Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Egal was andere sagen
Egal was andere sagen
Egal was andere sagen
eBook258 Seiten3 Stunden

Egal was andere sagen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Erinnern Sie sich noch an Caught in the Act? Die holländische Boygroup stand in den 90er-Jahren ganz oben in der Gunst der Fans. Diese waren fast ausnahmslos Mädchen - undenkbar, dass einer ihrer Idole schwul war. Bis eines Tages "CITA"-Mitglied Eloy de Jong und Boyzone-Sänger Stephen Gately sich öffentlich zu ihrer Liebe bekannten, ein Tabubruch in der strengen Pop-Branche. Heute ist Eloy de Jong einer der erfolgreichsten Sänger in Deutschland, der Millionen von Fans auf seinen Konzerten und Fernsehshows begeistert. Seinen großen Durchbruch schaffte er mit dem Song "Egal was andere sagen", einer Coverversion des Boyzone-Welthits "No Matter What", mit dem er an den inzwischen verstorbenen Gately erinnerte. In seiner Autobiografie erzählt Eloy de Jong seine sehr bewegende Lebensgeschichte, spricht zum ersten Mal ausführlich über eine schwierige Kindheit, bestimmt von Gewalt und Alkoholismus in der Familie, das Leben als heimlich homosexueller Popstar, sein Coming-Out und den schwierigen, aber erfolgreichen Weg in ein glückliches, freies Leben als schwuler Familienvater.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Sept. 2020
ISBN9783841907189
Egal was andere sagen
Autor

Eloy de Jong

Eloy de Jong, geboren 1973 in Den Haag ist ein niederländischer Popsänger. Seine Karriere startete er in den 1990ern mit der gecasteten Boygroup Caught in the Act, die sich 1998 auflösten. 1999 machte er Schlagzeilen als er sich zusammen mit seinem Freund Stephen Gately als homosexuell outete – als erste Mitglieder von Boybands überhaupt.

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Egal was andere sagen

Ähnliche E-Books

Künstler und Musiker für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Egal was andere sagen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Egal was andere sagen - Eloy de Jong

    KEIN BISSCHEN FRIEDEN

    Ba-dumm, ba-dumm, ba-dumm! Mein Herz hämmert so stark, dass ich es bis in die Schläfen spüre. Die Menschenmassen draußen rufen im Chor immer wieder meinen Namen. Ich stehe auf, verlasse die Garderobe und gehe Richtung Bühne. Es fühlt sich an, als ob ich schwebe, ich kann mir selbst dabei zusehen, wie ich durch die Gänge schreite. Dort steht eine Gruppe von Fans, die mir zurufen, sie werden von Sicherheitsleuten im Zaum gehalten, aber ich halte an, gebe ihnen High Fives, Umarmungen und Autogramme. Dann gehe ich weiter, vorbei an dem Leuchtschild, auf dem „Stage" steht, umrahmt von zahllosen Lämpchen. Alles leuchtet. Ich fahre mir durchs Haar, schaue noch einmal an mir herunter, Lederjacke und Jeans sitzen. Und dann bin ich endlich da. Auf der Bühne! Hier bin ich richtig, hier werde ich erwartet. Tausend Arme, in den Himmel gerissen. Die Luft ist voller Jubelschreie. Ich strahle. Enthusiastisch klatsche ich mich mit dem Publikum ein. Dann greife ich fest das Mikrofon in meiner Hand, führe es zu meinem Mund … und höre ein dumpfes Poltern. Ist etwas mit der Bühne? Ist das Mikrofon falsch eingestellt? Es wird lauter und lauter, es zieht mich von der Bühne …

    … und heraus aus meinem Traum. Ich wachte auf. Das Poltern gehörte zu meinem Vater, der die Treppe hochwankte. Und ich war schlagartig wieder der Neunjährige, der in seinem Kinderzimmerbett in dem großen, aber durchschnittlichen Einfamilienhaus in Zoetermeer in Südholland, meiner Heimatstadt, lag. Das mit der Bühne war mein großer Traum, ich träumte nachts sehr oft davon.

    Wir wohnten eine knappe Stunde vom Küstenstädtchen Schevenigen entfernt, weshalb immer viele deutsche Touristen hierherkamen. Ich selbst war kein großer Fan davon, am Strand zu liegen, in der Sonne zu braten und überall Sand zu haben – in den Klamotten, in den Schuhen, in der Badehose. Und dass alles vor Sonnencreme nur so klebte. Das ist eigentlich auch bis heute so. Ich mache lieber im Winter Urlaub am Meer, wenn es draußen so richtig schön stürmisch ist und man sich dick eingemummelt hat. Im Sommer kann man doch auch entspannt am Pool liegen, oder? „Aber alle Kinder spielen gern im Sand!", sagte meine Mutter amüsiert und kopfschüttelnd über meine Strandabneigung und zeigte auf Lucienne, kurz Lu, meine vier Jahre ältere Schwester, die es im Gegensatz zu mir liebte, im Meer zu schwimmen und dann mit ihrem Walkman und ihren Pferde-Comics stundenlang auf dem Strandtuch in der Sonne zu brutzeln. Aber ich war halt nicht wie andere Kinder.

    ZWISCHEN RAMBO UND MADONNA

    Mir reichte mein „Beach-Zimmer". Als ich so elf oder zwölf war, wollte ich unbedingt, dass mein Zimmer aussieht wie eine Ferieninsel, am liebsten mit einer Strandhütte und echtem Sand. Ich bekam immerhin einen gelbbraunen Teppich, eine gelb gestrichene Decke und eine Zimmerpalme. Leider blieb der gewünschte Gute-Laune-Effekt aus, denn ich hatte gleichzeitig so schwere, dunkle Antikmöbel, die dem karibischen Kinderzimmerferientraum etwas im Weg standen. Mein Vater hatte ein Faible dafür, ohne sich je gefragt zu haben, ob Sideboard und Bett aus dunklem Nussholz von anno dazumal wirklich das passende Mobiliar für ein Kinderzimmer waren.

    Ich hatte irgendwann ein Rambo-Poster von ihm bekommen, außerdem ganz viele Tonka-Spielzeugautos: Trucks, Jeeps, Bulldozer, LKW. Echte Jungssachen halt. Ich spielte nie damit. Und das Poster des Actionhelden überklebte ich später mit dem Bild eines wasserstoffblonden Showgirls mit knallroten Lippen: Madonna! Sie war mein Vorbild, nicht Sylvester Stallone, der ein Maschinengewehr und für meinen Geschmack viel zu viele Muskeln trug.

    Unser Haus sah aus, als sollte es auf keinen Fall auffallen: Es war aus sandfarbenem Backstein, hatte ein Flachdach und einen Garten. Es war ein für diese Gegend typisches Drive-in-Heim: Im Erdgeschoss war die Garage, darüber im ersten Stock das Wohnzimmer und die Küche, und darüber dann die Schlafzimmer. Das Haus stand in einer Reihe mit anderen Häusern im Wohngebiet von Zoetermeer, eine öde Konkurrenz in Sachen Unauffälligkeit. Unser Garten mit Blumen in allen Farben war dafür umso mehr der Stolz meiner Mutter Petronella beziehungsweise Nel, wie sie alle nennen.

    Tag für Tag fiel mir hier die Decke auf den Kopf. Nach dem Aufwachen aus meinem Popstar-Traum, den ich oft so oder so ähnlich hatte, wurde mir auf schmerzliche Weise klar, dass um mich herum gar nichts so glänzte und leuchtete wie die Scheinwerfer und das Rampenlicht.

    Versteh mich nicht falsch: Von außen betrachtet hatten Lu und ich alles. Ich durfte einen eigenen Fernseher mit Videorekorder auf dem Zimmer haben, hatte alle möglichen Spielsachen und Bücher, ich bekam sogar mit acht Jahren ein eigenes Pony, Snoopy, mit einer Kutsche und später ein Pferd. Mehr als das: Lu und ich bekamen gleich einen ganzen Stall voll! „Ihr wollt ein Pferd?, sagte mein Vater zu meiner Schwester und mir, als wir von nichts anderem mehr redeten. „Bitte sehr! Er kaufte erst eins, dann noch eins, bis es fünf waren. Eine ganze Herde, nur für uns. Weil er es konnte. Warum, werde ich gleich noch erklären. Ich erinnere mich, dass ich Snoopy einmal mitsamt Kutsche bei uns zu Hause im Garten geparkt hatte, weil er mit seinen kleinen, kurzen Beinen den Rückweg nicht gepackt hätte, der Stall war einfach zu weit entfernt. Morgens hatte er dann sämtliche der heiß geliebten und akribisch gepflegten Blumen meiner Mutter weggefuttert. Ich glaube, das war das erste und einzige Mal, dass meine Mutter mich angefahren hat … Ansonsten war sie für mich wie ein Engel.

    Insgesamt sehe ich meine Kindheit trotz mancher schönen Erinnerung rückblickend eher in einem matten, tristen Grau – sie läuft vor meinem inneren Auge wie ein Schwarz-Weiß-Film ab. Es klingt abstrakt für mich, wenn Freunde mir manchmal erzählen, sie wüssten noch, wie sie mit zwei Jahren im ersten Urlaub waren oder mit vier Bambi im Kino gesehen haben. Meine Kindheitserinnerungen setzen viel später ein … „Kannst du dich denn wirklich an gar nichts Schönes erinnern?", hat mich meine Mutter oft gefragt. Klar, es gibt kleine Splitter oder Fragmente, zum Beispiel wie ich mit Lu spiele oder wir bei den Pferden sind. Aber so lange ich auch überlege, ich muss ihre Frage verneinen – und das lag nicht nur, aber hauptsächlich an meinem Vater …

    WEIT WEG VOM REGENBOGEN

    Ich kann mich an keinen Abend in meiner Familie erinnern, an dem mein Vater nicht trank. Nein, ich möchte es so sagen, wie es war: an dem mein Vater nicht sturzbesoffen war. Er trank meistens Genever, so einen abartigen 35%igen Wacholderschnaps aus Belgien. Schon wenn ich mir heute nur vorstelle, wie das Zeug roch, wie er roch, wird mir übel. Ohne anzuklopfen, kam er oft abends in mein Zimmer, wenn ich noch Comichefte durchblätterte, um wortlos das Licht auszuschalten oder mich anzufahren. Es gab auch Abende, wo er unten den Stecker zog, sodass ich plötzlich nur noch Schnee auf meinem Fernseher sah. Er war willkürlich und unberechenbar mit uns Kindern.

    Sein Vorname, Prospèr, passte ziemlich gut: Er bedeutet so viel wie „glücklich und „erwünscht, aber auch „gedeihen und „Erfolg haben – und erfolgreich war mein Vater: Er arbeitete tagsüber selbstständig als „Businessman", wie er es nannte, und hatte ein Händchen für Geldgeschäfte, die ihn schon immer über die Maßen interessiert hatten. Einmal kaufte er zum Beispiel 30 000 alte Telefone aus einem Bestand auf und verscherbelte sie anschließend wieder. Er machte dabei einen riesengroßen Gewinn, auf den er mehr als stolz war. Er sah auch stattlich und attraktiv aus, meiner Mutter gegenüber konnte er früher sogar ein Charmeur sein, wie sie uns erzählte. Innerlich war er aber ziemlich verbittert – und er kleidete sich wie jemand, der kaum Geld hat, obwohl er so viel verdiente. Er wollte das so, das war seine Art von Understatement. Alles, was auch nur den Hauch von Mondänität mit sich brachte, lehnte er strikt ab. Sich selbst gönnte er so gut wie nichts.

    Er verachtete Banken und glaubte nicht an sie, deshalb trug er immer ein dickes Bündel mit Geldscheinen in der Hosentasche spazieren, um uns und allen anderen in jeder Situation demonstrieren zu können, wie wohlhabend er war. Jedes halbe Jahr hatten wir ein neues Auto vor der Haustür. „Wenn das hier dreckig ist, dann kaufen wir uns ein neues", sagte er jedes Mal überstolz, nachdem er schon wieder ein neues erworben hatte. Und das war gar nicht mal so übertrieben …

    Er spielte manchmal eine Art Geldbingo mit uns, das waren so seine kleinen, schrägen Spielchen. Bei einem sollten wir uns zwischen zwei Geldscheinen entscheiden – sowohl die Fünf- als auch die Tausend-Gulden-Note waren früher beide grün und daher zusammengefaltet nicht zu unterscheiden. „Welche willst du, welche willst du?!, fragte er dann ungeduldig. „Du musst dir eine aussuchen! Ich konnte damit nichts anfangen, zu gewinnen gab es für uns bei dem Spiel nichts, aber es ging ihm offenbar darum, uns einen ebenso großen Sinn fürs Geschäftliche anzuerziehen, wie er selbst ihn hatte.

    Er hatte wirklich ein ambivalentes Verhältnis zu Geld: Einerseits häufte er Besitztümer an, gleichzeitig machte er anderen vor, dass er ein armer Schlucker war. Er hortete auch Unmengen an Konservenbüchsen, als hätte jede Sekunde der Dritte Weltkrieg losbrechen können. Auch wenn er selbst nicht gekämpft hatte, hatte er den Zweiten Weltkrieg doch miterlebt und wusste, was Armut bedeutet. Er war der typische Mann aus dieser Vätergeneration, der nicht nur nicht über seine Gefühle sprach, sondern sie unterdrückte, weil er damit nicht umgehen konnte. Weil er selbst von seinen Eltern keine Liebe erfahren hatte. Aber damals, als Kind, war ich Lichtjahre davon entfernt, sein Verhalten zu verstehen.

    Einmal hatte ich mit meiner Schwester bei einem Gesangswettbewerb in einem Einkaufszentrum mitgemacht und alle Kinder hatten fürs Mitmachen eine Schallplatte mit dem holländischen Grand-Prix-Beitrag von Linda Williams bekommen, Het is een wonder. Ich liebte das Lied und wollte die Platte unbedingt am nächsten Tag mit in die Schule nehmen. Mein Vater schüttelte nur den Kopf und sagte: „Da geht sie nur kaputt. Als ich nicht lockerließ, riss er mir die Platte aus der Hand und zerbrach sie vor meinen Augen. „Jetzt ist sie kaputt. Nun kannst du sie nicht mehr mitnehmen. So war das mit ihm: Wenn ich etwas wirklich haben wollte oder mir etwas lieb und teuer war, dann verweigerte er es mir oder zerstörte es.

    Er liebte es auch, mich in der Öffentlichkeit zu drangsalieren. „Los, geh zu dem Mann da, befahl mein Vater gern aus heiterem Himmel, wenn wir auf dem Markt waren, und zeigte auf einen Pfannkuchenstand. Sofort schaltete er von neutral auf dominant um. „Geh sofort dahin und sag dem Verkäufer, dass du kein Geld hast und später bezahlst. Ich schämte mich abgrundtief. Doch mein Vater duldete keinen Widerspruch. Ich ging also mit meinen vielleicht sieben Jahren zu dem fremden Mann und überwand mich, ihm zu sagen, dass ich von ihm einen Pfannkuchen haben wollte, ohne dafür zu zahlen. Solche Schikanen passierten mir mit meinem Vater oft. Ich war dabei jedes Mal so unsicher und ängstlich, dass ich entweder ausgelacht wurde oder aus Mitleid wirklich etwas bekam, ohne dafür zu bezahlen. Was mir aber jedes Mal sicher war: der Spott und das Kopfschütteln meines Vaters – ich konnte es ihm nicht recht machen, ganz gleich, was ich tat. Heute weiß ich, dass er mich lehren wollte, für mich einzustehen und selbstbewusst zu sein. Seine Methoden bleiben natürlich mehr als fragwürdig …

    Wir waren mal in einem Laden, um einen Pullover für mich zu kaufen. „Der hier ist gut für dich!, entschied mein Vater über ein dunkelblaues Sweatshirt. Ich wollte lieber einen anderen Pullover, aber ich wusste schon, dass er keinen Widerspruch dulden würde, wenn man etwas gegen seinen Willen setzte. Ich wusste: Wenn ich einen anderen möchte, ist er zu Tode beleidigt und verlässt den Laden mit wehenden Fahnen – ohne etwas zu kaufen. Also widersprach ich nicht. Praktisch wie er war, kaufte er mir den Pulli auch noch in allen weiteren vorhandenen Farben. „Dann reicht es erst mal für die nächsten Jahre, sagte er stolz. Zum Glück kaufte meine Mutter mir die Sachen, die ich wollte, so hatte ich in meinem Kleiderschrank die nächsten Monate immerhin die Auswahl aus einem kompletten Regenbogen …

    Als Kind fiel mir nicht auf, wie dominant das Verhalten meines Vaters war. Aber wenn ich das Geld und die materielle Fülle aus meiner Kindheit gegen seine Zuneigung und sein Interesse hätte tauschen können, hätte ich es sofort getan.

    Ich glaube, mein Vater handelte oft aus Unsicherheit heraus. Einmal fragte er mich, als wir allein zu Hause waren, aus heiterem Himmel und bestimmt fünf-, sechsmal hintereinander: „Wen liebst du mehr, deine Mutter oder mich?" Ich sagte ihm nicht die Wahrheit – dass es natürlich sie war, die ich viel mehr und über alles liebte, während ich mir ihn heimlich wegwünschte, weil ich ihn und sein Verhalten von Herzen verabscheute. Ohne ihn, so stellte ich es mir vor, wäre alles harmonisch und schön in meiner Familie: mit Mama, Lucienne und mir.

    Ich denke heute, dass mein Vater spürte, dass wir drei eine Einheit gegen ihn bildeten und er deshalb einfach nur Macht ausüben wollte. Nein, ich denke, es war umgekehrt: Wir hatten uns zu einer Einheit formiert, weil er so war. „Da kommt ja wieder unsere Dreieinigkeit", nannte er uns immer abfällig. Geschlagen hat er keinen von uns jemals, aber ich hatte trotzdem wahnsinnige Angst vor seinem Jähzorn und seiner Unberechenbarkeit. Und vor seinen schlimmen Worten. Die waren wie Prügel.

    Wenn er getrunken hatte, stank mein Vater. Und er bekam ziemlich bald das Bedürfnis, herumzuschreien. Er schrie, weil ich noch nicht im Bett war, er schrie, weil ich zu laut gespielt hatte, oder er schrie einfach so. Vielleicht, weil ich atmete? Er wünschte uns Krankheiten an den Hals und beschimpfte mich, Lucienne und meine Mutter mit den widerlichsten Worten. Ich habe sie mir selbst für immer verboten und ich möchte sie dir an dieser Stelle ersparen.

    Ich wartete und hoffte immer nur, dass er bitte endlich auf dem Sofa einschlafen möge, damit wir unsere Ruhe hatten. Wenn es endlich so weit war, liefen wir auf Zehenspitzen durchs Haus und versuchten, keinen Mucks zu machen, um ihn nicht aufzuwecken und diese herrliche Ruhe zu zerstören. Ich weiß noch, dass ich einmal Pommes mit Erdnusssoße für uns holen durfte. Wir drei aßen zusammen und nebenan schnarchte der Alte auf der Couch …

    Morgens konnte er sich niemals an sein Verhalten vom vorigen Abend erinnern – er erinnerte sich grundsätzlich nie an seine Ausraster. Einmal nahm ich sein Gezeter mit einem Tonbandgerät auf, um es ihm später als Beweis vorzuspielen, aber ich traute mich nicht, aus Angst vor dem Donnerwetter.

    Wenn ich heute alte Fotos anschaue, stolpere ich manchmal über ein Bild, auf dem er mich auf dem Schoß hat. Und das fühlt sich unwirklich an, wie eine Fotomontage. Er hat nie, wirklich nie gesagt, dass er mich liebt, dass ich ihm etwas bedeute, oder auch nur, dass er mich auf irgendeine Weise mag. Ich fragte mich schon als kleines Kind, wieso er eigentlich eine Familie haben wollte. Wir haben nicht miteinander gespielt, er fragte nie, wie der Tag im Kindergarten oder in der Schule gewesen war. „Doch, natürlich hat er euch geliebt, hat mir meine Mutter einmal erklärt. „Aber als ihr anfingt, einen eigenen Willen zu entwickeln und eigenständige Persönlichkeiten zu werden, hatte er ein Problem damit. Das war zu viel für ihn.

    Ich kann mich daran erinnern, wie er mir das Fahrradfahren beibrachte: Er lief hinter mir her und schob mich an, bis ich von selbst fuhr und für einen kurzen Moment dachte, dass ich fliege. Da blitzt dann kurz so etwas wie eine schöne Erinnerung an ihn auf. Wie eine kleine kolorierte Stelle mitten im tristen Schwarz-Weiß-Film meiner Kindheit.

    MEINE ERSTE GROSSE LIEBE: MAMA

    Als ich vier und meine Schwester Lu acht Jahre alt war, war bei ihr eine schwere Form von Diabetes diagnostiziert worden. Das ist dann doch eine sehr frühe Kindheitserinnerung von mir: Ich erinnere mich noch genau an die dramatische Stimmung bei uns im Haus, meine Mutter und auch mein Vater waren krank vor Sorge, ich weiß noch, wie meine Mutter nicht wieder aufhören konnte zu weinen. Ab sofort musste das Essen von Lucienne peinlich genau abgewogen werden. Und die Spritzen für das Insulin, das sie jeden Tag brauchte, mussten damals noch abgekocht werden. Die meisten Sorgen in unserer Familie waren ab diesem Zeitpunkt auf Lucienne gerichtet. „Wenn ich sie gesund machen könnte, würde ich alles dafür tun, sagte mein Vater oft. „Und wenn es alles Geld auf der Welt kosten würde.

    Obwohl sie meine ältere Schwester war, fühlte ich mich deswegen schon jung wie ein Beschützer für Lucienne. Aber ich glaube, dass das umgekehrt auch so wahr. Wir spielten oft miteinander und ahnten schon sehr früh, dass es wohl besser wäre, wenn wir zusammenhalten. Lu versuchte immer, soweit es ging, eine Fantasiewelt für uns zu erschaffen, in der es keinen betrunkenen Vater gab, wo wir nicht angeschrien wurden und wo Harmonie herrschte. Sie hatte eine Puppe mit blauen Augen und blonden Locken, Madeleine. Wir konnten uns stundenlang damit

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1