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Spiegelschwestern
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eBook252 Seiten3 Stunden

Spiegelschwestern

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Über dieses E-Book

Die 16-jährige Susanne ist plötzlich verschwunden, nachdem sie von der Schule verwiesen wurde. Verzweifelt suchen ihre Familie, Freunde und Schulkameraden nach Hinweisen zu ihrem Verbleib. Die letzte Hoffnung ruht auf Jessica, Susannes ehemals bester Freundin und zugleich eine Außenseiterin, die in der Schule als Freak bezeichnet wird. Obwohl ihre Freundschaft zerbrochen ist, könnte Jessica der Schlüssel zur Aufklärung sein. Der junge Kommissar Jonas Büchner setzt alles daran, mit Jessicas Hilfe, Licht in das Dunkel zu bringen. Doch er steht vor einer gewaltigen Herausforderung, da Jessica keinem Erwachsenen vertraut. Erst nach langem Zögern gewährt sie dem Polizisten eine Chance und offenbart ihre Geschichte, die möglicherweise den entscheidenden Hinweis auf Susannes Schicksal enthält. In dieser fesselnden Erzählung werden Themen wie Freundschaft, das Erwachsenwerden, Sehnsüchte, Träume, Selbstfindung und Selbstverlust behandelt. Eine Geschichte über das Leben, die den Leser mitreißt.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum9. Jan. 2024
ISBN9783989832190
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    Buchvorschau

    Spiegelschwestern - Sabine Houtrouw

    Autorin

    Sabine Houtrouw arbeitet als staatlich anerkannte Erzieherin in einer Kindertagesstätte.

    Geboren wurde sie 1980 im Saarland, machte dort ihre Ausbildung und zog 2001 ins Rheinland, wo sie seither mit ihrer Familie lebt und arbeitet.

    Neben den Erstleseromanen der Steinstraßendetektive, schrieb sie Vorlesegeschichten über Balduin das Stachelschwein und einen Zeitreiseroman für Kinder, der das Thema Erwachsen werden aufgreift und zeigt, wie damit in verschiedenen Epochen und Kulturen umgegangen wurde.

    Mit Spiegelschwestern erscheint ihr erster Jugendroman.

    Homepage: www.houtrouw.eu

    Prolog

    Susanne saß auf den Treppenstufen vor dem Schulgebäude. Während all die anderen Schüler in den Klassen ihrem Unterricht folgten, war sie hier draußen. Einsam, alleine, ausgestoßen – im wahrsten Sinne des Wortes, denn der Schulleiter hatte sie soeben für drei Tage von der Schule verwiesen. Dabei war es der erste Tag nach den Sommerferien. Der Grund war ihr Aussehen gewesen, hauptsächlich die Kleidung, die sie trug. Die glitzernden High Heels hatte Susanne sich soeben von den Füßen geschoben, anschließend die halterlosen Spitzenstrümpfe abgelegt. Nun war sie barfuß und fühlte sich für einen kurzen Moment geerdet. Aus einem Seitenfach ihrer Schultasche zog sie eine Spiegelscherbe hervor, die sie einige Male in ihren Händen kreisen ließ, bevor sie sich traute, einen Blick hineinzuwerfen. Ein ihr fremd gewordenes Mädchen sah sie aus großen, traurigen Augen an, die tief in ihren Höhlen lagen. Der Glanz, den diese graugrünen Augen einmal besessen hatten, war erloschen, zurückgeblieben war grau. Ihr Kajal war vom Weinen verlaufen, die Tränen hatten deutliche Spuren durch Rouge und Make-up gezogen. Auf ihren Lippen leuchtete ein knallig roter Lippenstift, der unglaublich fehl am Platz wirkte in diesem mageren Gesicht. Ihre aschblonden Haare hingen stumpf und leblos herab, sie ließen ihre Wangen noch schmaler wirken. Susanne hatte ihre Haare am Morgen leicht toupiert, um zumindest ein wenig Volumen zu erhalten – ohne Erfolg. Trotz der warmen Sommersonne fror sie, eine feine Gänsehaut zog sich über ihren ganzen Körper.

    Schlank hatte sie sein wollen, schlank, hübsch, beliebt. Susanne war 16 Jahre alt, ein normales Mädchen aus einer normalen Familie. Die Susanne, die sich in der Scherbe widerspiegelte, war ein Clown geworden, ein schlechter Scherz, eine Witzfigur! Sie war ein Spielzeug derer, die wirklich schön und beliebt waren. Dabei hatte sie nur dazugehören wollen.

    Sie neigte die Scherbe ein wenig, um ihren Oberkörper besser betrachten zu können: Kleine, flache Brüste in einem Push-up-BH, damit sie zumindest ein klein wenig zur Geltung kamen, darüber eine Spitzenbluse mit viel zu tiefem Ausschnitt. Ihre Schlüsselbeinknochen traten deutlich hervor. Am Anfang war Susanne unglaublich stolz darauf gewesen, denn es hatte bewiesen, dass ihre Bemühungen, abzunehmen, von Erfolg gekrönt waren. Ihr kam der eigene Anblick knochig, beinahe grotesk vor, jetzt, wo es zu spät war, um aus dem Teufelskreis auszubrechen.

    Bluse sowie Lippenstift hatten die gleiche Farbe und sahen billig aus. Wenn sie ehrlich zu sich wäre, würde sie es nuttig nennen. Der Kontrast zu ihrer weißen Haut verstärkte die Wirkung. Wann war sie zu dem geworden, was sie jetzt in dieser kleinen Scherbe sah? Mit hängenden Schultern saß sie da, ließ ihre Hände einen Moment sinken, um in den Himmel zu blicken. Strahlendes Blau, hier und da ein paar flauschig weiche Wolken. Wie wäre es, dort oben zu sein, weit entfernt von allen Sorgen und Ängsten, die sie schier erdrückten? Die Leichtigkeit der Weite spüren, die Stille genießen.

    Wann habe ich mich selbst verloren? Wann habe ich die Kontrolle verloren? Habe ich sie jemals gehabt?

    In ihrer Kindheit vielleicht, da war noch alles in Ordnung gewesen. Sie hatte liebevolle Eltern gehabt, ein schönes Zimmer, alles, was sie brauchte, vor allem aber: eine tolle beste Freundin. Jessica war immer für sie da gewesen, hatte ihr zugehört und ihre Geheimnisse bewahrt. Sie waren wie Schwestern gewesen. Susanne vermisste sie schrecklich in diesem Moment, obwohl Jessica nur ein paar Räume entfernt in ihrem Klassenzimmer saß. Susanne erschien es, als trennten sie nicht nur die Mauern des Schulgebäudes, sondern Welten.

    Sie waren gemeinsam eingeschult worden, hatten vom ersten bis zum letzten Tag der Grundschule nebeneinander gesessen, zusammen ihre Aufgaben gemacht und für Klassenarbeiten geübt. Den Wechsel zum Gymnasium hatten sie beide gefürchtet und doch bewältigt, auch wenn Jessica in die Englischklasse ging, im Gegensatz zu Susanne, die Französisch lernen sollte. In den Pausen und nach dem Unterricht waren sie stets zusammen gewesen. Susanne hätte sich nie im Leben vorstellen können, dass es irgendetwas gab, was ihre Freundschaft hätte zerstören können.

    Mit der Zeit hatte sich Jessica verändert, war seltsam geworden. Es war ein schleichender Prozess gewesen, innerlich wie äußerlich. Susanne erinnerte sich gut daran, wie sie Jessica von anderen Mädchen in ihrer Klasse erzählt hatte, mit denen sie sich treffen wollte, gemeinsam mit ihrer besten Freundin eine schöne Clique gründen, zusammen abhängen, Spaß haben, über Jungs quatschen. 14 Jahre alt waren sie gewesen, als Susanne fest davon überzeugt war, ihre Freundin würde die Idee super finden! Aber dem war nicht so gewesen, denn Jessica hatte sich eifersüchtig verhalten und ihr Vorwürfe gemacht. Sie hatte gefragt, ob sie Susanne nicht mehr als Freundin ausreichen würde, worum es nie gegangen war! Susanne hatte ihre beste Freundin nicht verlieren wollen, aber verhindern konnte sie es trotz aller Bemühungen nicht.

    Jessica hatte in allem Gefahren gesehen und sie beschützen wollen. Dass sie Susanne damit jegliche Luft zum Atmen nahm, wollte sie nicht verstehen. Regelmäßig hatte Susanne versucht, ihrer besten Freundin zu erklären, dass man mehrere Menschen mögen konnte, ohne dass die beste Freundin ihren besonderen Platz im Leben verlor. Jedes Mal war sie damit auf taube Ohren gestoßen und mehr als einmal war die Situation eskaliert. Am schlimmsten war der Tag gewesen, als Jessica ihren Handspiegel, ein Erbstück ihrer Großmutter, gegriffen und Susanne vorgehalten hatte. Jessica hatte sie krank genannt, was für Susanne zu viel gewesen war. Aus Wut hatte Susanne den Spiegel zur Seite geschlagen, der wenige Sekunden später zerbrochen am Boden gelegen hatte. An diesem Tag war noch viel mehr zerbrochen. Warum Susanne eine Scherbe eingesteckt hatte, bevor sie anschließend das Zimmer ihrer Freundin verließ, wusste sie nicht mehr genau.

    Was Diana betraf, hatte Jessica sie zurecht gewarnt. Diana, dieses blöde Miststück! Das coolste Mädchen in der Schule, das Susanne Hoffnungen gemacht hatte, dass aus ihr mehr werden würde als die dumme graue Maus, die sie gewesen war.

    Erneut blickte Susanne in die Scherbe in ihrer Hand. Was sie sah, war eine angemalte und ausgemergelte graue Maus in ordinären Klamotten, die man aus der Schule geworfen hatte. Mit dem Zeigefinger strich sie über die Kante der Scherbe, wobei sie sich leicht in den Finger schnitt. Sie zuckte kurz zusammen und beobachtete dann, wie sich langsam ein großer Tropfen leuchtendroten Blutes bildete. Rot wie ihre Lippen und das Oberteil.

    Traurig blickte sie an sich herab zu ihren Beinen. Der kurze Rock aus einfachem Lederimitat war ein Stück nach oben gerutscht und offenbarte, was sich darunter befand: Lauter feine, weiße Linien, wie Narben in Susannes Seele, die auf ihrer Haut sichtbar wurden. Zärtlich ließ Susanne die Scherbe über ihre Oberschenkel gleiten, zeichnete mit ihr die Linien nach. Der Wunsch, sich ins eigene Fleisch zu schneiden, um sich zu spüren, war groß.

    Nein, nicht jetzt und nicht hier, es ist der falsche Ort.

    Doch wo sollte sie hin? Nach Hause konnte sie nicht. Sie hätte ihrer Mutter erklären müssen, wie sie es wagen konnte, in einem solchen Outfit in die Schule zu gehen. Ihre Mutter hätte nie im Leben verstanden, dass Susanne es als Wiedergutmachung getan hatte, damit Diana sie endlich in ihrer Clique akzeptierte. Susanne hatte geglaubt, dass sie es schaffen konnte, sich Dianas Respekt zu verdienen. Susanne hatte es sich von Herzen gewünscht, alles getan und riskiert, was von ihr gefordert worden war. Jetzt glaubte sie nicht mehr daran.

    Wie ihr Vater reagieren würde, wollte Susanne sich nicht ausmalen. Er war mit dem Thema Tochter in Pubertät vom ersten Tag an überfordert gewesen, weshalb von seiner Seite ebenfalls kein Verständnis oder Hilfe zu erwarten war.

    Jessica, die bräuchte Susanne jetzt. Ihre Jessica aus der Kindheit, die zu ihr stehen und sie trösten würde. Ihre beste Freundin, Herzensschwester und Seelenverwandte, die genau in diesem Augenblick nah und unerreichbar zugleich war.

    Traurig starrte Susanne auf die unzähligen Narben auf ihrer Haut. Die Allererste war an ihrem 15. Geburtstag entstanden, ihr erster Geburtstag ohne Jessica. Sie hatte versucht zu lächeln, sich nichts anmerken zu lassen, aber in der Nacht war es ihr vorgekommen, als müsste sie den Schmerz, der in ihrer Seele brannte, körperlich spüren. Da hatte sie zum ersten Mal zu der Scherbe gegriffen. Viele weitere Schnitte folgten, die mit der Zeit zu Narben verblassten. Das Spiegelstück wurde zu Susannes treuem Begleiter, es ließ sie sich selbst spüren.

    Wie gerne würde sie in diesem Augenblick den Druck auf ihr Bein erhöhen.

    Nein!

    Entschlossen, aber mit zittrigen Händen steckte Susanne die Scherbe in ihre Tasche und erhob sich schwerfällig.

    Sie warf einen letzten Blick zum Schulgebäude, zu den Fenstern der Klasse, in der Jessica saß.

    Ob sie gerade an mich denkt?

    Susanne atmete tief durch, während sie für ein paar Sekunden ihre Augen schloss. Sie versuchte, die Verbindung zu spüren, die viele Jahre bestanden hatte, doch da war nichts mehr. Dafür fiel ihr ein, wohin sie gehen könnte, wohin sie gehen würde, um zur Ruhe zu kommen.

    Susanne beugte sich langsam nach vorne, griff die Schuhe und Strümpfe, die auf dem Boden lagen, ging zum nächsten Mülleimer, in den sie die Sachen hineinfallen ließ. Es kam ihr vor, als würde sie mehr als nur die Gegenstände dort entsorgen. Barfuß verließ Susanne das Schulgelände. Die Stiche vom Kies, die sich in ihre Fußsohlen drückten, ließen sie lächeln.

    Kapitel 1

    Gegenwart

    »Jessica, beeil dich bitte! Wir müssen in zehn Minuten los, sonst kommen wir zu spät.«

    »Ja, Mama, ich bin gleich soweit!« Manchmal treibt mich die Frau in den Wahnsinn! Und wenn das passiert, klingt meine Stimme ätzend schrill wie soeben. Keine Ahnung, warum meiner Mutter das gefällt oder wo sie darin einen glockenhellen Klang hören möchte, wie sie es einmal nannte. Ich mag tiefe Stimmen viel lieber, sie wirken auf mich geheimnisvoll. Wenn ich mir Mühe gebe, klinge ich ein bisschen wie die Sängerin Cher. Mit ihrer Musik kann ich nicht viel anfangen, ihre Stimme aber finde ich toll. Sobald ich unter Stress gerate, kommt jedoch bedauerlicherweise meine eigene Stimme wieder durch. Das ist die Crux an der Sache: Gestresst bin ich bei nahezu jedem Gespräch mit meiner Mutter, weshalb ich solche Situationen vermeide, wo es geht.

    Dummerweise ist das bei Weitem nicht der einzige Punkt, in dem wir unterschiedlicher Meinung sind. Meine Klamotten sind ein Thema, über das sie sich endlos aufregen kann. Wie hatte sie es ausgedrückt? Ach ja: »Jessica, kannst du wenigstens zu diesem Termin etwas anziehen, was dem Umstand angemessen ist?« Was für eine Formulierung! Passender wäre die Frage: Was ist angemessen für eine Eilvorladung bei der Polizei?

    Meine einzige Freundin wird vermisst, alleine bei dem Gedanken könnte ich heulen. Schwarze Klamotten sind da durchaus angebracht, finde ich. Was anderes gibt mein Kleiderschrank eh nicht her. Ich liebe Rüschen und feine Spitze, und sollte ich eines Tages heiraten, wird es in einem schwarzen Tüllkleid mit blutroten Akzenten sein, wie das, was ich in der letzten Orkus!-Ausgabe sah. Für heute sind es der kurze Faltenrock sowie das schlichte Top geworden, was meine Mutter hoffentlich zufriedenstellen wird.

    Ein Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich den Rock öfter tragen sollte, denn meine Beine wirken darin endlos lang, wodurch man weniger auf den rundlichen Bauch achtet. Nobody is perfect! Wenn das stimmt, warum werden wir in allen Medien mit Idealen bombardiert, die es zu erreichen gilt? Ich will ja gar nicht perfekt sein. Wenn ich den Bauch ordentlich einziehe, habe ich weibliche Kurven, die mir gut gefallen. Sobald ich aber die Spannung löse, ist die kleine Wampe höhnisch lachend zurück. Kaschieren lautet das Zauberwort, den Fokus umlenken auf die Körperstellen, mit denen ich im Reinen bin: mit meinen Beinen oder meinem Gesicht. Mit meinem Make-up bin ich heute allerdings überhaupt nicht zufrieden. Prima, eine Sache, in der Mama und ich uns einig sein werden. Ich liebe helle Haut, die wie feines Porzellan wirkt, doch das, was ich im Spiegel sehe, erinnert mich eher an fades Papier, woran auch der zarte Hauch von Rouge nichts ändert.

    Ich setze mich an meinen Schminktisch und betrachte mich einige Augenblicke kritisch im Spiegel. Für einen Moment stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn Susanne neben mir säße. Sie würde ihren Arm um mich legen und mir sagen, dass alles gut ist. Allerdings ist sie nicht hier, und es ist überhaupt nichts gut. Nur meine eigenen traurigen Augen sind übergroß im Spiegel zu sehen, umrahmt von schwarzem Kajal. Es gibt alte Fotos, auf denen man einen leicht goldenen Schimmer in meiner grünen Iris erkennen kann. Heute leuchtet nichts, und ich würde mich am liebsten heulend unter der Decke verkriechen. Ich will nicht zu diesem Scheißtermin! Um den Moment des Aufbruchs weiter hinauszuzögern, studiere ich jeden Bereich meines Gesichts. Der kleine Stecker in der Nase wirkt matt. Es erinnert mich daran, dass ich mir endlich einen neuen besorgen sollte. Der Ring in der Unterlippe gefällt mir unglaublich gut, wenn er sich wie heute silbern auf dem bordeauxfarbenen Lippenstift absetzt. Gute Güte, hat das Ärger gegeben, als ich das Piercing habe stechen lassen! Meine Mutter weiß bis heute nicht, in welchem Laden das war. Sie hätte dem Typ die Hölle heißgemacht, wie der sich mit gefälschten Unterschriften von einem Teenager austricksen lassen konnte, von der Körperverletzung abgesehen. Dass sie mir im Kindergartenalter Ohrlöcher hat schießen lassen, weil das süß aussah, das war in Ordnung. Verstehe jemand die Logik der Erwachsenen!

    Meine Augenbrauen sind perfekt gezupft, die Frisur sitzt bis auf eine kleine Strähne, die ich mit flinken Fingern feststecke. Wie gerne würde ich mir die Haare färben, aber auch da macht mir meine Mutter einen Strich durch die Rechnung. Braun ist ihrer Meinung nach dunkel genug. Sollte ich es wagen, mit schwarzen Haaren aufzutauchen, würde sie mir auf Lebzeiten das Taschengeld streichen. Ich traue es ihr zu und damit ist das Thema für beide Seiten durch.

    »Fräulein, ich warte!«, tönt es aus dem Erdgeschoss. Oh, wie ich es hasse, wenn sie mich so nennt! Ich merke, wie sich meine Hände zu Fäusten ballen, während ich mir auf die Zunge beiße, um jetzt nicht zu antworten. Stattdessen schnappe ich mir einen schwarzen Stiefel, anschließend suche ich den zweiten. Unter dem Bett werde ich fündig und schaffe es, ihn herauszufischen, ohne meine Frisur zu ruinieren. Beim Anziehen streiche ich sanft über den Stoff. Die Stiefel habe ich vor circa zwei Jahren gemeinsam mit Susanne gekauft. Sie haben die besten Zeiten definitiv hinter sich, was sie mit der Freundschaft gemein haben. Ich will jetzt nicht heulen und versuche, die drohenden Tränen wegzublinzeln. Tief durchatmen!

    Meine Tasche hängt griffbereit über dem Stuhl, eilig stopfe ich alles hinein, was ich benötige: Handy, die blöde Vorladung, meinen Haustürschlüssel. Ein letzter Blick schweift durch mein Zimmer mit der Überlegung, ob ich was vergessen habe. Mir fällt auf die Schnelle nichts ein, daher eile ich die Treppe hinunter, wo meine Mutter genervt auf mich wartet.

    Na, dann mal los.

    Kapitel 2

    Gegenwart

    An der Haustür wartet meine Mutter in ihrer klassischen Wir-werden-mal-wieder-zu-spät-kommen-Haltung. Ihre Arme sind vor der Brust verschränkt, wodurch der Blazer ihres rosafarbenen Hosenanzugs deutlich spannt. Mit ihrem Fuß tippt sie fest auf den Boden, die hellen Pumps klappern im Takt. Stepptanz wäre was für sie gewesen, als sie früher schlanker war. Helle, freundliche Frühlingsfarben, kombiniert im Businesslook, sind ihrer Meinung nach also passend, wenn man zur Polizei muss, weil ein junges Mädchen vermisst wird. Wann hat sie sich das letzte Mal dermaßen in Schale geworfen? Die Handtasche, die von ihrer Schulter hängt, habe ich noch nie gesehen. Ich besitze genau drei Taschen, von denen ich nur eine benutze, weil ich keine Lust habe, ständig meinen Kram hin und her zu räumen. Meine Mutter hat eher 30 Taschen in allen möglichen Farben, Formen und Größen. Sie gönnt sich nicht viel, aber um Taschen kommt sie nicht herum. Was soll´s?

    Am Handgelenk meiner Mutter entdecke ich ein feines, goldenes Armband, was mir einen Stich versetzt. Der Name Martina ist darauf zu lesen. Dieses Armband hat sie vor vier Jahren von mir zu Weihnachten geschenkt bekommen und am Anfang ständig getragen. Irgendwann haben die Probleme zwischen uns angefangen, weil ich mich nicht so entwickelt habe, wie sie es sich wünschte. Da hat sie es abgenommen und in ihrer Schmuckschatulle verstaut. Warum trägt sie es heute? Ich würde sie gerne fragen, aber ein Blick in ihr Gesicht genügt, mich davon zu überzeugen, es besser zu lassen. Ihre fliederfarben geschminkten Augen fixieren mich verkniffen, ihre ohnehin schmalen Lippen sind so fest zusammengepresst, dass ich sie fast nicht mehr sehe. Auch ihre blonden, weichen Locken kommen nicht gegen die Härte in ihrem Gesicht an.

    Schwach erinnere ich mich an Zeiten, in denen meine Mutter ständig gelacht hat, oder wie sie in weiten Hippieklamotten mit einer Blumenspange im Haar durch den Garten tanzte. Damals war mein Vater noch bei uns gewesen. Nach der Trennung war es Zeit, erwachsen zu werden, hat sie mir erklärt, wobei mir nicht klar war, ob sie mich oder sich damit meinte. Wenn ich mir meine erwachsene Mutter ansehe, weiß ich, dass ich im Grunde nicht erwachsen werden will. Das Letzte, was ich möchte, ist, zu sein wie sie. An der Garderobe im Eingangsbereich ist ein großer Spiegel, in dem ich uns beide sehen kann. Wir sind fast gleich groß, denn ich überrage sie höchstens um zwei oder drei Zentimeter. Was den Rest betrifft, könnten wir kaum unterschiedlicher sein. Wie oft höre ich von Verwandten und Bekannten Sätze wie: »Du kommst nach deinem Vater! Du hast die Augen deines Vaters, du gehst oder lachst wie dein Vater.« Keine Ahnung, ob das der Wahrheit entspricht. Der Kerl ist vor zehn Jahren abgehauen, daher nervt es mich, solche Sprüche zu hören. Aber es scheint etwas dran zu sein, denn ich spüre die Reaktionen meiner Mutter auf diese Kommentare. Sie hasst mich dafür, auch wenn sie es vielleicht gar nicht will. Mich kotzen die Sprüche auch an, denn die Menschen, die sie bringen, scheinen sich deutlich besser an meinen Vater erinnern zu können als ich selbst. Ich habe es mir nicht aussuchen können, auszusehen wie er, und ich kann es nicht ändern. Im Spiegel sehe ich keinerlei Ähnlichkeit mit meiner Mutter, aber auch keine zu der geisterhaften Erinnerung an meinen Vater. Ich sehe nur mich und meine genervte, strenge Mutter.

    »Jessica? Bist du jetzt endlich fertig mit deinen Tagträumen?« Oh! Mir ist gar nicht aufgefallen, wie

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