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Die letzten Zeilen werden gelebt...: Das Leben von Emily Paulsen
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Die letzten Zeilen werden gelebt...: Das Leben von Emily Paulsen
eBook432 Seiten7 Stunden

Die letzten Zeilen werden gelebt...: Das Leben von Emily Paulsen

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Über dieses E-Book

Diese Geschichte beschreibt das Leben einer erstaunlichen, starken Frau, die ihr Leben so lebt, wie sie es für richtig hält. Dabei meistert sie dramatische Situationen ebenso gradlinig, wie sie skurrile Momente mit Humor nimmt. Emily Paulsen ist ein glänzendes Beispiel für ein unkonventionelles Leben, in dem Menschlichkeit immer an erster Stelle steht.
In der Erzählung wird Emilys Geschichte von der Kindheit an über die Jugend bis in die besten Jahre hinein beschrieben. Dabei gibt es sehr traurige Momente, sehr rührende Ereignisse und viele komische Situationen, in denen man einfach lachen muss.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Okt. 2019
ISBN9783749753604
Die letzten Zeilen werden gelebt...: Das Leben von Emily Paulsen

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    Buchvorschau

    Die letzten Zeilen werden gelebt... - Emily Paulsen

    Einleitung

    Während ich im Flieger von Bangkok nach Hamburg sitze, fließen die Erinnerungen aus meiner Feder. Ok, um ehrlich zu sein, ist es ein Bleistift, aber der Gedanke zählt. Ich habe es Helene, meiner Tochter, versprochen als wir uns auf Koh Samui vor einer Woche getroffen haben. Wir haben eine Woche gemeinsam verbracht, während Helene auf Weltreise war. Die Sache mit Memoiren ist: Man kann eine Menge dabei verlieren - Freunde, Kunden und vor allem nichts ahnende Ehemänner.

    Letzteres war der Grund warum ich meinen ersten Versuch, meine Lebensgeschichte zu schreiben, in der Schublade verschwinden ließ. Mein mittlerweile Ex-Mann hätte vermutlich einen Tobsuchtsanfall bekommen. Stattdessen übte ich mich in der Kunst des Golfens und verbesserte mein Handicap von 54 auf 20,3. Ich kann also offiziell Golf spielen. Hip, hip… Ich gewann sogar in einem Jahr die Sieger Ehrung, was mir zwölf silberne Kuchengabeln einbrachte. Ein Grund mehr, Kuchen zu essen. Die Weingläser mit Clublogo kamen allerdings öfter zum Einsatz.

    Heute bin ich frei und kann ehrlich sein. Es gibt keine Geheimnisse zwischen mir und meinem Partner, er weiß alles von mir. Helene und Laura, meine beiden Töchter, sind erwachsen, verständnisvoll und vor allem neugierig.

    Unsere Familienstrukturen sind fast so verworren wie die aus irgendwelchen Soap Operas. Da sie sich sowieso niemand merken kann, lasse ich sie hier weg. Mein Leben ist ein offenes Buch. Steigen wir direkt ein.

    Die frühen Jahre

    Meine Eltern wohnten in der Palmallie in Hamburg Altona. Hier wurden die ersten drei Kinder geboren. Anni und Hedda wurden im Michel getauft, ich in Sasel von Pastor Stark. Der Name sollte in meinem späteren Leben noch Programm sein. Als meine Schwester Lisa unterwegs war, zogen wir nach Lübeck / Bad Schwartau in die Beethovenstraße. Es war eine schöne Kindheit. Wir konnten in unserem Garten auf der Wiese im Knick (Gebüsch) an der Aue spielen. Ein Paradies. Hinter dem Bach waren Felder vom Bauern. Wir tobten im Freien bis wir Mutters Pfeifen hörten. Das war das Signal und wir mussten schnurstracks ansteppen. Und das Beste an dem Garten war, es gab Bio-Obst in Hülle und Fülle. Gelegentlich bedienten wir uns an den Erdbeeren, die der Bauer angepflanzt hatte. Dazu musste man sich auf allen Vieren hin- und zurückschleichen. Erwischt wurde ich nie, jedoch musste ich im wahrsten Sinne des Wortes allerlei Tierchen über mich ergehen lassen. Der Bauer muss von unseren Pflückaktionen gewusst haben, doch er unternahm nichts. Vermutlich rechnete er mit so etwas.

    Am Ende unseres Gartens, vor unserem Jägerzaun, hatten wir eine große Sandkiste, wo Anni mit den anderen größeren Nachbarskindern Weitsprung für die Schule trainierten. Ich war zwar oft die Jüngste, aber an Mut fehlte es mir nie. Entschlossen, wie ich war, wollte ich allen mal den weitesten Sprung von mir zeigen. Ich nahm Anlauf, meine Füße flogen fast über den Boden, ich sprang und – landete mit angezogenen Beinen auf meinem Allerwertesten. Es durchzuckte mich wie ein Blitz, der in das Rückgrat einschlägt. Ich saß da, spürte einen stechenden Schmerz und rang nach Luft. Ich konnte kaum atmen. Das ging eine Weile so bis ich die Kraft fand, wieder aufzustehen. Meinen Eltern sagte ich nichts davon. Schließlich war der Wahlspruch meines Vaters: Was uns nicht kaputt macht, macht uns hart. Manchmal ist aber sinnvoller, den Mund aufzumachen. Mehr als 50 Jahre später war ich bei einem chinesischen Arzt, der mir sagte: „Sie haben Steißbein geb(l)rochen." Da fiel mir der Weitsprung wieder ein. Also der Steiß, so ein Sch…!

    Zwei Türen weiter wohnte Familie Klein mit Oma Wetterich, Bernd und Jörg. Jörg zeigte mir eines Tages sein Spielzeugauto, das ein Stück die Wand hochfahren konnte. Ich war schwer beeindruckt und der tiefen Überzeugung, verliebt zu sein. Jedes Mal, wenn ich ihn traf, machte mein Sprachzentrum eine obligatorische Pause und mein Gesicht glich einer überreifen Tomate. Die türkisblauen Skier, die ihm zu klein geworden waren und die er mir schenkte, hütete ich wie meinen Augapfel. Im Winter konnte ich mit ihnen auf der leicht abschüssigen Wiese bis zum Bach fahren. Dann mussten wir wieder die Wiese hochsteppen und das kurze Vergnügen begann von neuem. Oma Wetterich schickte mich oft einkaufen. Ich durfte mir jedes Mal eine Tüte Haribo für 20 Pfennige kaufen. Die Tüten waren leicht durchsichtig, grün oder weinrot mit ca. 50g Inhalt. Meist bummelte ich auf dem Rückweg und verdrückte alles alleine. Wenn ich es mitgebracht hätte, hätte ich es nur mit meinen Geschwistern teilen müssen. Keine Chance, mein Einkauf – meine Süßigkeiten.

    Im Reihenhaus gegenüber wohnte meine Freundin Brigitte Gruber. Oft spielten wir zusammen. Wir hatten an einem Tag einen Film im Fernsehen angeschaut, in dem es einen Wohnungseinbruch gab. Als wir uns aus der Küche etwas zu essen holen wollten, vernahmen wir Geräusche an der Haustür und am Fenster. Da die Eltern zum Einkaufen waren, bewaffneten wir uns kurzerhand mit Küchenmessern und fingen an lauthals zu singen. Wir krakelten lauter und lauter und hatten schlotternde Knie vor Angst. Schließlich hörten wir, wie sich jemand an der Tür zu schaffen machte. Wir erstarrten vor Schreck und unsere Stimmen versagten. Mit weit aufgerissenen Augen standen wir erstarrt vor der Haustür. Die Tür öffnete sich wie in Zeitlupe und dort standen die Eltern und krümmten sich vor Lachen. Sie erzählten uns, dass sie das Spektakel 10 Minuten lang vor dem Fenster beobachtet hatten. Wie witzig…! Wir waren stinksauer!

    Unser Garten war unser Spielplatz. Oft verwandelten wir unseren kompletten Garten in eine Wohnung. Wir spannten dazu Wäscheleinen und behängten sie mit Decken. Die Möbel wurden aus Kartons gebaut und wir spielten Besuch, wobei unsere Mutter uns mit Äpfeln, Gebäck und Tee versorgte. Manchmal spielten wir auch „Kluntermeyer", wie Mama es nannte. Wir hatten eine große Kiste mit Kleidern, Hüten, Hemden und allerlei Verkleidungssachen. Mein Lieblingsteil war der Silberfuchskragen. Als Mama ihn entsorgte, war ich sehr traurig, jedoch meinte sie, dass die Haare ausfielen. Wie sollte ich feine Dame spielen ohne meinen geliebten Fuchskragen? Teilweise spielten wir mit sehr teuren Spitzenkleidern, die aus irgendeinem Fundus stammten. Im realen Leben ging es bei uns weit weniger glamourös zu. Normalerweise trugen wir einheitliche Kleider und die Jungs sogenannte Kasacks. Frau Lender, unsere Schneiderin, hatte ihre Nähstube mit Unmengen von Stoffen gegenüber der Murnauer Werke. Wir Mädels bekamen immer einheitliche Kleider und die Jungs in dazu passender Farbe Kittelchen mit Stehkragen (mein Dad liebte die russische Kleidung und den Donkosakenchor). Papa war fünf Jahre lang in russischer Gefangenschaft. Die meiste Zeit davon verbrachte er im Lazarett, weil er an Malaria litt und zeitweise nur 48kg wog. Die Gefängniswärter hatten Mitleid und behandelten ihn bevorzugt. Auch entstanden in dieser Zeit Freundschaften. Meine Schwester Dodo wusste viel über Papas Kriegserlebnisse. Sie hatte sogar angefangen Russisch zu studieren. Sie erzählte, dass Papa in der Küche gearbeitet hatte und auch den Abwasch tätigte. So konnte er alle zurückkommenden Teller vor dem Abwasch sauberlecken und bekam so eine wertvolle Portion extra. In der Kriegsgefangenschaft ging es oft um das nackte Überleben.

    Wenn wir Mädels aus einem Kleid herausgewachsen waren, wurde für meine älteste Schwester aus dem Stoff ein neues Kleid genäht. Die anderen Kleider wurden durchgereicht. Das ist der Nachteil, wenn man zu den jüngeren Geschwistern gehört: Man bekommt immer die alte Kleidung. Da wir aber sowieso einheitliche Kleider trugen, war es ziemlich egal. Lediglich das Perlgarnsternchen wurde herausgetrennt und neu zugeordnet. Anni hatte die Farbe Blau, Hedda Rot, Emily Grün, Lisa gelb usw. Das war wirklich schlau von Mama, denn wie sollten sonst die vielen Hemdchen, Höschen und Socken nach der Wäsche wieder zugeordnet werden. Jeder hatte in dem großen, antiken Schrank seine Regale oder Schublade. Alles war wohl geordnet gemäß dem Motto: Ordnung ist das halbe Leben. Unsere jeweiligen Farben zogen sich durch alle Bereiche unseres Lebens. Man konnte sie im ganzen Haus verfolgen, vom Handtuch, Waschlappen und dazugehörigem Haken über Trinkbecher und Serviettentasche bis zur Zahnbürste – Farben waren unsere Erkennungsmerkmale. Sogar in meinem Lodenmantel war das Paisly-Muster überwiegend grün. Ein Glück, dass niemand von uns farbenblind war. Das wäre ein lustiges Chaos geworden. Was mir jedoch beinahe Krämpfe der Verzweiflung verursachte, waren die Art Dirndlkleider, natürlich grün mit Rosenmuster. Lisa und ich träumten von Kaufhauskleidern, wie sie alle Kinder trugen. Naja, beinahe alle…

    Und dann gab es noch die Schuhe, Haferl genannt. Für mich waren diese Alpentreter einfach nur hässlich: seitlich geschnürt, mit Eichenblatt gesteppt und so unglaublich bayrisch. Es gibt Länder, in denen man ganz wunderbar leben kann, Bayern gehört für mich nicht dazu.

    Wenn die „buckelige Verwandtschaft, wie Papa sie scherzhaft nannte, zu Besuch kam, mussten wir uns der Größe nach geordnet wie die Orgelpfeifen aufstellen. Mama sagte dann stets voller Stolz und Mutterglück: „Das ist unsere Rasselbande!. In diesen Momenten waren alle Mühen und Plagen vergessen. Wo wir gerade bei Plagen sind – wie alle Kinder brachten auch wir ab und an Krankheiten mit. Mamas Strategie war so simpel wie effektiv: Sie versuchte, dass wir uns alle möglichst schnell ansteckten. Sie meinte dazu, umso schneller sei es vorbei. Unser Wohnzimmer glich in dieser Zeit einem Lazarett. Sogar unser geliebter Wohnzimmertisch, den Opa Willi höchstselbst gebaut hatte, musste der Krankenversorgung weichen. Opa Willi war ein echter Künstler. Noch immer habe ich einen Nähkasten mit Geburtsdatum in feinster Intarsienarbeit und ein Backgammonspiel in meinem Besitz. Lisa hat noch eine Kinderbank mit Stauraum von ihm. Der große Tisch mit den großen Kugeln kurz unter der Tischfläche war und ist jedoch das eindrucksvollste Möbelstück in unserer Familie. Es steht heute bei Hardy. Hier hatte jeder seinen festen Sitzplatz. Ausgezogen fanden 14 Personen an ihm Platz. Oft sagte Mama: „Könnte dieser Tisch erzählen, er spräche Bände!" 17 Mal zog er mit unseren Eltern um und war Mittelpunkt im Alltag, zu Feierlichkeiten, er war Arbeitstisch, Wickeltisch und Schreibtisch – fast wie ein echtes Familienmitglied. Einmal wurde er sogar unfreiwillig getauft.

    Als Mama nach ihrer fünften Entbindung nach Hause kam, legte sie den Neuankömmling auf besagten Tisch, auf die feierlich drapierte Gummiunterlage und weiche Decke und entkleidete ihn stolz. Meine Nasenspitze reichte gerade bis zur Tischkante. Stück für Stück legte sie die Kleidungsstücke ab und nahm dem Neugeborenen die Windel ab. Das war der Moment, in dem er seinen Schniedel in einem großen Bogen kreisen ließ und dabei „sein Revier markierte. Hardy hatte der Welt auf seine ganz eigene Art „hallo gesagt und dabei gleich den Tisch getauft.

    Ich besuchte in dieser Zeit die Rensefelder Volksschule. Meine Lehrerin hieß Frau Wippke und wohnte in unserer Straße. Ich mochte sie sehr. Auf dem zwanzigminütigen Weg dorthin holte ich zuerst Britta ab, dann Petra und zuletzt Angela. Mama fuhr damals einen VW Käfer, der meistens mit Damen Pullovern gefüllt war. Sie nahm mich meistens mit auf Tour: Zusammen fuhren wir zu den „Nissenhütten", die von den Engländern nach dem Krieg gebaut worden waren, um die Obdachlosen schnell unterbringen zu können. Seltsam, dass das heute nicht mehr funktioniert. Hier warteten die Frauen schon auf ihre bestellten Waren. Papa fuhr in dieser Zeit Getränke für eine Firma aus. Da er jedoch immer mehr Rückenprobleme hatte, musste er dort aufhören. Darüber war er sehr traurig, denn der Verdienst war gut und die Kollegen waren nett. Vor dem Krieg hatte er das Medizinstudium begonnen, jedoch nicht beenden können. Nach dem Krieg lernte er dann Versicherungskaufmann. Auch besaß er eine komplette Schustereinrichtung. Er übte wohl insgesamt mehr als 15 verschiedene Tätigkeiten aus. Seine Einstellung dazu war immer: Kann ich nicht, gibt’s nicht! Ähnliches traf auch auf den Hausbau zu. Unser Reihenhaus wurde irgendwann zu eng. Also beantragte Papa Landesmittel und wollte durch eigene Arbeit knapp 30% der Kosten einsparen. Alles war eingereicht und das Grundstück in der Vorwerker Straße gekauft. Doch die Mittel wurden nicht bewilligt. Die Behörden waren vermutlich damals wie heute recht eigenwillig mit ihren Bewilligungsstrategien. Für uns war das dramatisch, denn nun begann unser Umzugsmarathon. Bisher hatten wir eine schöne Zeit gehabt mit regelmäßigen Wochenenden am Strand in Haffkrug / Sierksdorf oder am Ratzeburger See. Natürlich waren unsere Badeanzüge – man glaubt es kaum – einheitlich genäht von unserer Schneiderin Frau Lender. Das hatte den großen Vorteil, dass man ein verlorenes Kind leicht wiederfinden konnte. Meine Eltern waren immer recht praktisch. Papas Nichte Sylvia war manchmal auch dabei. Sie war ein Jahr älter als meine Schwester Anni und teilte mit ihr später das traurige Schicksal eines frühen Todes. Doch davon später mehr. Es war eine glückliche Zeit, in der wir viel mit Papa herumtobten. Im Herbst 1966 beendete ich die Volksschule Rensefeld und ein neuer Lebensabschnitt begann.

    Papa kaufte einen Waschsalon. Es war der erste in Lübeck, jedoch war es noch zu früh und die Leute nahmen die Idee noch nicht an. Ein paar Jahre später wäre er vermutlich sehr erfolgreich gewesen. Timing ist halt alles. Als nächstes mietete Papa eine Reinigung in der Wahmstraße. Darüber war eine Wohnung, in die wir zogen. Das Ganze ging recht schnell, weil wir das Reihenhaus zu einem bestimmten Termin übergeben mussten. Bis zu unserem endgültigen Grundstück in Moorgarten mit unserer Villa Kunterbunt sollte es noch etwas dauern.

    Das Reinigungsgeschäft war keineswegs Papas einzige Geldeinnahme. Er tätigte auch andere Geschäfte und stellte dafür einen Geschäftsführer ein. Der hatte jedoch nichts Besseres zu tun, als ihn nach Strich und Faden zu betrügen. Es endete damit, dass er einen Einbruch vortäuschte. Das vorhandene Geld war dahin. Also wurde die Reinigung geschlossen, der Mietvertrag samt darüber liegender Wohnung gekündigt. Eine neue Wohnung musste her. Wir fanden sie über dem Kapitol Kino, das in der Breiten Straße liegt. Es gab neun Zimmer, also war unsere Großfamilie kein Problem. Einziger Haken war: Die Vormieter hatten nicht gezahlt und mussten per Gericht rausgeklagt werden. Doch da gab es ja noch eine Reinigungsannahmestelle in Schlutup, in die wir ziehen konnten. Die war zwar nur ca. 50m² groß, aber immer noch besser als nichts. Seit einiger Zeit war unsere Mutter immer mal wieder im Krankenhaus. Es war der Beginn einer langen Krankheitsgeschichte. Oft wurde wir Kinder dann verteilt: Hedda kam zu Pastor Scheider, ich durfte bei meiner Freundin Petra wohnen. Dort hatten wir immer eine gute Zeit. Wir spielten Karten oder verkleideten uns. Ich war damals die Kleinste in meiner Klasse: Wenn wir uns der Größe nach aufstellen sollten, stand ich immer als letzte. Das hatte jedoch auch Vorteile, erbte ich doch von Petra ein blaues Kleid, das ihr zu klein geworden war. Lisa kam zu der streng gläubigen Familie Stecker, wo das Klavierspielen gelernt werden musste. Auch ich wurde dort ab und zu „stationiert" und kam bis zum Flohwalzer. Hardy und Dodo mussten stets nach Lüchow zu Oma Hedwig und Willi. Die Folge war, dass sie eine enge Bindung zu den beiden hatten und auch stets nur ihnen Schokolade mitbrachten und uns anderen nichts. Oma Hedwig war eine richtige alte Zicke! Anni war bei Pastor Scheider und hatte sich mit dessen Tochter Amelie und dessen Sohn angefreundet.

    Da ich schon früh unter Asthma litt, wurde ich manchmal nach Sylt oder Amrum verschickt. 1967 war ich alleine dort und später nochmal mit Lisa. Ich aß dort stets heimlich ihre Buttermilchsuppe mit Rosinen, weil sie sie nicht mochte. Auch mussten wir dort sitzen bleiben, bis wir alles aufgegessen hatten. Auch den oft ekelhaften Fisch, der jedem anständigen Koch die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Einmal klemmte ich den Fisch, den es gab, zwischen die Knie, um ihn später im Klo herunterzuspülen. Ich ließ mich von strengen Regeln nie entmutigen, sondern suchte immer einen Weg. Dort im Heim erhielten wir eines Tages Post von Papa mit der Mitteilung, dass Mama wieder im Krankenhaus war und wir ihr an beigefügte Adresse schreiben sollten. Briefmarken und Papier waren beigefügt. Lisa war verzweifelt und fing herzzerreißend an zu weinen. Sie schluchzte die halbe Nacht unter der Bettdecke. Ich war damals ca. 11 Jahre alt und fasste in dieser Nacht eine Entscheidung, die mich mein ganzes Leben lang bis heute begleiten sollte: Ich beschloss stark zu sein! Ich wollte Lisa trösten, denn niemandem war geholfen, wenn ich auch anfing zu heulen. Das einzige, was Tränen brachten waren verheulte Augen und Falten und man änderte nichts. Also war ich ab sofort stark. In dieser Nacht wurde mir bewusst, dass man immer verliert, wenn man sich mit der Realität anlegt. Trotzdem war es nicht einfach. Dennoch: Wir überstanden die Nacht und die folgenden Tage und schrieben unserer Mutter Briefe.

    Bevor wir nach Schlutup zogen, waren wir in der Mariengemeinde. Unsere Eltern pflegten eine enge Beziehung zu Pastor Seemann und seiner Familie. Anni und ich hielten uns oft in der Gemeinde auf. Dort fanden Tanznachmittage, Basteln, Faschingspartys und noch einiges mehr statt. Die klassischen Teenager-Probleme begannen. Ich hatte noch keine Brust, wollte aber in vorderster Reihe mitmischen. Also stiebitzte ich die Plastikkörbchen aus dem Badeanzug meiner Mutter und schnitt sie kleiner. Ab in einen BH damit und mit Watte gefüllt: Voila – nun hatte ich auch etwas Brust wie meine Freundin Birgit. Hedda hatte für die Veranstaltungen in der Mariengemeinde gar keinen Sinn. Sie bevorzugte ihre Schulbücher. An der Emanuel Geibel Realschule, auf die wir gingen, war sie die beste Schülerin. Daher erteilte sie mir auch mit einer Engelsgeduld Mathenachhilfe in der siebten Klasse. Mit Mathe war es jedoch genau wie mit Chinesisch: Ich verstand es nicht. Mathe-Aufgaben erschienen mir immer rätselhaft.

    Da Hedda älter war, erntete ich reichlich Vorschusslorbeeren. In Englisch war ich tatsächlich gut, denn wir älteren Geschwister unterhielten uns zuhause auf Englisch, damit Mama uns nicht verstand. Auch meine Englischlehrerin, Frau von Lojewski, liebte ich sehr. Im Zeugnis hatte ich eine Eins. Das lag unter anderem auch daran, dass ich mit dem Vokabelheft zu Bett ging und regelrecht für das Lob meiner Lieblingslehrerin lernte. Jedes Mal, wenn Sie Vokabeln abfragte und sich keiner meldete, sagte sie zu mir: Komm, Emily, nun sag es der Klasse. Oft lernte ich vor, so dass ich jede neue Lektion schon vorher beherrschte. Motivation ist alles. Aber vielleicht ist mir eine Sprachbegabung in die Wiege gelegt worden, da mein Urgroßvater Dolmetscher vom letzten Kaiser Wilhelm war. In der fünften Klasse hatte ich sieben Einser, sieben Zweier und eine Drei in Musik. Mit der Musik war das so eine Sache. Wenn ich sang, klang es vermutlich so ähnlich wie ein Rabe auf Koks. Abgesehen davon machte ich mich im Musikunterricht auch unbeliebt: Ich klebte die Stühle mit Kaugummi zusammen und wurde prompt von Herrn Böge erwischt. Pech! Leider wurden meine Zensuren mit jedem Jahr schlechter. Hedda gab sich alle Mühe, aber ich hatte nur Flausen und Jungs im Kopf! Da die Streitigkeiten mit den Mietern in der Neun Zimmer Wohnung noch nicht geklärt waren, mussten wir also nach Schlutup ziehen, wenn auch glücklicherweise nur kurz. Ich wechselte an die dortige Realschule. Da Papa die Reinigungsannahme sowieso schließen wollte, weil sie sich nicht rentierte, bot es sich an, dass wir hierherzogen. Neun Personen auf 50 m². Der Härtefall schlechthin, ein mittelschwerer Alptraum! Es gibt Wohnungen, in denen man gut leben kann. Diese gehörte nicht dazu! Mit welchem minimalen Platz man auskommen konnte, wenn es die Situation erfordert, ist unglaublich. Aber unser Häuptling war ein Improvisationstalent. Nach kurzer Überlegung setzte er seinen Plan flexibel in die Tat um: Papa nahm die sündhaft teuren, antiken Erbstücke von Oma Johanna und Willi und zersägte kurzerhand Kopf- und Fußteil der Biedermeier- und Jugendstilbetten. Daraus baute er zwei Hochbetten. Je drei Betten übereinander waren mit Brettern am Ende zusammengenagelt, damit sie stabiler waren. Er war einfach praktisch und die Intarsien waren eh nicht mehr in Mode. Jeder Antiquitätenhändler hätte sich die Haare gerauft bei dieser Schandtat. Selbst die überdimensional hohen Lehnen der ledergepolsterten Stühle fielen seinem Erfindungsreichtum zum Opfer. Sie wurden kurzerhand zu Schemeln umfunktioniert und passten so auch viel besser unter unseren Tisch. Da bewahrheitete sich der alte Designer-Grundsatz „Form follows function".

    Die Eltern hatten ihr Bett lediglich mit einem Vorhang mitten im Raum verdeckt. Die Wand in unserem Schlafzimmer bestand aus dem Regal, in dem früher die Wäsche einsortiert war. Nun lagen dort unsere Hemden, Schulsachen und alles, was wir brauchten. Zwischen Betten und Regal war gerade noch Platz für einen kleinen Tisch und zwei Stühle. Mir wurde die dritte und oberste Bettetage zugeteilt. „Platz ist in der kleinsten Hütte war der neue Familienspruch. Der wenige Platz und die fehlende Privatsphäre waren eine Sache, eine ganz andere war jedoch der unerträgliche Fischgestank der Konservenfabrik, der sich an bestimmten Tagen wie eine Wolke über ganz Schlutup legte. Dieser penetrante Geruch brannte sich derart in meine Synapsen ein, dass mir noch heute die Tränen in die Augen treten, wenn ich daran nur denke. Jedes Mal, wenn sich im Bus nach einem Schichtwechsel ein Fabrikarbeiter neben mich setzte, musste ich den Brechreiz unterdrücken. Manchmal stieg ich auch aus und wartete auf den nächsten Bus. Hier freiwillig zu leben, kam mir genauso unsinnig vor, wie aus einer öffentlichen Toilette zu trinken. Mir fielen nur zwei Gründe ein: Entweder jemand hatte ein Haus geerbt und musste es selbst nutzen, da er es nicht verkauft bekam oder jemand war von der Arbeit in der Fabrik abhängig und war entsprechend abgestumpft oder gar immun gegen den Gestank. Ich führte eine Strichliste, in der ich verfolgen konnte, wie viele Tage ich noch in dieser Geruchshölle ertragen musste. Später las ich von John Steinbeck „Die Straße der Ölsardinen – dasselbe Szenario. Als ob er es gewusst hätte.

    Auch meinen Konfirmandenunterricht musste ich hier absitzen. Christentum in allen Ehren, aber eine Religion, die überall das Kreuz aufstellt, an das ihr Erlöser unfreiwillig genagelt worden war, ist mir doch etwas suspekt. Doch Religion war bei uns eine demokratiefreie Zone, man musste mitmachen, ob man wollte oder nicht. Egal wo wir wohnten, der Pastor wurde immer konsultiert. Auch mussten wir stets ein Tischgebet sprechen. Aber die Festivitäten und Geldgeschenke am Ende der Konfirmation entschädigten für den Unterricht. Alle aus meinem Freundeskreis sparten für ein Mofa. Ich war da keine Ausnahme und kaufte mir für 120 DM eine gebrauchte Velo Solex. Dafür hatte es sich jedenfalls gelohnt. Pastor Dreher suchte nach der Konfirmation noch einmal alle seine Schäfchen auf. Allerdings hatte er nicht vor, Kaffee und Kuchen zu konsumieren, sondern er wollte alle, jetzt vor Gott selbstverantwortlichen Christen, in einem Abschlussgespräch ermahnen, dass sie auch zukünftig freiwillig den Gottesdienst besuchen sollten. Jetzt konnte ich die Katze aus dem Sack lassen und teilte ihm meine Überzeugung mit: Alle Religionen beanspruchten für sich, die einzig wahre zu sein. Kriege, Gutes, Schlechtes – alles im Namen des Glaubens. Vielen Dank auch. Ich glaubte an mich und an die Natur.

    Aus Schlutup habe ich nur zwei gute Erinnerungen: Eine sensationelle Klassenfete, auf der ich zu „Je t’aime von Serge Gainsbourg und Jane Birkin 1969 mit meinem Schwarm Michael eng tanzte und ganz verliebt in ihn war. Die zweite Erinnerung waren die Treffen in der Badeanstalt, wo man cool mit dem Mofa angeknattert kam und dann gemeinsam abhing. Die Mutter eines Klassenkameraden saß dort an der Kasse und so kamen wir meistens kostenlos rein. Gegenüber unserer Behausung lebten zwei süße Jungs, 16 und 18, in einem schönen Einfamilienhaus. Ich schämte mich jedoch so sehr für unsere Wohnung, dass ich sie lieber mied. Schließlich kam der Tag, an dem meine Strichliste der Stinky Days voll war und der Umzug anstand. Endlich lebten wir weit weg vom Gestank in einer Neun Zimmer Wohnung. Hier feierte ich meinen prägnanten 13. Geburtstag. Wir feierten drei Tage lang durch. Unsere Eltern verbrachten das Wochenende im Harz bei Tante Mine. Ich bekam die Platte „Dondolo von Rex Gildo und sogar ein Foto mit Widmung für mich. Das ließ mein Herz höherschlagen.

    Anni, Hedda und ich teilten uns ein Zimmer. Wir hatten ein Hochbett aus Stahlrohr und ein Wandklappbett. Zusätzlich hatten wir einen großen runden Tisch mit vier Stühlen. Bei der Party waren wir ungefähr 20 Leutchen. Wenn die Getränke alle waren, wurden alle Taschen umgekrempelt und das restliche Geld zusammengekratzt. Die ältesten gingen zur Tanke und holten weitere Kisten Bier. Unsere kleinen Geschwister parkten wir bei der Nachbarin und baten sie, den Eltern nichts zu verraten. Anni knutschte im Elternschlafzimmer mit ihrem Freund. Es ging durch alle Räume. In unserem Etagenbett saßen drei Leute. Einer spielte Gitarre. Ich lag oben auf dem Bett mit Ingo. Zärtlich streichelte er mir die Wange, den Hals und seine Hand wanderte weiter. Schlagartig erinnerte ich mich an die Plastikkörbchen aus Mamas Badeanzug und die Watte. Also wand ich mich spielerisch weiter und weiter bis die Schwerkraft zuschlug und ich aus dem Etagenbett zu Boden knallte. Ich hatte die Lacher auf meiner Seite, aber das war die kleinere Blamage. Um die Situation zu überspielen, schlug ich vor, etwas zu essen. Ingo aß dreizehn Scheiben Brot. Dreizehn Scheiben! Unfassbar! Die Party hatte irgendwann ein Ende und wir schauten uns das Ausmaß der Verwüstung an. Bevor unsere Eltern zurückkamen machten wir die ganze Bude sauber. Alle halfen mit, die verräterischen Spuren zu beseitigen. Eine super Fete!

    Wie die meisten Jugendlichen, geriet auch ich in die Situation, dass ich meine Grenzen austesten wollte. Nach der Schule ging ich täglich an der Drogerie Grabener vorbei durch die Pfaffenstraße. Dort stand ein Brillenständer auf dem Trottoir. Irgendwie reizten sie mich und ich probierte einige auf. Ich fühlte mich sehr schick und überlegte, was wohl wäre, wenn ich einfach eine aufbehalten würde. Gedacht, getan! Ich behielt ganz dreist die Brille auf und schlenderte lässig weiter. Als ich unsere Wohnung betrat und meine Mutter mich anblickte, spürte ich die Unsicherheit und Angst in mir aufsteigen. Ich sollte recht behalten. Meine Mutter bemerkte die Brille sofort, und stellte mich zur Rede. Sie trieb mich derart in die Enge mit ihren Fragen, die auf mich einprasselten wie Hagelkörner, dass mir keine Ausrede einfiel. Schließlich gab ich zu, sie entwendet zu haben. In Mamas Gesicht zog ein Tornado auf. Sie beauftragte Anni mit den Geschwistern Mittag zu essen, packte mich unwirsch am Arm und zog mich zielgerichtet mit finsterem Blick in Richtung Drogerie. „Wir bringen Herrn Grabener seine Brille zurück und Du entschuldigst Dich bei ihm. Geklaut wird nicht bei uns!"

    Ich war verzweifelt. Wie eine Fliege im Netz einer Spinne zappelte mein Bewusstsein, um noch schnell irgendeine Lösung zu finden. Die 500 Meter zum Laden wurden zu einer gefühlten Ewigkeit. Egal wie sehr ich mein Gehirn anstrengte, nichts wollte mir einfallen, das mir die Peinlichkeit ersparen könnte. Ich hatte den Eindruck, dass jeder Passant mir einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. Völlig verzweifelt brabbelte ich vor mich hin: „Bitte, bitte, lieber Gott, hilf mir, nur dieses eine Mal. Doch wenn es einen Gott gab, zeigte er keinerlei Erbarmen. Meine Mutter zog mich vorbei an dem besagten Ständer, die Treppen herauf in den Laden und – stolperte derart, dass sie der Länge nach auf den Bauch fiel. Mir schoss durch den Kopf, dass dies die Chance sein könnte. Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht mussten wir einen Arzt rufen und Mama käme ins Krankenhaus. Ich würde unverrichteter Dinge ohne Schuldeingeständnis davonkommen. Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als meine Mutter unverletzt aufstand, ihre Kleider zurechtzupfte und Herrn Grabener ansprach, der besorgt zu ihr geeilt war. „Meine Tochter Emily hat da etwas, das Ihnen gehört! Unsanft zog sie mich an meinem Arm vor Herrn Grabener und ich spürte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht schoss. Ich wünschte in dem Moment, dass der Erdboden mich verschluckte. Kleinlaut mit herabhängendem Kopf und Schultern stotterte ich eine Entschuldigung hervor. Herrn Grabener wagte ich nicht anzuschauen, zu peinlich war mir meine unbedachte Tat.

    Ich bekam vier Wochen strengsten Stubenarrest, der rigoros eingehalten wurde. Fortan machte ich einen Umweg zur Schule, der mich 5 Minuten kostete, aber ich konnte es nicht ertragen, den Ort meiner Scham zu passieren. Zu peinlich war mir die Situation, die sich ein mein Gedächtnis gebrannt hatte. Nach vier Wochen war die Strafe endlich abgelaufen und ich durfte wieder in die Freiheit. Für einen Moment fühlte ich mich wie ein geläuterter Straftäter und genoss den Geschmack der Freiheit. In der Mariengemeinde sollte um 17: 00 Uhr eine große Party stattfinden. Genau richtig, um meine wiedergewonnene Freiheit zu feiern. Meine Freunde Holger und Jan wollten auch dort sein. Anni und ich fanden beide super und konnten es kaum erwarten, sie zu treffen. Mein Outfit stand (samt ausgestopftem BH), die Schminke war eingepackt (heimlich natürlich) als Papa kam und sagte: „Du musst aber erst all Deine Sachen aufräumen! Anni hatte mich voll ausgetrickst. Sie hatte alle Sachen von mir, die irgendwo herumlagen, in die Mitte des Raumes gehäuft. Unser Vater kannte da keine Gnade, Ordnung musste sein. Ich war stinksauer, dieses Biest hatte mir den ganzen Abend vermasselt. Mama war an diesem Abend völlig durch den Wind: Sie stand am offenen Fenster und sagte, sie würde springen. Glücklicherweise war es nur der 1. Stock. Papa knallte Mama eine ordentliche Backpfeife ins Gesicht und sagte: „Lass den Unsinn! Manchmal halfen solche einfachen Mittel, um jemanden zur Räson zu bringen. Vorsorglich wurden Oma Hedwig und Opa Willi bestellt, um auf uns aufzupassen, falls Mama doch wieder ins Krankenhaus musste.

    Opa betätigte sich in der Zeit am Telefon des Maklerbüros, das Papa nebenbei betrieb. Oma half derweil bei allen Haushaltspflichten. Ich kam gerade aus der Schule als ich die Emaille Schüssel auf den Boden klatschen hörte und alle Kartoffeln durch die Küche kullerten. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass der liebe Gott, oder wer auch immer verantwortlich ist, als Entertainment ein paar Katastrophen in unserer Familie verteilt hatte und nun bei Popkorn und Cola im Sessel saß und sich die Show ansah. Oma hatte einen epileptischen Anfall. Sie hing auf dem Stuhl und ich stützte sie, damit sie nicht fiel. Nach kurzer Zeit kam sie wieder zu sich. Das war das einzige Mal, dass ich das erlebte. Insgeheim musste ich mir eingestehen, dass ich es ganz lustig fand, diese Zicke einmal hilflos zu sehen. Meine negativen Erfahrungen, die ich bei ihr zuhause gemacht hatte, ließen keinen Platz für Mitleid. Ich machte vieles mit, aber wenn eine bestimmte Grenze überschritten war, vergaß ich das nicht mehr. Mama hatte auch unter Oma Hedwig und deren Schwester Leni gelitten. Sie erzählte einmal, dass sie bei den beiden war und drei Kinder nacheinander aus einem Teller fütterte. Oma Hedwig sagte dazu völlig entrüstet, dass es ja wie bei einer Raubtierfütterung zugehe und dass es ganz furchtbar sei. Mama war entsetzt über diesen Vergleich. Vermutlich hatten sich Oma Hedwig und Tante Leni eine studierte Dame und keine (aus deren Sicht) Wurfmaschine gewünscht.

    Mit Oma Hedwig verband ich einige unangenehme Erinnerungen. Einmal bereitete sie für die goldene Hochzeit eine Ochsenzunge mit einer Sahne Meerrettich Sauce zu. Ich dachte, dass es vielleicht schneller ginge, wenn ich helfen würde. Also kam ich in die Küche. Da lag die Zunge mit den großen Papillen. Irgendwie erinnerte sie mich an meine. Schnell flitzte ich ins Bad und schaute mir meine Zunge an. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Zurück in der Küche hatte Oma Hedwig bereits die oberste Schicht entfernt und schnitt sie in dünne Scheiben. In diesem Moment verging mir der Appetit. Ich kann das Zeug noch heute nicht essen.

    Fast jedes Jahr fuhr Oma Hedwig nach Riccione an die Adria. Alle, die zu dieser Zeit bei ihr waren (wenn Mama mal wieder im Krankenhaus war), kamen dann mit. Ab und zu fuhr sie auch nach Terschelling in die Niederlande. Dorthin nahm sie mich zweimal mit, weil es angeblich gut gegen mein Asthma sein sollte. Auf dem Weg mussten wir dann natürlich bei ihrer Schwester Tante Leni halten. Die hatte in einem Jahr einen kleinen Spatzen gezähmt und führte uns stolz vor, wie er in ihre Hand flog, um die Körner zu picken. Irgendwie wusste ich immer, dass sie einen Vogel hatte. Auf Terschelling war es meistens langweilig. Oft traf sie hier ihre Freundin Anne, die auch auf ihre Enkel aufpasste. Für mich hatte Oma Hedwig nie Süßigkeiten. Daher stiebitzte ich ab und zu eine ihrer Weinbrandbohnen, die sie so gerne aß. Ich knabberte eine Spitze ab, wusch den Weinbrand heraus und naschte dann die Schokoladenhülle. Erwischt hat sich mich dabei nie. Meine Zeit verbrachte ich häufig dort in der Küche. Hier lief das Radio laut und man tanzte und lachte. Das war eher meine Welt.

    In Lübeck traf sich die Jugend nachmittags auf dem Marktplatz mit Blick auf das Rathaus. Dort gab es eine lange Stange, an die man sich lehnen oder sich daraufsetzen konnte. Dann konnte man ganz lässig die Füße auf der unteren Stange abstellen. Ein prima Ersatz für die fehlenden Parkbänke. Hier saßen wir wie die Hühner auf der Stange. Meistens hatten wir dabei möglichst cool einen Glimmstängel in der Hand, wo er regelmäßig verdampfte. Das Zeug schmeckte nicht einmal, aber die Hauptsache war für mich, dass ich dabei war und mitmachte. Warum sollte ich mich auch den überflüssigen Diskussionen stellen, dass ich nicht rauche. Heute sehe ich das natürlich anders, aber damals war ich jung und wollte es wissen. Viele rauchten ihre selbstgedrehten Joints. Die Teens und Twens, wie sie sich jetzt nannten, hatten oft einen Lederbeutel, in dem sie ihr Haschisch verstauten. Natürlich hing so ein Ding auch an meiner viel zu engen Cordhose. Watt mutt, dat mutt! Allerdings verstaute ich dort nur meine Papiertaschentücher. Musste ja niemand wissen. Besonders stolz war ich auf meine erste weinrote Cordhose, die ich mir bei Manchester Große (den Laden gibt es heute noch in der Königstraße) kaufte. Besonders modern war damals, die Hose so eng zu kaufen, dass man sie nur noch im Liegen zubekam. Jedes Mal, wenn der Stoff ausleierte, wurde die Hose einfach enger genäht. Das hatte auf Dauer einen ähnlichen Effekt wie zehn Faceliftings bei einer alternden Hollywood-Diva. Das war mir jedoch egal. Die Hose reichte nur bis zu den Waden, weil unbedingt noch etwas freies Bein zu sehen sein musste, nebst Ringelsocken, die aus den knöchellangen Wildlederstiefeletten hervorguckten. Um diese besagte Hose für 28,00 DM zu erstehen, hatte ich eine Woche lang Totengestecke in einer Gärtnerei hergestellt. In den 90er Jahren tauchten diese Hosen wieder auf und nannten sich Leggins. Alles kommt irgendwann wieder, man muss nur lange genug warten.

    Ich trug zu dieser Zeit kurzes Haar, weil meine Eltern das besser fanden. Einmal fragte mich ein Junge sogar, ob ich Junge oder Mädchen sei. Verdammt, war das peinlich. Am liebsten hätte ich ihm die Antwort in Form einer Ohrfeige gegeben. Ich beschloss zuhause für lange Haare zu kämpfen, so etwas sollte mir nicht noch einmal passieren. Sonntags ab 15: 00 Uhr gingen wir meistens in die Tanzschule Wolgast. Nicht, um tanzen zu lernen, sondern weil dann Tanz Tee war und wir im Schneidersitz hockend unsere Haarpracht zum Takt der Musik schüttelten. Nur gab es bei mir nicht soviel zum Schütteln. Die meisten Jungs hatten längere Haare als ich. Einige Twens bewegten sich tranceähnlich zur Musik als ob sie einen Trip eingeworfen hätten. Schon damals kursierten alle möglichen Drogen und schon damals gab es einige Wracks, die wie Gespenster umherirrten, weil sie zu oft „drauf" gewesen waren. Besonders leid tat es mir um Puma, ein echt netter Kerl, der zu viele Pappen eingeworfen hatte (LSD) und von seinem Trip nie wieder zurück in die Realität fand. Völlig paranoid hockte er bei uns rum. Wehe, Familie Wolgast erwischte irgendwen mit Drogen, dann gab es Hausverbot für alle Zeit. Frau Wolgast war da gnadenlos und ich konnte es sogar verstehen. Um 18: 00 Uhr schloss sie meist und war sichtlich genervt wegen der zerdepperten Gläser. Sie setzte dann die Späthippies vor die Tür. Warum wir auf dem Boden sitzen mussten, um zur Musik zu wackeln, habe ich nie verstanden, aber ich fragte auch nie nach, um mir keine Blöße zu geben.

    Meistens wechselten wir nach der Tanzschule ins Kulmbacher, eine traditionelle Lübecker Altstadt Kneipe. Die adrette Bedienung im schwarzen Kleid mit weißer Spitzenschürze war keineswegs erfreut, wenn sie die Meute anrücken sah. Wir bestellten überwiegend billige, alkoholfreie Getränke und

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