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Unterm Maulbeerbaum: Eine Lebensgeschichte zwischen den Geschlechtern
Unterm Maulbeerbaum: Eine Lebensgeschichte zwischen den Geschlechtern
Unterm Maulbeerbaum: Eine Lebensgeschichte zwischen den Geschlechtern
eBook212 Seiten3 Stunden

Unterm Maulbeerbaum: Eine Lebensgeschichte zwischen den Geschlechtern

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Über dieses E-Book

Meine Geschichte beginnt nach dem zweiten Weltkrieg. Es herrscht Armut und Hunger. Vater war aus der Gefangenschaft entlassen und musste sich Arbeit suchen. Meine Geburt verlief normal, doch etwas war nicht in Ordnung.
Mit elf Jahren unternahm ich einen Suizidversuch, konnte den Leidensdruck und mein schwieriges Elternhaus nicht mehr ertragen. Ich durchlief die Schulzeit mit Schwierigkeiten, denn mein Problem lenkte mich vom normalen Leben ab. Mit 14 Jahren bereitete ich meine Flucht aus dem Elternhaus vor. Ich war 15 Jahre jung, als ich in eine Klosterschule flüchtete. Mein Leidensdruck nahm stetig zu, ich erkrankte psychosomatisch. Dennoch erreichte ich die mittlere Reife. Während meiner Berufsausbildung trat ich aus dem Kloster aus und versuchte, mein Leben zu meistern. Mit 24 Jahren heiratete ich. Es war ein verzweifelter Versuch “normal” zu werden. Die Ehe brachte mir keine Erleichterung. Um vielleicht doch noch Erfolg zu haben, wünschte ich mir ein Kind. Ich gebar einen Sohn. Nun war meine Situation aussichtslos und ich entschloss mich, mit meinem Kind aus dem Leben zu scheiden, doch es kam anders.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum25. Aug. 2014
ISBN9783735730510
Unterm Maulbeerbaum: Eine Lebensgeschichte zwischen den Geschlechtern
Autor

Stephan Küttner

Stephan Küttner, Jahrgang 1947. Nach Abschluss der Mittleren Reife absolvierte er eine Ausbildung zum exam. Krankenpfleger. Seit frühester Kindheit schreibt er Gedichte. Zur Verarbeitung der eigenen Problematik zur Geschlechtsidentität erscheint dieses Buch. Es soll auch Anderen eine Hilfe sein.

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    Buchvorschau

    Unterm Maulbeerbaum - Stephan Küttner

    Kapitel

    1. Kapitel

    Als ich sechs Jahre alt war, begriff ich, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte.

    1947 war der Hunger ein guter Bekannter. Auch meine Familie litt. Meine Mutter bettelte bei den umliegenden Bauern für sich und ihre beiden Kinder. Sie war mit mir hochschwanger. Nachts schlichen Oma und Mutter heimlich auf die Felder, um Kartoffeln zu stehlen.

    Zum Ende des Krieges besetzten amerikanische Soldaten das Haus. Die Familie musste bei Bekannten Unterschlupf finden. Erst nach Monaten, als die Besetzer abgezogen waren, kehrten die Großeltern und Mutter mit ihren beiden Kindern in ihr Haus zurück. Im Wohnzimmer lagen alle Stühle zerschlagen auf dem Boden. Auf dem Tisch hatten die Soldaten ihre Zigaretten ausgedrückt. Überall klebten ausgespuckte Kaugummis. In der Küche stapelte sich schmutziges und zerbrochenes Geschirr. Als Mutter die Toilette sah, musste sie sich beinahe übergeben.

    Der Garten war gänzlich verwüstet. Alles was Oma und Opa gesät und gepflanzt hatten, war vernichtet. Die Beiden schufteten, um die gewohnte Sauberkeit und Ordnung wieder herzustellen. Die Beete mussten neu angelegt werden. Es würde dauern, bis Gemüse und Kartoffeln aus dem Garten den Speiseplan wieder ergänzen konnten.

    Vater war erst 1946 aus der russischen Gefangenschaft zurückgekommen. Er hatte eine kleine Narbe auf der Stirn und wackelte leicht mit dem Kopf, wenn er einen Gegenstand genau fixieren wollte. Das rührte von einem Schlag mit einem Gewehrkolben auf den Kopf, durch den er erblindet war. Im Lazarett wurde seine Sehkraft wieder hergestellt. Vaters Augen lagen tief in den Höhlen, sein alter Anzug schlackerte um seinen abgemagerten Körper. Er hätte Erholung nötig gehabt. Doch dazu war keine Zeit, denn die Not war groß. Durch den Krieg war es ihm, wie so vielen, nicht möglich gewesen, einen Beruf zu erlernen. So nahm er mit siebenundzwanzig Jahren in unserer kleinen Stadt die Arbeit als Hilfspolizist an.

    Nach einem strengen und schneereichen Winter folgte ein heißer Sommer. Mutters Schwangerschaft war nun weit fortgeschritten. Ihr Bauch war so stark angewachsen, dass alle glaubten, sie würde Zwillinge bekommen. Aber ich war alleine und sollte ein kräftiges Kind werden. Ich verdrängte ihre Organe, sodass ihr beim Gehen allmählich das Atmen schwer fiel. Nachts konnte sie nur im Sitzen etwas Schlaf finden. Wegen der Hitze hielt sie sich fast den ganzen Tag in der Waschküche auf. Dort war es am kühlsten. Oma brachte ihr das Essen nach unten und kümmerte sich um den siebenjährigen Adolf und die dreijährige Hedwig.

    Ich wurde im heißesten Monat des Jahres 1947 geboren. Meinen Eltern war es egal, ob ich ein Mädchen oder ein Junge war. Hauptsache, es war alles vorhanden und das Kind gesund. Es war eine Hausgeburt. Die Hebamme wickelte mich in ein Tuch und legte mich auf Vaters Bett. Dann gratulierte sie meiner Mutter zu einem gesunden Jungen. Zuerst versorgte sie meine Mutter. Danach wurde ich gewogen und gemessen. Im Anschluss durfte ich endlich in einer kleinen Wanne mit angenehm warmem Wasser baden. Erst jetzt bemerkte die Hebamme mit Bestürzung ihren Irrtum.

    Gesund war ich. Alles vorhanden? Nein! Es fehlte etwas.

    Man nannte mich „Heidi". Dieser Name hatte für mich die ersten vier Jahre keine Bedeutung. Ich wusste nur, dass ich gemeint war, wenn er ausgesprochen wurde. Doch mit dem ersten Eindruck der Hebamme begann für mich ein Leidensweg, der mich mein ganzes Leben lang begleiten sollte.

    Meine Entwicklung verlief normal. Tagsüber lag ich in meinem Kinderwagen, der in der Küche stand. Ein befreundeter Arzt besuchte uns häufig und saß gewöhnlich an meinem Wagen. Wir hatten Februar und es war bitter kalt.

    Ich war knapp sechs Monate alt, als mich eine fiebrige Erkältung heimsuchte. Nach einigen Tagen verweigerte ich das Trinken. Bald schlief ich nur noch; Tag und Nacht. Mutter machte sich Sorgen. Der Arzt, der mich wie gewohnt betrachtete, zerstreute ihre Befürchtungen. Er meinte, sie solle mich nur in Ruhe lassen, es sei wichtig, dass ich mich gesund schlafe.

    Als Mutter mich gar nicht mehr wecken konnte, brachten meine Eltern mich ins Krankenhaus. Nach kurzer Untersuchung schaute der Arzt bedauernd. Eine doppelseitige Lungenentzündung wurde diagnostiziert. Die Ärzte stellten fest, dass ich nicht schlief, sondern das Bewusstsein verloren hatte. Sie legten mich unter ein Sauerstoffzelt und machten meinen Eltern keine Hoffnung mehr. Durch die besänftigenden Äußerungen des befreundeten Arztes hatten sie zu lange mit der Behandlung gewartet.

    Wider Erwarten überlebte ich, denn ich war ein kräftiges Kind. Bei meiner Geburt wog ich bereits 4,5 kg. Der Freund der Familie ließ sich nicht mehr blicken.

    In den ersten drei Jahren meines Lebens war ich ein glücklicher und fröhlicher Wildfang. Ich liebte mein altes kleines Fahrrad, das ich von einem Cousin geerbt hatte, den Fußball, die Bäume zum Klettern und meine Oma.

    Oma war eine kleine, zierliche und sehr zarte Frau. Sie hatte neun Kinder geboren, von denen eines tot zur Welt kam. Meine Mutter war ihr jüngstes Kind. Oma versorgte im Erdgeschoss ihres Hauses ihren Mann und den Haushalt. Sie schaffte Hühner, Puten, Hasen und für mich drei Ziegen und einen Bock an, weil ich keine Kuhmilch vertrug.

    Alle Tiere lebten im Garten. Opa hatte ein großes Gehege für die Hühner und Puten eingezäunt. Die Ziegen bewohnten einen Stall, der auf der Rückseite des Hauses unter dem Wintergarten eingebaut war. Die Hasen waren in geräumigen Ställen unter einem Apfelbaum untergebracht. Den Garten bewirtschaftete Oma zusammen mit Opa und so wurden wir im darauf folgenden Jahr mit Obst und Gemüse, frischen Eiern, Fleisch und Ziegenmilch versorgt. Ohne unsere Großeltern wären wir verhungert.

    Trotzdem hatten wir Kinder Mangelerscheinungen. Hedwig kratzte mit ihren Fingernägeln den Kalk von den Kellerwänden und aß ihn auf. Ich stibitzte die getrockneten Brotkanten aus Omas Brotfach. Die waren zum Nagen für unsere Stallhasen bestimmt. Sie waren so hart und scharfkantig, dass ich mir jedes Mal das Zahnfleisch damit zerschnitt. Trotzdem konnte ich es nicht sein lassen.

    Das Haus, in dem wir wohnten, war eine Villa und gehörte Oma. Sie hatte in einer Lotterie 10 000 DM gewonnen und davon dieses Haus mit dem großen Garten angezahlt.

    Meine Eltern, meine beiden älteren Geschwister und ich wohnten im ersten Stock. Nach Norden hatten wir ein großes Waldgebiet vor Augen, an dessen Rand sich der Friedhof schmiegte. Hinter unserem Haus lagen die Spargelfelder meines Onkels, der mit seiner Familie neben uns in der Villa seiner Schwiegereltern wohnte. Gegenüber unserer Haustür nach Westen dehnten sich weite Kornfelder aus. Zum Süden hin standen noch zwei weitere Villen.

    Vor dem Haus verlief eine unbefestigte Straße, die auf beiden Seiten von Kirschbäumen eingesäumt war. In der Mitte trafen sich ihre Äste. Zur Blütezeit war die Straße von oben bis unten mit einem Bogen voller zartrosa Blüten überspannt. Deshalb wurde dieser Weg auch Kirschen-Allee genannt. Ich konnte mich nicht daran satt sehen. Wenn die Kirschen reif waren, wurden die Bäume versteigert. Waren alle Kirschen gepflückt, gehörten die Bäume wieder der Stadt bis zur Ernte im darauf folgenden Jahr. Am Waldrand endete die Straße und mündete in einen Waldweg, der bis zur nächsten Stadt führte. Ich liebte das Rauschen der dichten Baumkronen im Wind, die mir abends zuflüsterten: Schlafe ein, schlafe ein. Und morgens strichen die Äste des Mirabellenbaumes vorm Haus an den Fensterscheiben entlang, um mich sanft wieder zu wecken.

    Zusammen mit meiner Schwester Hedwig bewohnte ich ein Zimmer. Unser Bruder Adolf hatte einen kleinen Raum auf dem Dachboden, der für ihn ausgebaut worden war. Mädchenzimmer, Wohnstube, Elternschlafzimmer und Wohnküche mit angrenzender Speisekammer waren in einem Kreis angeordnet. Alle Zimmertüren führten zur Mitte in die Diele. Die Toilette befand sich im Zwischenstock des Treppenhauses.

    Das Familienleben spielte sich ausschließlich in der Küche ab, die sehr geräumig und immer warm war. Vor dem Fenster stand ein großer Birnbaum, der seine Äste weit über die Gemüsebeete zu seinen Füßen ausstreckte. Das Wohnzimmer wurde nur sonntags und an Feiertagen genutzt. Da auch nur an diesen Tagen der Kachelofen beheizt wurde, blieb der Raum trotz Feuer im Ofen immer kalt und ungemütlich. Deshalb fühlte ich mich im Wohnzimmer nie wohl. Ein Bad gab es zu dieser Zeit noch nicht im Haus.

    Wenn Badetag war, gingen unsere Eltern und Großeltern in die nächste Ortschaft ins Badehaus. Für uns Kinder wurde samstags eine Zinkwanne mitten in die Küche gestellt. Das Badewasser erwärmte Mutter auf dem großen Kohleherd, der mit Holz, Tannenzapfen und Kohlen gefüttert wurde. Dafür gab er seine Wärme, manchmal so sehr, dass Mutter meinte, der Herd würde wieder spucken. Dadurch fingen die Ringe der Herdplatte an zu glühen. Schnell stellte Mutter einen Kessel mit Wasser darauf, um die Hitze nicht zu vergeuden. Nacheinander wurden wir dann in die Wanne gesetzt und abgeseift. Einen Wasserwechsel dazwischen gab es nicht, nur etwas heißes Wasser wurde dazu gegossen, damit der Letzte nicht in einer kalten Brühe saß. Anschließend wurde die Wanne mit einem Eimer ausgeschöpft. Damit unsere Haare am nächsten Tag noch glatt waren, setzte Mutter uns über Nacht eine Wollmütze auf den nassen Kopf, denn einen Föhn konnten wir uns nicht leisten.

    Opa war ein großer stattlicher Mann mit einem silbernen Haarkranz. Seine Geduld und Sanftheit beeindruckten mich. Opa redete nicht viel. Er hatte sein Leben lang gearbeitet und gut für seine große Familie gesorgt. Jetzt waren ihm nur noch gutes Essen und das tägliche Glas Rotwein wichtig. Direkt am Wohnzimmerfenster stand sein mächtiger Sessel mit herausziehbarem Fußbänkchen. Dort saß er gewöhnlich, schaute aus dem Fenster oder beobachtete das Treiben seiner Familie um ihn herum. Dabei schlief er regelmäßig ein und jedes Mal, wenn er eingenickt war, fiel ihm die obere Zahnprothese herunter und er schnarchte leise vor sich hin. Ich befand mich schon in Lauerstellung, denn es bereitete mir riesigen Spaß, ihn dann zu rütteln und zu rufen, dass er ja schliefe! Erschrocken riss er die Augen auf und behauptete, er sei hellwach. Dabei sah er mich unter weißen buschigen Augenbrauen mit seinen blauen Augen und einem verschmitzten Lächeln um die Mundwinkel an. Nach dem Mittagessen ging er mit auf dem Rücken verschränkten Armen eine halbe Stunde um den großen Esstisch herum, der mitten im Zimmer stand. Er erklärte mir, das sei für seine Verdauung wichtig.

    Dieser Tisch hatte an den Beinen eine Verstrebung, die sich kreuzte. Allzu gerne spielte ich darunter. Oft lag ich aber auch nur mucksmäuschenstill und hörte dem Gespräch der Erwachsenen zu. Bei schlechtem Wetter saßen Mutter und Oma nachmittags gewöhnlich am Fenster und strickten. Die Ungestörtheit unter dem Tisch und die leisen Gespräche der Erwachsenen riefen in mir immer das Gefühl der Geborgenheit und des Friedens hervor. Ich begann, mich wohlzufühlen, wurde ruhig und schlief ein. Und meine kleine Welt war in Ordnung.

    Wenn Adolf mich als Tormann für sein Fußballspiel holte, rief das regelmäßig Oma auf den Plan. Jedes Mal, wenn ich den Ball nicht halten konnte, prallte er mit voller Wucht gegen das Hoftor. Die Latten flogen mit einem hässlichen Krachen heraus und blieben nach einem wilden Trommelwirbel auf dem asphaltierten Hofplatz liegen. Der Zorn beflügelte Oma. In Windeseile stürzte sie aus dem Haus und nahm uns den Ball weg. Sie versteckte ihn in ihrem antiken Schuhschränkchen, das bei ihr in der Diele stand. Doch ihr Ärger legte sich schnell. Sie achtete immer darauf, dass wir nicht zu lange auf unseren Ball verzichten mussten. Wenn ich ihn aus dem Versteck holte, meinte ich oft ein Lächeln im Gesicht meiner Großmutter zu spüren. Ich wusste, dass sie mich hinter der Tür beobachtete. Schnell lief ich dann triumphierend mit dem Ball nach draußen und ließ Oma glauben, dass ich sie nicht bemerkt hätte. Bis zum nächsten Lattenschuss waren wir dann wieder ungestört. Oh wie liebte ich meine Oma, denn außer dem Hoftor, das jedes Mal nach unserem Spiel erhebliche Zahnlücken aufwies, gab es nichts, was sie aus der Ruhe bringen konnte. Nach unserem Spiel machte sich Opa wortlos und wie selbstverständlich daran, das Hoftor wieder zu reparieren. Für ihn war das eine unabänderliche Tatsache und eben seine Aufgabe.

    Bei schönem Wetter kletterte ich am liebsten auf unsere Obstbäume. Stundenlang saß ich in den Baumkronen, beobachtete das Treiben unter mir und träumte. Wenn ich zum Essen ins Haus kommen sollte, schauten alle nach oben, denn sie wussten, dass ich gewöhnlich im Geäst zu finden war. Schon als kleines Kind liebte ich die Natur über alles. Mutter wusste, dass sie mich am härtesten strafen konnte, wenn sie mich einen ganzen Tag in der Küche einsperrte. Glücklicherweise kam das nicht allzu häufig vor. Doch wenn sie mich dort einschloss, schrie und tobte ich stundenlang am Fenster, bis ich entkräftet auf dem Fußboden einschlief.

    An Mutter hing ich sehr, obwohl sie uns nie auf den Schoß oder in den Arm nahm. Niemals liebkoste Mutter uns. Doch war sie stets bemüht, uns Kindern Feste und Feiertage so zu gestalten, dass sie uns in angenehmer Erinnerung blieben. Vielleicht war das ihre Art, uns ihre Zuneigung zu zeigen. Doch wehe, wenn ich einmal nicht parierte. Dann schlug sie mit einem Kochlöffel oder Kleiderbügel so lange auf meinen Rücken ein, bis ich zu Boden ging. Meinem Bruder erging es ebenso. Noch schlimmer war es, wenn sie uns vorhielt, dass sie nie Kinder haben wollte. Wirklich geliebt hat sie uns wohl nicht.

    Nach so einer Prügelattacke blieben eines Tages meine Rückenschmerzen bestehen. Egal, welche Stellung ich einnahm, ich hatte starke Schmerzen. Erst viel später wurde auf dem Röntgenbild die Ursache entdeckt. Mutter hatte mir mit dem Kochlöffel von zwei Brustwirbeln die Dornfortsätze abgeschlagen.

    Auch Adolf wurde von ihr auf diese Weise attackiert. Einmal schlug sie ihn mit dem Kochlöffel und zielte auf seinen Kopf. Er riss seine Arme hoch, um seinen Schädel zu schützen. Dabei traf Mutter seine Uhr, deren dickes Glas zersplitterte. Ohne diesen Schutz hätte er möglicherweise eine Schädelfraktur erlitten. Wenn Mutter zuschlug, verfiel sie jedes Mal in Raserei; konnte sich kaum mehr bremsen.

    Doch Mutter hatte auch eine Begabung. Sie verstand es, Feste besonders schön und spannend zu gestalten. Gerne denke ich an die Ostertage, meine Geburtstagsfeiern und die Weihnachtsfeste zurück. Zwei Tage vor Ostersonntag wurden wir in den Wald geschickt. Auf einer Lichtung wuchs herrlich weiches Moos. Das brachten wir in unseren Körbchen nach Hause. Mit Feuereifer suchte sich jeder im Garten einen geeigneten Platz und baute mit dem Moos sein Nest für den Osterhasen. Am Sonntag, gleich nach dem Frühstück, durften wir nach unseren Nestern sehen. Sie waren immer gut gefüllt. Aber nicht nur das, der Osterhase hatte zudem überall im Garten bunte Ostereier und Schokolade zurück gelassen. Die Suche danach machte riesigen Spaß, denn unser Garten barg viele Möglichkeiten, etwas zu verstecken. Manchmal fanden wir im Sommer noch das eine oder andere kleine Schokoladenei.

    Mein Geburtstag im Hochsommer wurde generell im Garten gefeiert. Mutter und Oma bauten eine lange Tafel auf. Mein Platz war mit gelben Blumen aus dem Garten geschmückt, denn gelb ist eine meiner Lieblingsfarben. An diesem Tag war ich die Hauptperson und das kostete ich bis zur letzten Minute aus. Es wurden Kinder eingeladen, die ich zum größten Teil gar nicht kannte, denn ich durfte ja nie mit anderen Kindern spielen. Erst viel später erfuhr ich, dass es Kinder von Vaters Arbeitskollegen waren.

    Einmal hatte Mutter zu unserer Überraschung eine Eismaschine ausgeliehen. Sie stand in der Waschküche und Mutter stellte für alle Kinder Eis in der Tüte her. Zu meiner Kinderzeit waren die Sommer meistens heiß und ich durfte nur mit einer kurzen Hose bekleidet den ganzen Tag draußen spielen, auch an meinem Geburtstag. So fühlte ich mich wohl und es war wunderschön.

    Im Herbst besuchten uns zuweilen Onkel Franz und Tante Gerda. Sie waren nicht mit uns verwandt, wir nannten sie nur Onkel und Tante. Onkel Franz war ein Kriegskamerad von Vater. Im Herbst führten unsere Spaziergänge immer in den Wald. Wir Kinder wurden aufgefordert, nach Pilzen Ausschau halten. Für jeden gefundenen Steinpilz schenkte Onkel Franz uns fünfzig Pfennige. Wir sollten unseren Spaß haben. Sobald die Beiden abgefahren waren, nahm Vater uns das Geld ab und steckte es in sein Portemonnaie. Auch das Geld, das wir zu Festlichkeiten von Verwandten geschenkt bekamen, mussten wir immer an Vater abgeben. Wir haben nie etwas davon abbekommen.

    Onkel Franz und Tante Gerda erlebten bei jedem Besuch mit, wie Vater mit uns umging.

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