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Schachzug Rache: ... und das Böse kriecht aus allen Löchern
Schachzug Rache: ... und das Böse kriecht aus allen Löchern
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eBook415 Seiten6 Stunden

Schachzug Rache: ... und das Böse kriecht aus allen Löchern

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Über dieses E-Book

Die Geschichte spielt sich im kleinen Vorort Queen´s Mill ab. Eine junge Frau namens Luisa Reed, wohnt dort gemeinsam mit ihrem brutalen und oftmals betrunkenen Vater. Eines Tages findet sie heraus, dass der Tod ihrer Mutter, welche angeblich bei ihrer Geburt starb, getürkt war. Mit aller Kraft, die sie aufbringen kann, versucht Luisa das Geheimnis um ihre tot geglaubte Mutter zu lüften.
Doch ihre Nachforschungen laufen aus dem Ruder und sie wird gegen ihren Willen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, wo sie sich mit anderen Insassen anfreundet. Doch deren Zusammentreffen war kein Zufall. Jemand wollte jeden Einzelnen von ihnen unter allen Umständen loswerden und aus dem Weg räumen. Vereint setzen sie alles daran, die Schuldigen zu finden, damit jene die Strafe bekommen, die ihnen gebührt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. Jan. 2017
ISBN9783738099713
Schachzug Rache: ... und das Böse kriecht aus allen Löchern

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    Buchvorschau

    Schachzug Rache - Eleane Pfeiffenberger

    Widmung

    Für meinen Onkel und Taufpaten Helmut,

    danke, dass es dich gibt.

    Prolog

    Es war sternenklare Nacht in Queen's Mill. So friedlich und still, wie man sich einen kleinen idyllischen Vorort vorstellt, in dem man gerne wohnen würde. Eine Eule flog durch die Luft, sie war auf ihrem nächtlichen Beutezug. Mehrmals umkreiste sie eine Häusergruppe und ließ sich dann in einem Baum nieder. Die Eule neigte ihren Kopf und lauschte dem einzigen Geräusch, welches die Stille durchbrach. Misstrauisch beäugte sie die Person, von der dieses Geräusch ausging. Ein Stück weiter kniete ein Mädchen auf dem Boden. Es hatte eine Schaufel in der Hand und atmete schwer. Luisa hielt ein paar Minuten lang inne, bis sie wieder genug Kraft hatte, um weiter zu graben. Ihr rann der Schweiß über die Stirn und unter ihren Fingernägeln klebte feuchte Erde. Bei jedem Spatenstich rechnete Luisa fest damit, dass jemand quer durch den Garten kommen und sie dabei erwischen würde, wie sie die Erde rund um die Nordmanntanne umgrub. Sie dachte kurz an die Konsequenzen, die das mit sich bringen würde. Abgesehen davon, dass sich auch die Polizei einschalten würde, könnte der Besitzer des Gartens Anzeige gegen sie erstatten. Doch diese Dinge waren für Luisa im Moment nebensächlich, denn sie hatte größere Probleme. Luisa war in etwas verwickelt, bei dem es kein Schlupfloch gab. Oft hatte sie versucht, der Sache zu entfliehen, doch je mehr sie es versucht hatte, desto schmerzlicher war ihr klargeworden, dass es nicht möglich war.

    Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Ein Auto bog um die Ecke. Hastig versuchte Luisa, sich zu ducken, stolperte dabei über die Wurzeln der Tanne, verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings auf den harten Erdboden.

    Sie sah zu, wie das Auto vorbeirauschte, blieb allerdings noch weitere fünf Minuten unbewegt liegen, um sicherzugehen, dass es nicht zurückkam. Luisa hievte sich hoch, klopfte die Erde ab, so gut es ging, und unterdrückte einen Schrei. Etwas hatte ihre Wange berührt, jetzt den Arm – sie begriff, dass es zu regnen begonnen hatte. Sie lachte sich innerlich selbst aus und machte sich weiter an die Arbeit. Sie nahm die Schaufel, setzte sie am Boden an und trat mit dem Fuß darauf, um die Erde besser auflockern zu können. Inzwischen war der Regen stärker geworden. Luisas schwarzes Haar klebten in nassen Strähnen an ihrem Kopf. Sie hielt ihr Haupt gesenkt, um zu vermeiden, dass ihr Regen in die Augen rann. Luisa grub weiter, bis ihre Kraft sie verließ. Erschöpft stützte sie sich mit beiden Händen an der Schaufel ab. Als sie nach unten sah, dort, wo sie gegraben hatte, entdeckte sie etwas, das ihr die Eingeweide gefrieren ließ. Luisa beugte sich in das Loch hinunter und im selben Augenblick wünschte sie sich in ihr altes Leben zurück, als sie noch für jedermann ein unscheinbares Mädchen war. Denn die alte Luisa hatte niemand beachtet. Obwohl es oft schwer zu ertragen war, von allen ignoriert zu werden, so war ihr dies trotzdem tausend Mal lieber gewesen, denn die Geschehnisse des letzten halben Jahres, welche nun über sie hereinbrachen, fingen an, sie zu überfordern. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie auf den leblosen Körper unter sich gestarrt hatte, bis sie sich schließlich übergab.

    Kapitel 1 – Zweifel

    Ein paar Monate zuvor:

    Die Schulglocke ertönte und ein erleichtertes Seufzen ging durch das Klassenzimmer. Luisa packte ihre Schulsachen zusammen und wollte gerade den Stuhl unter ihr Pult schieben, als sie plötzlich etwas Hartes am Kopf traf.

    Hinter ihr hörte sie johlendes Gelächter. Sie drehte sich um und sah James Cooper, von dem sie tagtäglich schikaniert wurde. James Cooper ging in Luisas Klasse, sie kannten sich seit dem Kindergarten und waren für lange Zeit beste Freunde gewesen, bis er schließlich Kapitän der Basketball-Schulmannschaft wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde er unerträglich. James war Luisas einziger Freund gewesen, aber mittlerweile wurde sie auch von ihm zurückgewiesen.

    »Hey Mrs. Piggy, heute schon in den Spiegel gesehen«, rief James ihr breit grinsend zu. Luisa schossen Tränen in die Augen. »Mrs. Piggy« war ihr Spitzname bei den »beliebten« Kindern. James hatte ihn ihr gegeben, nachdem er sich von ihr abgewandt hatte und im Rampenlicht stand. »Halt die Klappe«, erwiderte Luisa leise und schluckte ihre Tränen hinunter. Nach den ganzen Demütigungen, die sie über sich ergehen lassen musste, war sie mittlerweile abgehärtet.

    Anfangs kam sie weinend nach Hause, ging weinend ins Bett und hatte in der Früh Bauchschmerzen, bevor sie in die Schule ging. Doch mittlerweile prallten die gehässigen Bemerkungen an ihr ab, obwohl diese sie tief im Inneren verletzten.

    Sie sah zu Boden, auf der Suche nach dem Ding, das ihren Kopf getroffen hatte. Es war ein angebissener Apfel, bei dem nun eine eingedrückte Delle auf der Unterseite zu sehen war. Luisas Hinterkopf pochte, doch sie befahl sich, Ruhe zu bewahren. Erneutes Gelächter erklang. Ein Freund von James, Jack Boltymore, grölte: »Hey Mrs. Piggy, Schweine mögen doch Äpfel, oder etwa nicht?« Luisa stürmte aus dem Raum und das Gelächter hinter ihr wurde endlich leiser. Als sie das Schulgebäude verlassen hatte, öffnete sie ihren Rucksack und holte ein Päckchen Zigaretten heraus.

    Das Rauchen nach der Schule beruhigte sie, es war mittlerweile zum Ritual geworden. Kurze Zeit später stieg Luisa in den Bus nach Hause, setzte sich auf einen freien Platz und lehnte ihren Kopf an die Fensterscheibe. Nur noch ein halbes Jahr, dann kommst du aufs College. Dort wird ein neuer Lebensabschnitt beginnen, dort wird man dich schätzen, dachte sie. Bei der nächsten Haltestelle stieg eine Gruppe Mädchen ein. Luisa wollte sich gerade wegducken, aber es war zu spät. Sie hatten sie entdeckt. Luisa kannte diese Mädchen. Die Clique aus der Nebenklasse, deren Anführerin Kim Masters war. Ein anderes Mitglied in der Gruppe rief laut, sodass der ganze Bus es hören konnte: »Hey, wen haben wir denn da?« Sie sahen Luisa abschätzig an, steckten ihre Köpfe zusammen und kicherten. Ohne dass ihre Freundinnen etwas davon bemerkten, war Kim blitzschnell an Luisa herangetreten und flüsterte in ihr Ohr: »Du schuldest mir etwas. Ich hoffe, du hast das nicht vergessen.«

    Als Luisa aus dem Bus ausstieg, dachte sie über Kims Worte nach. Wie hätte sie es je vergessen können. Niemals würde sie diesen Tag aus ihrem Gedächtnis verdrängen können.

    Luisa überquerte die Straße, ging die Einfahrt ihres Hauses hinauf und stellte fest, dass sie das ganze Haus für sich allein hatte. Wie fast jeden Tag war ihr Vater länger in der Arbeit. Eine Mutter hatte Luisas nicht mehr, sie war bei ihrer Geburt gestorben. David hatte seine Trauer und die Schuld, die er seiner Tochter dafür gab, nie überwinden können. Luisa verspürte Hunger und durchsuchte den Kühlschrank. Nach kurzem Abwägen, ob sie sich für die Reste von vorgestern oder eine Dosensuppe zum Aufwärmen entscheiden sollte, fiel ihre Wahl auf Letzteres. Als sie die Dose auf der Anrichte abstellte, entdeckte sie die Dienstmarke ihres Vaters.

    Queen's Mill Police Department

    Polizeichef

    David Reed

    David Reed, groß gewachsen, blond, braun gebrannt und muskulös. Genau das Gegenteil von Luisa. Sie war nicht mal ein Meter sechzig groß. Sie hatte lange schwarze Haare, und von jeglicher Muskulatur konnte kaum die Rede sein.

    Während die Suppe in der Mikrowelle aufwärmte, dachte Luisa wieder an Kims Worte. Vor etwa zwei Wochen hatte Luisa von der Schule eine Mahnung mit nach Hause bekommen. Sie hatte schreckliche Angst gehabt, sie ihrem Vater zu zeigen. Doch Luisa hatte keine andere Person in ihrem Leben, die die Mahnung hätte unterschreiben konnte, also blieb ihr keine Wahl. Als sie sie ihrem Vater vorlegte, herrschte zunächst eisige Stille. Er stellte sein Weinglas beiseite und musterte den Bescheid lange. Sie wusste, dass sie eine Enttäuschung für ihren Vater war, aber das Folgende konnte nicht einmal sie vorhersehen. Mit einem Mal sprang ihr Vater aus seinem roten Ledersessel hoch, holte mit der Hand aus und schlug Luisa so fest ins Gesicht, dass sie zu Boden stürzte. Sie hielt sich die brennende Wange und atmete schwer. Innerhalb von Sekunden wandelte sich der Schock in Zorn um. Sie rappelte sich auf und sprach mit ruhiger, fester Stimme: »Du solltest dich schämen, deine eigene Tochter zu schlagen. Und dabei ist es doch deine eigene Schuld! Du warst nie für mich da, du hast nie mit mir gelernt. Ich musste mir alles selbst beibringen. Dir war es egal, ob ich ohne Essen im Kühlschrank für drei Tage alleine zu Hause war. Es dreht sich immer alles nur um dich. Ich würde jetzt gerne Mums Gesicht sehen.«

    »Deine Mum ist tot!«, schrie David. »Sie ist deinetwegen gestorben. Wenn ich dich ansehe, erinnerst du mich an sie! Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dich nicht in ein Heim gesteckt habe, du hast mir das weggenommen, was ich am meisten geliebt habe.« Er packte Luisa grob am Arm. »Zuerst tötest du mein Ein und Alles, und jetzt kommst du nach Hause mit lauter schlechten Noten und besudelst meinen guten Ruf. Wieso konntest nicht einfach du an ihrer Stelle sterben! Deine Mutter war ein so viel besserer Mensch, als du es je sein wirst.« Davids Griff verstärkte sich, und er verdrehte Luisa den Arm. Sie schrie auf vor Schmerz. Ihr Vater holte erneut aus und schlug ihr ins Gesicht. Wie oft, an das konnte sich Luisa später nicht mehr erinnern, sie wusste nur noch eines: Plötzlich stand Kim im Wohnzimmer und schlug David mit einer Vase zu Boden.

    »Mister Reed, ich denke, Sie können sich noch an mich erinnern. Fassen Sie Ihre Tochter nie mehr an!« So schnell, wie Kim aufgetaucht war, so rasch war sie auch wieder verschwunden, doch seit diesem Tag redete ihr Vater nicht mehr mit Luisa. Auf der einen Seite war das ganz gut, denn so musste sie sein ewiges Gezeter nicht mehr ertragen. Luisa konnte sich jedoch einfach nicht erklären, warum ihr Vater, ein erfahrener Polizist, sich von Kim hatte einschüchtern lassen. Luisa hatte so viele Fragen: »Was hatte Kim in unserem Haus verloren?«, »Wie kam sie ins Haus?«, und die wichtigste: »Was hat sie gegen meinen Vater in der Hand?« Doch Luisa bekam keine Antworten. Weder von ihrem Vater noch von Kim. Als sie am nächsten Tag in die Schule ging und Kim auf den Vorfall des gestrigen Abends ansprach, lautete ihre Antwort: »Ich werde eines Tages einen Gefallen von dir einfordern. Bis es so weit ist, sprich nicht mit mir.«

    Luisa wurde ins Hier und Jetzt zurückgerufen, als die Dienstmarke ihres Vaters zu Boden fiel. Luisa hasste es, jemandem etwas schuldig zu sein. Sie hob die Marke auf, und augenblicklich überfiel sie eine Art von Unbehagen. Es war unter der Woche, aber die Dienstmarke ihres Vaters lag zu Hause. Normalerweise musste ihr Vater sie immer in seiner Tasche mitführen, wenn er dienstlich unterwegs war. Aber auch sonst würde er ohne sie nie aus dem Haus gehen, da er die Sorte Mensch war, die gerne damit prahlte, wie weit sie es in ihrem Leben gebracht hatte.

    Hatte ihr Vater heute frei? Hatte er Urlaub, oder war er früher nach Hause gekommen? Luisa verließ die Küche und ging langsam den Flur entlang. Von beiden Seiten lachten Gesichter aus Gemälden zu ihr herab. Sie hasste diesen Flur, er war dunkel trotz der Deckenlampen, und jedes Mal, wenn sie ihn entlangging, hatte sie das Gefühl, dass die Menschen in den Gemälden sie beobachten. Sie wanderte weiter bis zum Zimmer ihres Vaters und lauschte. Doch nichts, nur unheimliche Stille. Luisa bekam Gänsehaut. Sie lief zurück in die Küche, um zu sehen, ob die heutige Zeitung wie immer auf dem Küchentisch lag. Doch fand sie weder die Zeitung noch eine Kaffeetasse in der Spüle. Inzwischen war ihr der Appetit vergangen, sie füllte den Inhalt der Dosensuppe in eine Plastikbox und stellte sie zurück in den Kühlschrank. Stattdessen goss sie sich ein Glas Orangensaft ein und trank den Inhalt in einem Zug aus. Die Müdigkeit überkam sie urplötzlich. Sie legte sich in ihr Bett und zappte durch ein paar Fernsehkanäle, fand jedoch nichts, was sie aufgemuntert hätte. Ihr Bett war weich und warm, und sie zog die Decke bis ans Kinn. Sie wollte den heutigen Tag einfach vergessen. Luisa schaltete den Fernseher aus, drehte sich auf die Seite und war kurze Zeit später eingeschlafen.

    -

    Als Luisa die Augen aufschlug, war es halb fünf Uhr früh. Da heute Samstag war, konnte sie ausschlafen und musste sich keine Sorgen wegen der Gemeinheiten von James Cooper und seiner Freunde machen. Sie schüttelte ihr Kopfpolster auf, um bequemer liegen zu können, und schlief erneut ein. Als Luisa schließlich am späten Vormittag wieder aufwachte, hatte sie Mühe, aus dem Bett zu kommen. Verschlafen tapste sie ins Badezimmer, um sich frischzumachen. Während sie ihre Zähne putzte, fiel ihr Blick auf den Wäschekorb, der zu ihrer Linken am Boden stand. Sie spuckte die restliche Zahnpaste aus und sah verwundert in den Korb. Normalerweise lag die Uniform ihres Vaters darin, denn ihr Vater war ein sehr penibler Mensch und wusch seine Kleidung, vor allem seine Arbeitskleidung, jeden Tag. Doch eine Polizeijacke oder Polizeihose war nicht zu sehen. Luisa spürte ihr Herz schneller klopfen. Sie machte sich jetzt ernsthaft Sorgen, ob ihrem Vater etwas zugestoßen war.

    Sie huschte die Treppe hinunter in die Küche und aß im Esszimmer einen Joghurt, während sie überlegte, wo ihr Vater sich aufhalten könnte. Die Handyvibration riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah aufs Display, erkannte die Nummer, und all ihre Sorgen waren wie weggeblasen. »Dad!«, rief sie ins Telefon.

    »Nein, hier ist Joe. Hallo Lissy.«

    »Oh, hey Joe.«

    »Luisa, wir auf dem Revier machen uns Sorgen um deinen Vater, er war seit zwei Tagen nicht in der Arbeit, normalerweise faxt er uns die Bescheinigung von seinem Arzt, wenn er krank ist. Er geht auch nicht an sein Handy. Das ist gar nicht seine Art, könntest du ihn bitte ans Telefon holen, weil …«

    »Mein Vater war seit vorgestern nicht mehr in der Arbeit?«, unterbrach ihn Luisa. »So lange habe ich ihn auch schon zu Hause nicht mehr gesehen. Ich dachte, er wäre ganz früh zur Arbeit gegangen und erst tief in der Nacht nach Hause gekommen, sodass wir uns immer verpasst haben.« »Willst du mir damit sagen, dass du deinen Vater seit zwei Tagen nicht mehr gesehen hast und nicht misstrauisch wurdest?«, rief Joe aufgebracht in den Hörer.

    »Nein, wurde ich nicht, es wäre ja nicht das erste Mal, dass er länger von zu Hause weggeblieben ist«, fauchte Luisa zurück.

    »Alles klar, entschuldige, ich wollte dich nicht anschnauzen.« Eine Spur Scham lag in Joes Stimme. »Ich werde unserem Oberhaupt die Angelegenheit melden und er wird sich darum kümmern. Mach dir keine Sorgen, vielleicht ist dein Vater nur in der Nachbarstadt Foxwood auf dem Revier und überprüft dort einen Fall«, sagte Joe mit Nachsicht. »Ich melde mich, sobald ich etwas Neues weiß. Falls du etwas von ihm hörst, rufst du mich bitte umgehend an.«

    »Natürlich, das mache ich«, versprach Luisa. Als sie aufgelegt hatte, wurde sie stutzig. Ihr Vater war der Polizeichef und Joes bester Freund. Wieso hatte sich Joe erst jetzt nach ihm erkundigt? Ohne David Reed wurde auf der Polizeistation nichts beschlossen, weswegen sie bereits an seinem ersten Fehltag hätten anrufen müssen. Aber Joe hatte so ruhig am Telefon geklungen, als würde es ihn kaum interessieren, dass David nicht zur Arbeit erschienen war. Wollte er mir vielleicht einfach keine Angst einjagen?, überlegte Luisa. Oder weiß Joe etwas über das Verschwinden meines Vaters, das er mir nicht mitteilen wollte? Luisa nahm sich vor, Joe nicht mehr blindlings zu vertrauen. Zuerst musste sie herausfinden, ob er ihr auch wirklich die ganze Wahrheit erzählt hatte. Nach diesem merkwürdigen Telefonat dachte Luisa angestrengt nach. Doch nichts ergab einen Sinn. Vielleicht steigerte sie sich nur in etwas hinein, das in Wahrheit völlig harmlos war. Möglicherweise bezichtigte sie Joe zu Unrecht, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass mit ihm etwas nicht stimmte, und auf ihr Bauchgefühl war normalerweise Verlass.

    Sie sah aus dem Fenster in den wolkenlosen Himmel. Vor einigen Jahren wäre sie jetzt um diese Zeit mit James im Park spaziert. Dort waren sie bei schönem Wetter fast jeden Tag gewesen, doch jetzt war natürlich alles anders, und ihre Wege hatten sich getrennt. Sie verdrängte die Gedanken an James. Für sie war nun wichtig, ihren Kopf freizubekommen und ihren Vater zu finden. Luisa zog sich eine Weste über ihr Shirt und verließ das Haus.

    Gedankenverloren schlenderte sie durch die Stadt hinaus aufs Land. Nachdem sie lange gelaufen war, stand sie plötzlich vor dem alten Bauernhof von Old Max. Luisa war tief in den Wald gegangen, ohne es wirklich wahrzunehmen. Old Max war ein alter Mann, der früher hier gelebt hatte. Vor zwölf Jahren war er an Herzversagen gestorben. Old Max war ein komischer Kauz gewesen, er mochte keine anderen Menschen, nur seine Tiere liebte er über alles. Seit seinem Tod standen das Bauernhaus und der dazugehörige Schuppen leer. Luisa ging auf die alte, aber robuste Scheune zu, zog das Eisenschloss zur Seite und ging vorsichtig hinein. Wie lange war sie schon nicht mehr hier gewesen, vier oder fünf Jahre? In der Hütte war es dunkel, alles war verstaubt, Spinnweben spannten sich vom Dachbalken bis hinunter zum Boden. Es roch modrig. Früher, als sie noch jünger war, schien diese Scheune geheimnisvoll, doch heute war sie für Luisa nicht mehr als eine alte, verwahrloste Hütte. Sie trat wieder hinaus auf eine Lichtung, die mit Hunderten von Blumen übersät war. Sie ließ sich im Schatten eines großen Baumes nieder und dachte an vergangene Tage. Die Leute in der Stadt erzählten sich, dass Old Max, kurz bevor er starb, in der Nähe dieser Scheune sein ganzes Erspartes vergraben hätte. James und Luisa hatten oft danach gesucht, doch nach einer Weile hielten sie es nur mehr für ein Gerücht, das die alten Leute in der Stadt immer wieder hervorholten, wenn es gerade keinen neuen Tratsch gab. Luisa dachte über die letzten fünfzehn Stunden nach und was in der Zwischenzeit alles geschehen war. Sie konnte einfach nicht verstehen, wieso die Kollegen auf dem Revier so entspannt mit der Situation, dass ihr Vater verschwunden war, umgehen konnten. Immerhin wurde der Polizeichef vermisst. Doch Luisa konnte nur abwarten und hoffen, dass sich Joe bald wieder bei ihr melden würde. Sie bereute, ohne Essen und Trinken aus dem Haus gegangen zu sein. Inzwischen knurrte ihr Magen, denn ihr Frühstück war nur ein halber Joghurtbecher gewesen. Eine halbe Stunde noch, dann geh ich zurück, dachte sie. Vor ihr flatterte ein Schmetterling, Luisa glaubte, sich zu erinnern, dass diese Art Schmetterling ›Kleiner Fuchs‹ hieß. Sie folgte ihm mit den Augen, bis er nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne war. Sie überlegte, wieso sie eigentlich nicht öfter hierherkam, denn dies war ein wundervoller Ort, um nachzudenken, und außer einzelnen Wanderern kam hier keine Menschenseele vorbei. Sie legte sich ins Gras und fuhr mit der Hand durch das Blumenmeer. Der Duft von den Bäumen und dem frischen Gras war überwältigend. Kurz darauf war sie eingenickt. Am späten Nachmittag wurde Luisa durch ein Rascheln in den Büschen geweckt. Bestimmt nur ein Kaninchen, sagte sie sich, doch vorsichtshalber blieb sie noch ruhig im hohen Gras liegen. Kein Mensch würde hier seine Freizeit verbringen, bis auf sie. Es musste jetzt circa fünf Uhr sein. Die Sonnenstrahlen ließen allmählich nach, doch in der Lichtung hatte sich ordentlich Hitze angestaut. Luisa beabsichtigte, zu verschwinden, bevor es dunkel wurde, doch plötzlich hörte sie hinter sich das gleiche Rascheln, welches sie Sekunden davor schon vernommen hatte. Sie wirbelte herum und erschrak heftig. Ein junger Mann stand vor ihr. Luisa fand, dass er sehr attraktiv aussah. Athletischer Körperbau, schwarze Haare und braune Augen, die ihr direkt in die Seele zu blicken schienen. Obwohl er keinen gefährlichen Eindruck machte, wich Luisa zurück, um den Abstand so groß wie nur möglich zu halten.

    »Keine Angst, mein Name ist Riley Masters, Kims Bruder, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.«

    Luisa dämmerte plötzlich, was jetzt gleich passieren würde. Luisa sollte nun endlich ihre Schuld bei Kim begleichen, aber wieso schickte sie dazu ihren Bruder?

    »Tut mir leid, du bist Luisa, oder?«

    Luisa rappelte sich auf und sah ihrem Gegenüber misstrauisch ins Gesicht. »Warum willst du das wissen und woher weißt du, dass ich hier oben bin? Hast du mich etwa verfolgt?« Riley lächelte sie an und Luisa wurde rot. Verlegen strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht.

    »Ja, ich bin dir gefolgt, auch wenn das sonst nicht meine Art ist«, sagte er belustigt.

    Luisa fand das alles gar nicht komisch. »Will Kim ihren Gefallen einfordern? Bist du deswegen hier?«

    »Gut, dann weißt du also, was ich hier mache, das erspart uns einiges an Zeit.«

    »Warum schickt sie dich?«, hakte Luisa nach.

    »Dafür, dass du Kim etwas schuldest, stellst du ziemlich viele Fragen«, sagte Riley gedehnt. »Wenn du noch Zeit hast, erkläre ich dir alles, aber wenn du gehen willst, dann geh, nur werde ich dir wieder folgen, so lange, bis du mir zuhörst. Also, du kannst dich entscheiden, willst du es heute hinter dich bringen, oder soll ich morgen wiederkommen?«

    Luisa war drauf und dran zu verschwinden, aber am Ende siegte die Neugierde. Sie wollte unbedingt erfahren, um was es sich handelte, und Riley würde sie sowieso nicht in Ruhe lassen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu bleiben und ihm zuzuhören.

    »Punkt eins, du hattest recht, ich bin hier, weil Kim den Gefallen einfordert, den du ihr schuldest. Sie war heute verhindert, deswegen hat sie mich geschickt, und bevor du irgendwelche Fragen stellst, lass mich dir alles ganz genau erklären. Ach ja, und dieses Gespräch bleibt unter uns, versteht sich.« Riley sah sie mit durchdringendem Blick an. »Vor etwa drei Wochen verdonnerten meine Eltern Kim dazu, den Dachboden zu säubern, da sie die Ausgangssperre nicht eingehalten hatte. Als sie widerwillig mit dem Putzen anfing, fand sie nach einiger Zeit etwas in einem Karton, das sie für unmöglich hielt. Es hat etwas mit deiner Familie zu tun, Luisa.«

    Luisa zuckte zusammen. »Was?«

    »Keine Fragen«, zischte Riley und fuhr fort: »Mit diesem Fund erpresst sie deinen Vater. Ich selbst weiß nicht, um was es sich handelt, sie sagte mir einfach nur, ich solle dir ausrichten, dass du das wahre Gesicht deines Vaters enthüllen sollst. Ich habe versucht, es aus ihr herauszuquetschen, doch Kim kann extrem stur sein. Kein Sterbenswörtchen hat sie mir darüber verraten.«

    Luisa sah ihn verständnislos an.

    »Mir kam zu Ohren, dass dein Vater verschwunden ist? Leider kann ich dir auch nicht sagen, wohin oder wieso. Kim will, dass ich dir ausrichte, du sollst dem Verschwinden deines Vaters auf den Grund gehen. Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie den Grund kennt, aber du würdest es ihr nicht glauben, da er dein Vater ist. Deshalb sollst du selbst nach der Wahrheit graben. Ich konnte herausfinden, dass dein Vater Dinge getan hat, die Kim sehr verletzt haben, und nun fordert sie Gerechtigkeit. Sie sagt auch, dass es vieles gibt, was du nicht über deinen Vater weißt, Sachen, die er vor dir geheim hält. Ich glaube nicht, dass Kim dir damit schaden will. Sie ist kein böser Mensch, sie hat Mitleid mit dir und will, dass du endlich erfährst, was du wissen solltest.« Damit war Rileys Vortrag beendet.

    Luisa sah ihn entsetzt an. »Das hier ist doch alles nur ein übler Scherz, oder? Hat er sie körperlich verletzt? Ich weiß, dass mein Vater vieles vor mir verheimlicht und dass er mich nicht in seinem Leben haben will, was mir mittlerweile ehrlich gesagt ziemlich egal ist, und außerdem glaube ich kaum, dass es etwas herauszufinden gibt, was mich interessieren würde.«

    »Glaube mir, diese Sache interessiert dich brennend, sie hat mit deiner Mutter zu tun«, sagte Riley, ohne auf ihre Fragen einzugehen.

    »Wenn Kim über all das hier Bescheid weiß, wieso will sie dann, dass ich es herausfinde, wieso sagt sie es mir nicht einfach? Und was zur Hölle ist mit meiner Mutter?« Luisa war vollkommen verwirrt.

    »Wie schon gesagt, dein Vater hat Kim sehr wehgetan, doch um ihn bloßzustellen, hat sie zu wenig Beweise, und sie will, dass er seine gerechte Strafe bekommt. Du hast die Wahl, entweder du revanchierst dich bei Kim und wühlst in der Vergangenheit deines Vaters, oder du wirst es mit ihr zu tun bekommen. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass dies alles andere als angenehm für dich sein wird.«

    »Woher weiß ich, dass du mich nicht einfach nur anlügst, um dich über mich lustig zu machen? Ich will Beweise, ob ich dir vertrauen kann«, verlangte Luisa.

    »Ich habe mir schon gedacht, dass du diese Frage stellen wirst. Der Beweis existiert, und überhaupt bin ich zurzeit der Einzige, dem du vertrauen solltest. Falls du Hilfe brauchst, kannst du dich gerne an mich wenden, unter einer Bedingung: Kim darf davon nichts erfahren.« Riley griff in die Innentasche seiner Jeansjacke und zog ein Foto hervor. An den Ecken war es bereits leicht gelblich und eingeknickt, so, als hätte er es schon länger in seiner Tasche aufbewahrt. Er reichte Luisa das Bild. Sie nahm es entgegen und sah darauf eine Frau, die sie nicht kannte. Sie hatte dunkelbraune Haare, welche streng zu einem Dutt gebunden waren. Das Gesicht der Frau war freundlich, und doch wirkte sie irgendwie abwesend. In ihren Augen lag ein bestimmter Glanz, der sie verträumt wirken ließ. »Wer ist das?«, fragte Luisa interessiert.

    »Das hier ist deine Mutter, Sophia«, entgegnete er.

    »DAS ist meine Mum?«

    »Genau«, wiederholte Riley. »Doch eigentlich spielt die größte Rolle das Datum. Dreh das Foto um.«

    Luisa wendete es und las leise 18.01.2001. »Das kann nicht sein, meine Mum ist bei meiner …«

    »… bei deiner Geburt gestorben. Ja, das erzählt man sich, so wie man sich erzählt, dass Old Max hier oben sein Erspartes vergraben hat.«

    »Willst du mir damit sagen, dass meine Mutter noch am Leben ist?«

    »Jetzt hör mir ganz genau zu, Luisa, der Tod deiner Mutter war vorgetäuscht, ich sagte doch, es gibt vieles, was du nicht weißt, und du solltest es herausfinden, bevor es zu spät ist.« Riley sah sie eindringlich an. Er erhob sich. »Wenn du Fragen hast oder jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da. Samstagvormittags, denn da hilft Kim im Café unserer Mutter aus.« Dann war er verschwunden.

    Luisa wusste nicht, was sie denken sollte, sie wusste gar nichts mehr, ihr Kopf war leer. Sie starrte auf das Bild, aus dem ihre Mutter sie anlächelte. Sie hatte eine Stupsnase, genauso wie Luisa, doch das Außergewöhnlichste an ihr waren ihre Grübchen. Alles in allem fand Luisa, dass ihre Mutter sehr hübsch war. Ihr fiel auf, dass Sophia auf diesem Bild glücklich aussah, was ihr einen Stich versetzte. Wie konnte jemand glücklich sein und ohne Schuldgefühle leben, wenn er bewusst Ehemann und Kind zurückgelassen hatte? Sie hatte ihr hilfloses Baby im Stich gelassen, ihren Mann, der seit diesem Tag nicht mehr er selbst war. Aber wieso? Wie hatte sie es geschafft, ihren eigenen Tod vorzutäuschen, ohne irgendwelche Hinweise, die auf ihr Überleben hindeuteten, zu hinterlassen? Die Gedanken rasten durch Luisas Kopf, in diesem Moment hätte sie gerne ihren Vater an ihrer Seite gehabt, denn er könnte ihr bestätigen, ob die Frau auf diesem Foto wirklich seine »verstorbene« Frau war. Vielleicht würde auch er wieder Hoffnung schöpfen können und sich von Grund auf verändern. Luisas Schuldgefühle hatten sie ihr ganzes Leben lang begleitet, denn laut den Ärzten hatte ihre Mutter ihr Leben geopfert, damit Luisa leben konnte. Doch jetzt waren alle traurigen Gefühle wie weggeblasen. Luisa war wütend und enttäuscht. Die letzten Jahre war sie durch die Hölle gegangen, sie hatte keine Freunde, wurde von ihrem Vater geschlagen und missachtet, und wozu? Das konnte sich Luisa selbst nicht erklären, doch eines wusste sie ganz bestimmt: Wäre ihre Mutter geblieben, hätte sie ein anderes, kein so sorgenvolles Leben geführt. Sie wandte ihren Blick von dem Foto ab und steckte es in ihr Portemonnaie. Riley hatte ihr geraten, als Erstes herauszufinden, wohin ihr Vater verschwunden oder möglicherweise auch bewusst abgetaucht war. Luisa jedoch hatte andere Pläne. Für sie war im Augenblick die Frage am wichtigsten, ob die Frau auf dem Foto wirklich ihre Mutter war. Da Luisas Großeltern verstorben waren und ihr Vater verschwunden war, musste sie sich eben selbst behilflich sein.

    Bis in die Nacht dachte sie über Rileys Worte nach: »Kim hat Fotos auf dem Dachboden gefunden.« Wollte er ihr damit vielleicht einen Tipp geben, wo Luisa nach weiteren Hinweisen oder Antworten suchen konnte? Versuchen kann ich es zumindest. Ich habe nichts zu verlieren, dachte sie. Luisa lief die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal, und holte hinter einer Kommode im ersten Stock den Stab hervor, mit dem man die Dachbodenluke öffnen konnte. Nach mehreren Fehlversuchen schaffte sie es, den Haken in den Karabiner der Dachbodentür zu hängen. Bald schon stand sie auf der ersten Sprosse der Leiter, die hinaufführte. Sie kletterte weiter und fand sich in völliger Dunkelheit wieder. Nach einigen Minuten gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis, und sie konnte den Lichtschalter ausfindig machen. Sie drückte ihn, und es wurde hell. Hier oben war alles verstaubt und dreckig, und Luisa fröstelte leicht. Der Dachboden war vollgestellt mit Kisten, alten Büchern, Fotoalben und Spielsachen aus ihrer Kindheit, außerdem waren noch ziemlich viele andere Sachen hier aufgestapelt, die Luisa noch nie gesehen hatte. Sie schätzte, dass in diesem Durcheinander drei Jahrzehnte verstreut lagen. Bei einigen Büchern konnte sie erkennen, dass die Seiten stark vergilbt waren, und auf manchen Kartons war eine zwei Zentimeter dicke Staubschicht. Luisa war klar, wenn sie zwischen all diesen alten Sachen etwas finden wollte, würde sie länger als ein paar Stunden suchen müssen, aber der Aufwand war es ihr wert, denn ihr ganzes Leben lang war ihr kein einziges Bild ihrer Mutter untergekommen, bis zum heutigen Tag.

    -

    Luisa wusste nicht genau, wonach sie eigentlich suchen sollte oder was sie zu finden erwartete. Am hilfreichsten wäre ein Lichtbildausweis. Doch aus welchem Grund sollte man einen Reisepass oder einen Personalausweis in Kisten aufbewahren, wenn die Person, der er gehörte, schon lange »tot« war? Luisa seufzte und begann mit ihrer Suche. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ihre Mutter am Leben sein sollte.

    Zwei, vielleicht aber auch drei Stunden waren vergangen. Mittlerweile beugte Luisa sich über den achten Karton, aber bisher hatte sie noch nichts gefunden, was ihr irgendwie weitergeholfen hätte. Zwar stieß sie auf alte Familienalben, jedoch war auf keinem einzigen Foto die Frau mit den niedlichen Grübchen abgelichtet. Doch aufgeben kam für Luisa nicht infrage. Sie wollte die Wahrheit wissen und sie würde sie auch herausfinden, das schwor sie sich. Plötzlich meldete sich ihr Bauch mit einem deutlichen Grummeln. Luisa stemmte sich ächzend hoch, das lange Sitzen und Hocken hatte ihre Beine steif werden lassen. Kurz bevor sie die Luke erreichte, um hinunterzusteigen, stieß sie mit dem Fuß gegen eine weitere Kiste. Sie packte den Karton und stellte ihn hinüber zu den übrigen Schachteln, die sie noch nicht durchsucht und ausgepackt hatte. Ihr fiel auf, dass dieser Karton größer war als die anderen, noch dazu war er um einige Kilos schwerer. Vorsichtig setzte sie ihn ab und bemerkte, dass es der einzige Karton war, den jemand beschriftet hatte. Luisa entzifferte die Handschrift. Mai 1999. Damals war Luisa sieben Jahre alt gewesen. Sie strengte ihr Gehirn an, doch sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was in diesem Sommer passiert war. Vermutlich war sie mit James unterwegs gewesen, denn zu dieser Zeit

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