Is doch keene Frage nich: Erinnerungen eines Schauspielers
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Buchvorschau
Is doch keene Frage nich - Ernst-Georg Schwill
Impressum
ISBN eBook 978-3-360-50091-5
ISBN Print 978-3-360-01952-3
© 2015 (2008) Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Sandra Bergemann
Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin
erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de
Die Fotos stammen aus dem Privatarchiv des Autors.
Ernst-Georg Schwill
Is doch keene
Frage nich
Erinnerungen eines Schauspielers
Mit einem Nachwort von Wilfried Pröger
Das Neue Berlin
Es war ein grauer Novembertag, glaube ich, oder war es ein sonniger Maitag? Wir hatten gerade einen neuen Leichenfund im Köpenicker Forst zu drehen gehabt und noch das Laub und den Modder an den Detektivschuhen kleben, als mich Dominic Raacke beim Mittagessen im Catering-Hänger fragte: »Sag mal, Ernste, du bist doch einer aus dem tiefsten Osten. Wie war das denn so bei euch?«
Ich, der Milieu-Ossi in der Tatortreihe bei ARD, zog die Stirn kraus. Was sollte ich Urberliner da sagen. Nicht nur kannte Raacke den Osten nicht, er war ja noch nicht mal aus Berlin, wo also beginnen! In drei Sätzen zwischen Minestrone und Kasslerkotelett! Beim Schmatzen und Plappern der Techniker und Komparsen, die sich durch ihre Drehpause lümmelten. Is doch keene Sache nich!
Ich hab dann ein bisschen länger nachgedacht, wie sich das für einen verlässlichen Mitarbeiter des Kriminalkommissariats und des Filmteams gehört. Jetzt bin ich fertig damit und fange am besten mal ganz von vorn an. Und zwar ganz tief im Osten, wie das in Raackes Frage formuliert war.
Kinderzeit
Wer nie sein Brot mit Tränen aß
Ich musste als Kind immer bei meiner großen Schwester schlafen, in einer kleinen Stube. Meine Mutter und die drei anderen Geschwister schnarchten im Wohn-Schlafzimmer. Hunger hatten wir im Krieg oft, besonders abends.
Meistens ging das so: Meine Mutter sagte zu mir, hier haste ’ne Stulle, nu geh ins Bett, da isst du nicht so schnell. Manchmal hab ich meine Stulle zweimal gegessen, im Dunkeln, damit es keiner sieht. Das war das beste Mittel gegen den ständigen Hunger. Ich kaute Biss für Biss durch und legte jeden Bissen in meine Hand. Beim ersten Durchkauen gingen die Signale vom Magen ans Gehirn – jetzt kommt was. Den durchgekauten Happen aus meiner kleinen Hand hab ich dann zum zweiten Mal gegessen, das war ein wonniges Gefühl. Ich hab unbewusst meinen Magen und mein Gehirn beschissen. Und so wurde ich manchmal satt.
Bei fünf Gören, zwei Mädchen und drei Jungs, hatte meine Mutter jeden Tag die Sorge, wie kriege ich die Bande bloß satt, drei oder vier große Kartoffeln reichten nicht für alle. Da wurden eben drei Liter Wasser aufgesetzt und zum Kochen gebracht. Die rohen Kartoffeln wurden ins Wasser gerieben, eine Prise Salz dazu, bis das Wasser trübe wurde, so als würde man einen Schuss Milch ins Wasser kippen. Das ganze nannte sich Funzelsuppe. Und wenn wir mal reich waren, gab es noch eine Süßstoffpille dazu.
Einmal gab es Kartoffelsuppe mit Wurst – also ein Leckerbissen dabei. Ich hatte einen Bock, weil die Suppe so plörrig war. Ich wollte und wollte sie nicht essen. Meine Mutter drohte mir, die Wurst wegzunehmen, wenn ich nicht esse, bockig wie ich war. Ihr müssen die Haare zu Berge gestanden haben, bei meinem unwilligen Herumrühren in der Suppe. Nee, ich blieb bei meiner Meinung, die Suppe war zu dünne. Und schwupp – weg war die Wurscht. Ick heulte. Meine Mutter: Du bleibst so lange sitzen, bis die Suppe dick ist! Die Suppe wurde tatsächlich langsam dick, ich musste sie essen ohne Wurst und nun war sie aber auch noch kalt. Nee, wat ick da jeheult habe!
Ich als Puppe
In dem Berliner Haus, in dem wir wohnten, Zehdenicker Straße 16, lebten viele Kinder. Allein bei uns Schwills waren es fünf. Rechne ich linken und rechten Seitenflügel und hinten das Quergebäude dazu, müssen wir so um die zwanzig Kinder gewesen sein. Über das Vorderhaus mit seiner Beletage weiß ich eigentlich gar nichts, das war für uns tabu. Da wohnten die Vornehmen, die Reichen, die wollten mit dem gemeinen Volk vom Hinterhof nichts zu tun haben. So stellte sich das damals für mich dar.
Von der Hoftür aus gesehen, schien die Sonne gegen zehn Uhr von links über die Schulhofmauer auf das hintere Ende vom rechten Seitenflügel in die Fenster meiner Oma Hildebrand, die eine Anderthalbzimmerwohnung im Keller hatte, direkt neben uns. Wenn die Sonne im Sommer immer höher stieg, hatten wir gegen zwölf direkte Einstrahlung über dem Quergebäude, mitten auf unseren Hof. Bei uns reichte die Sonne bloß bis in die Küche und das auch nur ganz schräg.
Wenn es schön warm war, holten die Mädels ihre Puppenwagen raus, legten Decken und Kissen von innen gegen die Hoftür und spielten Essen-Trinken-Schlafengehen. Die Puppen waren je nach Geldbeutel der Eltern sehr unterschiedlich, meist waren es Stoffpuppen, einige auch selbst genäht. Aber es gab auch welche aus Zelluloid. Man konnte an ihnen Arme, Beine und den Kopf bewegen – aber sie waren alle stumm. Was die Puppen sagen oder tun sollten, bestimmten die Puppenmuttis.
Ich stand an so einem Sonnentag neben der Haustür, die zu unserer Kellerwohnung führte, und sah zu, wie die Mädels dort spielten. Da ich aber von meinem Standpunkt aus nicht so gut sehen konnte, was die Puppenmuttis machten, wenn sie sich auf Knien über ihre Puppen beugten, ging ich langsam näher. Es dauerte nicht lange und schwupp!, lag auch ich auf einer dieser Decken, wurde gewaschen, gefüttert, getränkt und gekitzelt. Mit ihren Fingern bewegten die Mädels meine Unterlippe, und ich musste blubb, blubb, blubb machen. Ich ließ mir das gern gefallen. Die Mädchen lachten und freuten sich, hatten sie doch endlich ein lebendiges Spielzeug, das sogar beim Kitzeln lachte.
Wenn aus den Fenstern der Ruf erscholl: Komm hoch, Mittagessen!, dann wurde ganz schnell gepackt und ab ging es. Zurück blieben die Mädchen, die nicht gerufen wurden. Sie schauten zu ihren Fenstern, ob nicht auch sie zum Essen gewunken würden. Aber manchmal gab es nichts zu essen.
Wettlauf zum Gashahn
Es gab mehrere Faktoren, die für unseren ewigen Hunger zuständig waren: mal keine Nährmittel, mal kein Kleingeld. Manchmal blieben wir hungrig, weil wir das Gas nicht bezahlen konnten. Damals gab es Gasuhren, da musste man Geldstücke einwerfen. Erst dann strömte das Gas und man konnte kochen. Das Kleingeld war bei uns meist knapp, das große sowieso.
Also haben wir eines Tages die Plombe von der Gasuhr abgemacht und die kleinen Geldstücke aus dem Geldauffangbehälter rausgefischt und zum Nachfüttern der Gasuhr benutzt. Wurde beim Kochen die Gasflamme kleiner und kleiner, musste einer ganz schnell zur Gasuhr flitzen, ein oder zwei Groschen reinstecken und so eine Art Flügelmutter drehen. Dann hörte man das Geld in den Geldauffangbehälter fallen und das Gas strömte wieder.
Ich weiß nicht mehr, wie viel Kleingeld sich im Geldauffangbehälter befand, bevor wir die Plombe lösten, aber da bei uns meistens Ebbe in der Kasse herrschte, verschwanden bald die Markstücke und Fuffziger. Es blieben nur drei Groschen übrig. Und die lagen gleich auf der Gasuhr neben dem Einwurfschlitz. Jedes Mal, wenn einer übern Flur ging, kam er an der Gasuhr vorbei und konnte überprüfen, ob die drei Münzen noch da waren.
Und wenn Mutter kochte, stand einer von uns gleich dort, um die drei Groschen immer wieder nachzufüllen – damit die Flamme hielt. Zum Glück bekamen wir nie eine Kontrolle der Gasversorgung auf den Hals.
Affentanz im Hinterhof
Das Wort Quergebäude ist für mich nur die vornehmere Umschreibung von Hinterhaus. Vom Hoftor aus gesehen hatten wir am Ende des linken Seitenflügels eine Ausbuchtung von fünf mal fünfzehn Metern, der Platz für die Mülltonnen an der Schulhofmauer, und dann kam das Hinterhaus. Dort stand unser Lindenbaum und auf der Baumscheibe gruben wir unsere Murmellöcher. Im Sommer, wenn es sehr heiß war, wurde der Baum gegossen, und wir waren stinksauer, weil das unsere Murmellöcher wegspülte. Dann gab es nur noch Eierpampe. Aber nach ein bis zwei Stunden ging es wieder. Mit dem Knie oder dem Hacken formten wir uns neue Löcher. Es konnte wieder gemurmelt werden.
Bei uns war Leben in der Bude, also auf dem Hof. Es wurde auch gerollert, Hopse gespielt, Seil gesprungen und manchmal sogar etwas vorgelesen. Wir spielten Verstecken oder Einkriegezeck: Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein, neben, über, hinter mir, ich zähle bis zehn. Derjenige, der suchen musste, legte die Hände wie Scheuklappen an die Augen und durfte nicht schmulen. Dann ging er auf die Suche nach den Versteckten. Hatte er einen entdeckt, rannte er schnell zurück zu der Stelle, wo er den Vers aufgesagt hatte und rief: Anschlag Klaus! Je nachdem. Konnte der Entdeckte schneller rennen als der Sucher und schlug zuerst an, rief er: Erlöst!
Schön war auch, wenn der Leierkastenmann auf unseren Hof kam. Es gab sogar zwei, einen, der nur seinen Leierkasten drehte, und einen anderen mit einem kleinen Affen auf dem Kasten. Das war für uns eine Sensation. Auf dem Rücken trug der Mann eine große Pauke. Den Schlegel hatte er am linken Unterarm festgebunden. Oben auf der Pauke schepperten zwei Metallbecken, bewegt von einer Strippe, die durch die Pauke führte und an seinem Hacken befestigt war. Beim Spielen stand der Musikant auf dem einen Bein. Mit dem anderen schlug er den Takt, wenn er seine Melodien leierte. Auf seinem Kopf trug er zudem einen kleinen Schellenbaum. Der ganze Kerl war in Bewegung. Sein Affe rannte auf dem Kasten hin und her und machte Grimassen.
Dieses Schauspiel war zum Piepen. Die Leute guckten aus den Fenstern, hörten sich die Lieder an und warfen in Zeitungspapier eingewickelte Münzen hinunter. Wir rannten auf dem Hof herum, hoben die Päckchen auf und brachten sie dem Affen. Der wickelte die Münzen aus, warf das Papier zu Boden und reichte die Beute seinem Herrchen. Wenn es ein Keks war, steckte er ihn schnell in seinen kleinen Mund. Betteln, Hausieren und Musizieren verboten – dieses Schild gab es bei uns nicht.
Die Pumpe vor dem Tore
Neben unserer Haustür in der Zehdenicker Straße stand eine große Wasserpumpe aus Gusseisen, eine wahre Augenweide. Die Ausflusstülle war einem Drachenkopf nachgestaltet. Der Pumpenschwengel lief am Griffende abgeflacht in Form eines Augenumrisses aus. Für uns Kinder galt das als ein ideales Klettergerät.
Um Wasser aus der Pumpe zu kriegen, mussten wir Kleinen uns an dieses Auge hängen, um den Schwengel unter großen Anstrengungen nach unten zu ziehen. Der Hub der Förderstange war allerdings nicht sehr groß und so kam nur wenig Wasser aus dem Drachenkopf. Jeder brauchte viel Wasser – zum Spritzen, zum Trinken, zum Füßewaschen – aber pumpen wollte keiner. Streit zwischen den kleinen und den großen Kindern war also vorprogrammiert. Die Großen wollten, dass die Kleinen pumpen, das ist wohl immer so.
Auch mir, ich gehörte zu den Kleinen, ist es passiert, dass ich für einen der großen Jungs pumpte und zum Schluss ohne einen Tropfen Wasser dastand, um mich abzukühlen, weil der seinen Teil der Vereinbarung nicht eingehalten hatte.
Im Funkenregen
Während des Krieges, nach einem Bombenangriff, als die Wasserleitungen zerstört waren, war diese Pumpe die einzige Wasserquelle für viele Haushalte. Dort traf sich die ganze Nachbarschaft. Man war damals immer froh und zufrieden, erst einmal mit dem Leben davongekommen zu sein.
Neben unserem Haus stand ein prächtiger Schulbau aus roten Klinkersteinen, abgesetzt mit gelben Klinkerstreifen. Er sah amtlich, fast bedrohlich aus, ähnelte eher einem Industriebau. Heute ist die Schule verputzt. Der Schulhof war groß, hinten rechts in der Ecke befand sich eine Turnhalle, seitlich davon die Toiletten und die Mauer, die den Schulhof gegen den Hof unseres Hauses abgrenzte. Bäume gab es viele auf dem Schulgelände. Es waren alles Linden, wie die auf unserem Hof.
Auf dem Schulgelände befand sich während des Krieges der Zugang zu unserem Luftschutzkeller. In die Schulhofmauer war ein Durchbruch geschlagen worden, damit wir beim Fliegerangriff schnell dorthin flitzen konnten. Da wir Kleinen erst aus den Betten geholt werden mussten, wenn die Sirenen den Flieger- oder Bombenangriff ankündigten, gab es stets Geplärre: Anziehen, die gepackte Tasche greifen – raus.
Wenn die Schwill’n also mit ihren fünf Gören übern Hof rannte, war Matthäi am Letzten, schnell durch die Mauer, noch fünf Meter, dann eine steile Treppe runter, durch die Waschküche, vorbei an dem Herd und dem großen Waschkessel, durch einen dunklen Gang zum Luftschutzkeller. An den Wänden standen schmale Holzbänke. Erst wenn wir alle zur Ruhe gekommen waren und die Erwachsenen die ersten Flieger hörten, wurde es ganz still. Man wollte hören, wo die Bomben herunterkamen, dann wurde kurz gequasselt, dann wieder Stille und lauschen. Alle warteten auf die Entwarnungssirene, jeder von den Erwachsenen wollte wissen, ob am Haus etwas kaputt war. Wenn nicht, war es gut, wenn etwas brannte, mussten zwei aus jeder Familie mit Eimern raus, eine Eimerkette bilden und beim Löschen helfen.
Manchmal gab es für die Helfer der Brandlöscher anschließend noch ein paar Stullen. Hin und wieder dachte ich, hoffentlich brennt es noch häufiger, dann kriege ich auch mal von den Stullen ab. Schlimmer noch: Einmal nach der Entwarnung liefen wir über den Hof und ein Funkenregen sprühte auf unsere Köpfe herab. Ich dachte, das ist ein schönes Feuerwerk. Dabei brannte der Dachstuhl.
Eine Art Selbstbedienung
Zu unserem Haus gehörten zwei Kellergeschäfte. Rechts ein Gemüseladen mit einem kleinen Anteil an Lebensmitteln, Bier, Kohlenanzünder, Streichhölzern und natürlich Süßigkeiten. Frau Zimmermann war immer die jute Seele von’t Jeschäft. Frau Zimmermanns Laden lag uns näher am Herzen, ich meine am Magen, als das Geschäft vom Schuhmachermeister Dollfuß auf der linken Seite.
Wir konnten nicht immer gleich zahlen und sie führte ein Heft, wo sie einschrieb, wie viel Schulden man bei ihr hatte. Diese Schulden wurden beglichen, wenn man mal wieder zu Geld kam.
Über Mittag, von eins bis drei Uhr, hatte sie geschlossen. Wenn Kartoffeln geliefert wurden und die Fahrer oder Kutscher nicht warten wollten, bis sie wieder aufmachte, wurden die Kiepen oder Säcke hinten auf dem Hof abgeladen. Dort hatte die Zimmermann’sche das Fenster ihres Lagers. Gleich neben diesem Fenster befand sich unsere Wohnung – was lag da näher, als eine Art Selbstbedienung? Sonst nennt man das wohl Klauen. Heute noch, nach mehr als sechzig Jahren, schäme ich mich ein bisschen dafür. Ein bisschen.
Immer die Kohle im Blick
Eine kalte Bude war damals für die Berliner, sofern sie überhaupt ein Dach überm Kopf hatten, eines der größten Probleme. Uns fehlte das Geld, um Brennmaterial zu kaufen. Zu einer Zeit, als die Schule noch mit Kohlen beliefert wurde, hatten wir schon lange keine mehr.
Wir achteten immer darauf, ob der Heizer der Schule alleine war. Hatte er keine Helfer, war das unsere Chance. Er schippte Kohlen, bis die Kellerluke voll war. Dann musste er hinunter in den Kohlenkeller, um die Luke freizuschaufeln. Es