an sich. Maja spürte, wie es ein Lächeln in ihr aufstöberte. Wenn es im Augenblick jemanden gab, der den Teufel aus Rebeccas Leben vertreiben konnte, dann war es Charlotte.

    Es klingelte und Rebecca flitzte zur Tür.

    Maja blinzelte desorientiert in das fremde Dunkel. Die nächtlichen Schemen zeichneten das Zimmer undeutlich nach. Sie war noch immer im WG-Flur. Jemand hatte ihr eine Decke gegeben und offenbar war sie auf dem Sofa eingeschlafen. Verworren fragte sie sich, wie spät es wohl war. Als sie sich aufrichtete,

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