Damals in Flensburg: Erinnerungen aus der Nachkriegszeit
Von Jan-Uwe Thoms
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Buchvorschau
Damals in Flensburg - Jan-Uwe Thoms
ISBN 978-3-89876-831-3
(Vollständige E-Book-Version des 2014 im Husum Verlag erschienenen Originalwerkes mit der ISBN 978-3-89876-728-6)
Umschlaggestaltung: Flensburg, Große Straße (Postkarte um 1920)
© 2016 by Husum Druck- und Verlagsgesellschaft mbH u. Co. KG, Husum
Gesamtherstellung: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft
Postfach 1480, D-25804 Husum – www.verlagsgruppe.de
Vorwort
Nichts ist so trügerisch wie die Erinnerung. Sie verändert sich im Laufe des Lebens und manchmal ist sie sogar komplett ausgelöscht. Deshalb kann Erinnerung auch nicht objektiv sein. Erinnerung ist immer subjektiv. Sie ist die Summe dessen, was ich noch von der Vergangenheit weiß, keine wissenschaftliche Abhandlung. Manchmal sind es nur Bruchstücke, die sich zu einer Geschichte zusammenfassen lassen. Manchmal sind es Bilder, die sich in eine Geschichte wandeln. Und manchmal sind es Gespräche mit anderen, die dabei waren … und doch erinnert sich jeder an verschiedene Details.
Was ich hier erzähle, erhebt weder den Anspruch auf eine objektive Berichterstattung noch auf die Schilderung historisch exakter Abläufe. Meine einzige Quelle ist ganz bewusst ausschließlich meine Erinnerung, so fehlerhaft sie auch sein mag. Ob die Waggons der Flensburger Straßenbahn nun 1952 oder 1953 mit Schiebetüren ausgestattet wurden, ist für einen Stadthistoriker sicher von besonderer Bedeutung. Meine Erinnerung daran ist die Bedeutung dieser Veränderung für mich: Mir wurde das Schwarzfahren erschwert, da ich nun beim Anfahren der Straßenbahn nicht mehr auf eine offene Plattform aufspringen konnte – egal ob mit acht oder neun Jahren.
So wie ich es schildere, habe ich meine Kindheit in Flensburg in Erinnerung, in der Nachkriegszeit und in den 1950er-Jahren.
Jan-Uwe Thoms
Ladelund, 2014
Damals in Flensburg
Das Haus, in dem ich am 20. Juli 1944 geboren wurde, steht nicht mehr. Es musste einem Neubau weichen. Die alte Bausubstanz sei nicht erhaltenswert gewesen und der Neubau brachte den Besitzern mehr Geld. Dennoch erinnere ich mich gern an das kleine Fischerhaus mit der dicken Linde dahinter. Hühner liefen frei im Hof und hinter einer schmutzig-weißen Brettertür grunzten zwei fette Schweine.
Ich habe zwar keine eigene Erinnerung an die Zeit, in der meine Mutter und ich in der Flensburger Waitzstraße lebten – aber später hat sie mir das Haus gezeigt und ich bin als Kind oft dorthin gegangen. Irgendwie faszinierte mich der Gedanke, hier geboren worden zu sein. Wenn ich einmal erwachsen wäre, würde ich es kaufen und darin wohnen wollen. Das Haus steht nicht mehr und auch die Linde ist gefällt. Nichts erinnert mehr an die Treppenstufen, auf denen meine Mutter im Schock des Attentats auf ihren „geliebten Führer Adolf Hitler" ihren Sohn als Sturzgeburt zur Welt brachte.
Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, steht noch. Ein hässliches, viergeschossiges Mietshaus in der Marienstraße mit einem Haupt- und einem noch hässlicheren Hinterhaus. Dunkle Flure im Haupthaus und finstere Kellergewölbe im Hinterhaus machten mir Angst. Das Hinterhaus beflügelte meine Fantasie und im fensterlosen Keller vermutete ich die Hexen, Geister und Unholde, von denen Oma Henningsen mir so oft aus einem alten und zerfledderten Märchenbuch vorlas. Meine Angst wuchs ins Unermessliche, wenn mein aus dem Krieg zurückgekehrter Vater mir androhte, mich in den Keller einzusperren. Und die Hölle war es für mich, wenn er es dann wirklich tat. Ich hatte Rüben geklaut, war stundenlang mit den älteren Nachbarsöhnen Holger und Rolf von zu Hause fort gewesen. Rolf und Holger waren sechs und sieben Jahre alt, ich „schon fast fünf. Drei Rüben konnte ich tragen. Die beiden „Großen
schafften ein paar mehr von einem Acker an der Marienhölzung bis in die Marienstraße.
Stolz präsentierte ich meinen Eltern die Beute, von der wir uns sicher zwei Tage satt essen konnten. Wie ungerecht, dass ich dafür in den Keller musste – aber der Duft der gekochten Rüben kroch bis in mein Verlies.
Wir haben häufig Hunger gehabt in der Zeit nach dem Krieg in der Marienstraße. Beneidet habe ich so manche Nachbarsfamilie, der es offenbar viel besser ging als uns. „Schwarzmarkthändler, sagte mein Vater und in seiner Stimme lag eine abgrundtiefe Verachtung. „Lieber hungern als unehrliche Geschäfte machen.
Konnte es aber etwas Schöneres geben, als ständig satt zu sein und nicht mit knurrendem Magen an den aus anderen Wohnungen dringenden Gerüchen vorbeizulaufen? Ich verstand meinen Vater nicht – schon gar nicht, warum er mich in den Keller sperrte, als ich, wie meine großen Vorbilder, etwas Essbares nach Hause brachte.
Einmal in der Woche wurde ich satt. Da ging es zur Kinderspeisung in die Heiliggeistkirche. Weiß-blau uniformierte Frauen musterten jedes Kind mit strengem Blick. Ich wurde nackt ausgezogen und auf eine kalte Waage gesetzt. Ich muss damals noch sehr klein gewesen sein, aber die eiskalte Waage hat sich tief eingeprägt. Doch nach diesem Martyrium kam der schöne Teil: Endlich warmes und reichliches Essen!
Auf dem Rückweg nach Hause trafen wir mitunter Soldaten. „Engländer, sagte meine Mutter und spuckte auf den Boden. „Die hätten wir alle bei Dünkirchen ins Wasser werfen sollen!
Wie gut, dass meine Mutter die Engländer nicht bei Dünkirchen ins Wasser geworfen hatte. Woher hätte ich sonst heimlich Schokolade und bunte Bonbons bekommen sollen. Schokolade und Bonbons ließen mich sogar meine Kellerangst vergessen. So oft ich konnte, suchte ich den verbotenen Weg zu den englischen Soldaten, die es so schwer hatten Scho-ko-la-de auszusprechen und immer „Tschockleed sagten. Und wie sie lachten, wenn ich „Tschockleed
antwortete. So kam ich immer an meine Ration, obwohl mir zu Hause eingeschärft worden war, nie zu betteln. „Wir kommen auch so irgendwie durch, habe ich meinen Vater oft sagen hören. Wo wir durchmussten, habe ich allerdings nie verstanden. Nur dass mein Vater nicht in der Lage war, „Tschockleed
zu besorgen – das verstand ich.
Wir – meine Mutter und ich – mussten aber den Vater regelmäßig mit einer warmen Mahlzeit versorgen. Durch ganz Flensburg bin ich mit meiner Mutter gelaufen, um meinem Vater in einem alten Kochgeschirr warmes Essen zu bringen. Bald nach dem Krieg hatte mein Vater Arbeit im „Versehrtenwerk" gefunden – ohne dass ich jemals in Erfahrung bringen konnte, was ein Versehrtenwerk war. Bis Mürwik mussten wir laufen. Manchmal allerdings fuhren wir auch mit der Straßenbahn, natürlich erst von der anderen Stadtseite, von St. Jürgen aus. Dann brauchten wir nicht mehr umzusteigen und sparten einen Groschen. Und mit dem gesparten Groschen konnten wir wieder eine Zeitlang den Gasautomaten in der Wohnung füttern, der uns das Gas zum Kochen für Vaters Mahlzeit lieferte. Wer Geld hatte, hatte Gas, wer Gas hatte, konnte kochen, wer kochte, hatte keinen Hunger. So einfach war meine vierjährige Lebensphilosophie.
Schnell strebte ich danach, selbst Geld zu besitzen. Zwei Pfennige für einen Dauerlutscher waren ein Vermögen, wer zehn Pfennige besaß, war reich. 10 Pfennige bekam ich beim Schrotthändler für zwei Kilogramm Eisen. Buntmetalle brachten noch mehr. So hatte eines Tages der Ofen des Nachbarn keine Ringe mehr. Mein Gewinn: 12 Pfennige und die Hundepeitsche. 12 Pfennige für Eis und Bonbons waren ein kurzer Genuss. Die Hundepeitsche wurde von nun an neben dem Kellerverlies ständiges Erziehungsmittel.
*
Körperliche Züchtigungen erfanden meine Eltern in den unterschiedlichsten Variationen und mit allerlei verschiedenen Züchtigungsmitteln. Das Schlimmste war die Hundepeitsche. Noch heute spüre ich ihre Lederriemen auf meinen Hintern und meine Oberschenkel klatschen. Die Peitsche bestand aus einem etwa 25 Zentimeter langen hölzernen Griffstück mit einer Schlaufe, die sich mein Vater zeremoniengleich über sein Handgelenk streifte. Vorn waren sieben fingerdicke Lederriemen von etwa 30 Zentimetern Länge angeschlagen. Wie ein Riese aus Omas Märchen kam mir mein Vater vor, wenn er mich packte und über seine Knie legte.
Meine Mutter setzte weniger schmerzhafte Züchtigungsmittel ein. Ich weiß nicht, wie viele hölzerne Kochlöffel zerbrochen sind, wenn ich meine kleine Hand zur Faust ballte und sie beim ersten Schlag schnell zwischen „Schlef" und Hintern legte. Es tat zwar einen Moment höllisch weh, wenn der Kochlöffel an der Faust zerbrach, aber danach schlug meine Mutter nur mit ihrer bloßen Hand weiter – und daran konnte man sich gewöhnen.
Ich verstand überhaupt nicht, über was sich meine Eltern alles aufregen konnten. Alles, was ein wenig Erlebnis versprach, war bei Strafe verboten. Erwischt haben sie mich eigentlich immer. Besonders meine Mutter muss überall Augen gehabt haben. Ob ich nun im Burghof eine Scheibe eingeworfen hatte oder meiner Mutter heimlich die Zunge herausstreckte – sie merkte alles.
Besonders streng verboten war es, zum Hafen zu laufen. Und gerade dort war es doch so spannend. Ich turnte auf den Schiffen herum und wusste sehr bald, wo die Kombüsen eingerichtet waren. Niemand jagte mich fort! Im Gegenteil – oft gab es knackige Kekse oder auch mal ein beidseitig gebratenes Spiegelei von einem der Smutjes. Hier war die