Essen, dir bleib ich treu: Ein autobiographischer Roman
Von Gisela Tobaben
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Über dieses E-Book
Ein packendes Kriegsdrama, erzählt aus der ungefilterten Perspektive eines jungen Mädchens zwischen Kindheit und Pubertät – persönlich, ergreifend und absolut mitreißend!
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Essen, dir bleib ich treu - Gisela Tobaben
Gisela Tobaben
Essen, dir bleib ich treu
Ein autobiographischer Roman
AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG
FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK
Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit.
Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.
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Lektorat: Alexandra Eryiğit-Klos
ISBN 978-3-8372-2377-4
Dir, Essen, bleib’ ich treu – auch in der Ferne
An der Ruhr im deutschen Westen
Ja, bei uns am Niederrhein
Da gefällt es mir am besten
Immer möchte dort ich sein
Dir, Essen, bleib’ ich treu
Auch in der Ferne
Du Stadt der Kohle und des Stahls
Bei Dir war ich ach so gerne
Sei gegrüßt viel tausend Mal
Mag der Tomy Bomben werfen
Unser Weg führt doch ans Licht
Essen wird die Waffen schärfen
Essen wankt, doch fällt es nicht
Dir, Essen, bleib’ ich treu …
Fern der Heimat, in einem Kinderlandverschickungslager in der Tschechoslowakei, haben wir dieses Lied gesungen. Wir, die Kinder, die Adolf Hitler vor den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg schützen wollte. Oft packte uns das Heimweh und die Tränen flossen. Wonach konnte ich noch Heimweh haben? Für wen flossen meine Tränen? Ich hatte Heimweh nach meinem Zuhause, welches man mir zerstört hat. Es waren für mich nur noch Erinnerungen. Erinnerungen an Essen, eine Stadt mitten im Ruhrgebiet, dem Kohlenpott. Damals noch gekennzeichnet von unzähligen Zechenschornsteinen, Fördertürmen, Fabrikschloten. Dazu der unverkennbare Geruch der Dunstglocke, die sich über das von Rauch geschwärzte Häusermeer legte. Bei ungünstigem Wetter verdunkelte sie die Sonne. Die Stadt Essen – sie ist meine Heimat. Ich liebte sie.
Unsere Wohnung befand sich in einem dreistöckigen, dunklen Backsteinhaus. Von Qualm geschwärzt das hohe Dach, von Qualm geschwärzt die Mauern – Stadtteil Bergeborbeck. Eine Viertelstunde nach Altenessen, eine halbe Stunde Fußmarsch zur Stadtmitte. Wir rechneten nur mit dem Fußmarsch. Ein Fahrrad besaßen wir nicht, und für die öffentlichen Verkehrsmittel fehlte uns das nötige Kleingeld. Im dritten Stockwerk bewohnten wir drei Räume mit sieben Personen. Da waren mein Vater, meine Mutter, meine älteste Schwester Gerda, meine Schwester Waltraud , mein Bruder Rudi. Als viertes Kind war ich da und das letzte Kind war mein Bruder Egon. Alle sind wir in diesem Haus geboren.
Meinen Vater hatte es nach dem Ersten Weltkrieg von Ostpreußen, Kreis Labiau, nach Essen verschlagen. Meine Mutter stammte aus Sachsen Welsleben, Kreis Wanzleben. Ich weiß so wenig über meine Eltern. 1917 – also noch im Krieg – haben sie geheiratet. Die ersten sieben Ehejahre blieben sie kinderlos. Dann kamen wir der Reihe nach in kurzer Zeitspanne: Gerda am 2. Mai 1924; Waltraud am 24. November 1926; Rudi am 24. März 1928; ich am 13. November 1929 und Egon am 1. April 1931. Gerda war eine ruhige Person mit tiefem Empfinden. Zu ihr hatte ich die engste Beziehung. Waltraud war aufgeschlossener, immer auf Ordnung und Sauberkeit bedacht. Dies war bei so vielen Personen auf engem Raum schwer einzuhalten. Rudi war der Korrekte. Komisch, mit ihm verbinden mich die wenigsten Kindheitserinnerungen. Dagegen war Egon ein rechter Wildfang; immer zu Streichen aufgelegt. Obschon er jünger war als ich, nahm er mir gegenüber die Beschützerrolle ein. Ein kleines Erlebnis ist mir noch recht in Erinnerung. Ich kam in Konflikt mit Nachbars Gänsen. Sie kamen im Hinterhof auf mich zugeschnattert. Egon sah meine Angst, trieb die Gänse weg, kniete sich vor mich nieder und meinte treuherzig: „Hast du Angst vor der Ente." Es war schwer, Enten und Gänse zu unterscheiden.
Mein Vater selbst mästete ein Schwein, hielt eine Ziege und ein paar Hühner. Ein Glas Ziegenmilch und ein geschlagenes Ei waren Bestandteile unseres Frühstücks. Im Hinterhof war genügend Stallraum. Für uns Kinder ergaben sich gleichzeitig gute Spielmöglichkeiten. Außerdem konnte mein Vater – weil wir am Stadtrand wohnten – auf einem Stückchen gepachtetem Acker Korn und Kartoffeln anbauen. Einen kleinen Garten, in dem das wichtigste Gemüse wuchs, besaßen wir auch. Nachdem mein Vater Jahre im Bergwerk unter Tage gearbeitet hatte und seine Arbeit wegen eines schweren Herzleidens aufgeben musste, war die Landarbeit seine Lieblingsbeschäftigung. Die Hitze konnte er nicht ertragen. So begann der Tag für ihn schon früh um fünf Uhr. Da wurde auf einem Handkarren in einem ausgedienten Bierfass die Jauche aufs Feld gefahren.
Der Mist wurde ausgebracht. Das Vieh wurde gefüttert. Da musste gegraben, gejätet und gehackt werden. Da wurde das Korn mit der Sense gemäht, gebündelt und in Hocken zum Trocknen gesetzt, später dann mit dem Dreschflegel gedroschen. Es gab immer Arbeit, und – so klein wie ich war – habe ich früh die Lust an der Landarbeit entdeckt. Für Vater und Mutter war ich die beste Hilfe von uns fünf Kindern und Lob vonseiten meiner Eltern machte mich stolz. Bis zu meinem fünften Lebensjahr kann ich zurückdenken. Stolz war ich auch auf mein kleines Körbchen und mein eigenes winziges Taschenmesser. Es waren Geschenke, meine Schätze, die ich hütete. Wie schön war es, in meinen Korb selbst ausgesäte und selbst gepflanzte Kohlrabi zu ernten. Mit meinem eigenen Messer geputzt, schmeckten sie noch mal so gut.
Wir waren arm, sehr arm, aber für Grundnahrung war gesorgt. Trotzdem sehe ich meine Mutter in meiner Erinnerung immer mit einem verhärmten Gesichtsausdruck. Sie war so lieb, hat nie geschlagen und immer versucht, Streitereien unter uns Kindern in Güte zu schlichten, wurde nie ungeduldig bei all unseren Fragen. Bei der Frage: „Was gibt es heute zum Mittagessen? bekamen wir die lustige Antwort: „Kinderfragen mit Zucker bestreut.
Lustig ging es immer unter uns Kindern zu und trotz der Enge waren wir einer auf den anderen voll Rücksicht. Es machte Spaß, zu zweit in einem Bett zu schlafen, in einer großen Runde die Mahlzeiten einzunehmen.
Nur für meine Mutter war alles so schwer. Die Toiletten lagen eine Etage tiefer und auf dem Flur befand sich das einzige eiserne große Waschbecken mit der einzigen Wasserzapfstelle. Gewaschen wurde sich in einer Waschschale, die in einem Dreifuß hing. Sonnabends war Badetag in einer großen Zinkwanne, immer zwei zur gleichen Zeit. Gerda als Älteste hatte eine Sonderstellung. Wie oft musste meine Mutter das Wasser raus- und reintragen und auf dem Kohleherd erhitzen. Im Sommer war alles einfacher. An dem Wasserhahn im Stall wurde ein Schlauch angeschlossen und gemeinsam mit den Nachbarskindern spritzten wir uns gegenseitig ab. Das war herrlich und gehörte zu den kleinen Freuden.
Kurz vor meiner Einschulung mussten wir die Wohnung wechseln, und wegen der Bebauungspläne musste mein Vater sein Land aufgeben. Das war schlimm für uns. Ob es bei meines Vaters karger Rente die Miete war, die uns zur Aufgabe der Wohnung zwang? Ich weiß es nicht. Meinem Vater blieb der Garten. Er musste das Gartenhäuschen für das Schwein und die Ziege vergrößern und einen Auslauf für die Hühner schaffen. Meine Mutter wurde noch verhärmter. Nun mussten wir uns mit zwei Räumen – aber schön groß – begnügen. Ein Schlafzimmer und eine Wohnküche. Ich sah alles mit anderen Augen. Für mich waren die Räume heller, die Toiletten auf der Etage für zwei Familien gedacht. Statt im dritten Stockwerk, wo das Treppensteigen für uns Kleine mit unseren kurzen Beinen oft schwer war, wohnten wir im zweiten Stockwerk. Es ging auch nicht höher hinaus.
Jede Familie hatte den Wasseranschluss und Abfluss in der Küche, ein großes eingebautes Waschbecken mit einem Unterschrank. Wie herrlich, und im Unterschrank befand sich eine Frischluftzufuhr. Dieses kleine vergitterte Loch in der Wand zog mich magisch an. Wie oft bin ich in den Schrank gekrochen und hab nach draußen geblinzelt. Meine Mutter brauchte kein Wasser mehr zu schleppen. Das war doch schön. Dafür ging sie waschen und putzen.
Ja, und draußen war einiges zu sehen. Statt eines dunklen Hinterhofs hatten wir einen Ausblick auf eine große Rasenfläche mit einem für unsere Begriffe riesengroßen Sandkasten. Welch ein Kinderparadies! Und der Rasen durfte betreten werden. Es war nur eine kurze Straße mit hellen Häuserblöcken. Als sie einen neuen, cremefarbigen, fast in Gelb übergehenden Anstrich bekamen, schien für mich die Sonne. Ich mochte die dunklen Backsteinhäuser nicht.
Ja, der Rasen und der Sandkasten und die zu der Zeit noch ruhigen Straßen – das war wirklich unser Paradies. Viele Spielsachen besaßen wir nicht, und wir vermissten sie auch nicht. Ein längeres und ein kürzeres Springseil, von einer alten Wäscheleine abgeschnitten – so spielten wir „Wir Holländer wollen fliegen, fliegen, fliegen!" und flogen auch nur so durch das geschwungene Seil. Mit