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Überleben, irgendwie: Autobiografie
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eBook321 Seiten4 Stunden

Überleben, irgendwie: Autobiografie

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Über dieses E-Book

Wie dennoch leben?
Für Marianne Labisch

Das Licht der Welt erblickt
sich an den Strahlen gewärmt
und in die Finsternis gezerrt
nur Blitze des Schmerzes
erhellen das junge Leben
von der Mutter geschenkt
und vom Vater missbraucht

Wie dennoch leben?
Wie wird das Leid zu einem Ich?
Nur durch dich selbst
deiner eigenen Kraft
deinem Willen
deiner Liebe

* Gerd Scherm

»Mit der Stimme eines Mädchens und der einer starken jungen Frau erzählt die Autorin hier die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend als Überlebende von Gewalt und Missbrauch. Tough, beeindruckend und Mut machend!«

* Corinna Griesbach
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum30. Juli 2022
ISBN9783957658098
Überleben, irgendwie: Autobiografie

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    Buchvorschau

    Überleben, irgendwie - Marianne Labisch

    Hagen 1978

    Mein Bruder Helmut und ich standen an der Haltestelle vorm Amtsgericht in Hagen und hätten jubeln sollen, aber das konnten wir nicht. Zwar hatten wir unser Ziel erreicht, meinen Vater hinter Gitter zu bringen, aber im Moment überwog die Wut auf Anita, die bei der Befragung durch den Richter stumm wie ein Fisch geblieben war. Ich weiß nicht, ob es etwas am Strafmaß geändert hätte, aber so hielt der Richter sie für eine unzuverlässige Zeugin. Wahrscheinlich dachten alle am Prozess Beteiligten, sie hätte gelogen. Ich glaubte, sicher zu wissen, dass ihre Geschichte stimmte. Anita hatte schlicht Angst gehabt, immerhin saß mein Vater während der Befragung mit im Gerichtssaal. Wozu es gut sein sollte, die Opfer vor den Augen des Täters aussagen zu lassen, wusste ich nicht. Hätten die Herren in den schwarzen Roben gewusst, wie Angst einflößend mein Vater sein konnte, hätten sie vielleicht mehr Verständnis für meine Schwester aufgebracht und sie alleine befragt.

    Nichtsdestotrotz redeten wir wütend auf sie ein, sobald wir den Bus nach Hause bestiegen hatten. Helmut, der Impulsivere von uns beiden, polterte los: »Warum hast du nichts gesagt?«

    »Weil Papa da war«, antwortete Anita.

    »Aber der konnte dir doch nichts tun.«

    »Vielleicht hätte er mehr gekriegt, wenn du den Mund aufgemacht hättest«, warf ich ein.

    »Ich wollte ja, aber es kam nichts raus.« Anita fühlte sich ganz offensichtlich nicht wohl in ihrer Haut und trug ein schuldbewusstes Gesicht zur Schau.

    »Ich verstehe das nicht. Da wirst du schon gefragt und dann sitzt du da und kriegst den Mund nicht auf. Mann!«, schimpfte Helmut weiter. Er war gut darin, Salz in Wunden zu schütten.

    »Du hast gut reden, dich haben sie ja nicht in den Zeugenstand gerufen.«

    »Ich hätte geredet, da kannst du dich drauf verlassen.«

    »Hilft jetzt alles nichts mehr. Die Sache ist gelaufen«, erklärte ich und sah aus dem Fenster.

    Ich konnte kaum glauben, dass es mir gelungen sein sollte, meine Geschwister in Sicherheit zu bringen. Endlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Vater sich bis zum Antritt seiner Strafe noch etwas würde zuschulden kommen lassen. Nur noch ein paar Tage, dann war es geschafft und ich konnte aufatmen. Lieber sah ich meine Geschwister in einem Heim, als der Gefahr ausgesetzt, von meinem Vater im Suff erschlagen zu werden. Inzwischen sah ich Kinderheime nicht mehr als Gefängnisse für Kinder an, wusste aber selbstverständlich, dass ein Heim keine heile Familie ersetzen konnte, aber etwas anderes stand nicht zur Auswahl. Mittlerweile waren meine Geschwister bis auf Annette alle in der Pubertät und die Verwandtschaft hatte kein Interesse daran, sich kleine Revoluzzer aus schlechtem Elternhaus in die Familie zu holen.

    Liebend gerne hätte ich mehr getan, aber ich konnte die Mutterrolle nicht weiter übernehmen. Ich war froh, dieser Hölle entkommen zu sein, und dachte daran, wie alles begonnen hatte. Eigentlich ganz normal …

    München und Ennepetal, 1959–1964

    Ich wurde am 9. August 1959 als Sonntagskind in München im Klinikum rechts der Isar geboren. Mein Vater behauptete, ich sei ein echter Sonnenschein gewesen, den jeder gerne geherzt hätte. Meine Mutter berichtete, dass ich mir die Lyoner schon aus dem Kühlschrank stibitzte, bevor ich laufen konnte.

    Eine Begebenheit aus früher Kindheit ist mir noch in Erinnerung: Meine Mutter holte immer ein frisches Weißbrot vom Bäcker, das eine herrlich knusprige Kruste hatte und innen ganz weich war. Ich liebte dieses Brot und einmal drückte sie mir den ganzen Laib in die Hand und ich hatte allen Ernstes vor, das Brot komplett alleine zu verspeisen.

    Wir lebten damals in Neubiberg, weil mein Vater als Berufssoldat in den Süden versetzt worden war. Meine ersten drei Lebensjahre verbrachte ich also in Bayern, lernte Jodeln, habe aber ansonsten kaum noch Erinnerungen an diese Zeit.

    Eigentlich hätte ich ein Sohn werden und Tom heißen sollen. Nachdem der erste Versuch daneben gegangen war, versuchten meine Eltern es noch einmal, aber wieder kam ein Mädchen dabei heraus. Meine Schwester Anita wurde am 14. Januar 1961 geboren. Beim nächsten Mal hatten sie dann endlich Glück. Mein Bruder Helmut kam am 25. März 1962 auf die Welt.

    Meine Mutter hieß Maria, war blond, blauäugig und sehr hübsch.

    Eigentlich lautete ihr Vorname Marie, aber den mochte sie nicht und ließ sich lieber Maria nennen. Den gleichnamigen Song aus der West Side Story mochte sie sehr. Sie war in Polen geboren worden, in Leipzig aufgewachsen und nach dem Krieg aus der damaligen Ostzone geflüchtet. Ihre Eltern hatten sich ihr nicht angeschlossen, weil sie Arbeit, Wohnung, Freunde und Verwandte nicht zurücklassen wollten. Ein Umzug in eine ungewisse Zukunft erschien ihnen zu riskant.

    Meine Mutter arbeitete als Kellnerin und lernte dabei den Hilfskellner Lothar, meinen Vater, kennen. Auch er sah sehr gut aus, hatte kurze schwarze Haare, blaue Augen und eine schlanke Figur. Sie erzählten uns, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen und so heirateten sie schnell.

    Ich hatte blonde Locken, blaue Augen und war recht schüchtern.

    Meine Eltern machten sich ab und zu einen Spaß daraus, mich in die Stiefel meines Vaters zu stecken, und freuten sich mit mir über das ungewohnte Schuhwerk.

    Anita stellte mit ihren pechschwarzen Haaren und braunen Rehaugen das komplette Gegenteil von mir dar. Sie war schon damals ein kleiner Wirbelwind. Später sagten wir immer, sie hätte Paprika im Hintern.

    Helmut hatte dunkelbraune Haare und blaue Augen. Wir verstanden uns sehr gut. Eifersüchteleien, wie ich sie als Erwachsene im Freundeskreis erlebte, wenn die Kinder im vermeintlich optimalen Abstand von drei Jahren kamen, gab es bei uns nicht.

    Die Dienstzeit meines Vaters endete und meine Eltern beschlossen, in die Heimat meines Vaters nach Nordrhein-Westfalen zurückzugehen. Er war in Ennepetal aufgewachsen und dort lebten seine Mutter und sein Bruder Bernd, mein Patenonkel, immer noch gemeinsam in einer Altbauwohnung. Im Haus daneben wohnte Tante Grete, eine der Schwestern meiner Oma Else, und der ganze Rest der Verwandtschaft meines Vaters lebte im engeren Umkreis und traf sich regelmäßig. Tante Grete besuchten wir häufig und mochten sie und ihren Dackel.

    Meine Oma hatte noch weitere Schwestern, die sie häufig besuchten. Dann gab es noch Onkel Max, der im Krieg einen Arm verloren hatte, mit Frau und Sohn. Seine Frau war eine echte Stimmungskanone, die alle zum Lachen bringen konnte. Der Sohn, Onkel Detlef, fuhr Rallyes und war allein schon deswegen überaus interessant. Tante Gisela war damals, wenn ich nach den Bildern gehe, die mir Onkel Bernd hinterlassen hat, die beste Freundin meiner Mutter. Ihr Mann hieß Manfred und beide nahmen an den Feiern teil, die bei Oma stattfanden. Es gab noch ein Ehepaar, das später sechs Söhne bekam und dann den Versuch aufgab, ein Mädchen zu bekommen. Tante Renate wohnte damals noch nicht in München, würde aber bald übersiedeln. Tante Waltraut war meine Lieblingstante, aber ich kann heute nicht mehr sagen, warum. Onkel Egon betrieb eine Pommesbude in Milspe und dort bekam man den besten Backfisch weit und breit. Neben den Genannten gab es unzählige andere, die meisten davon kannte ich nicht.

    Onkel Bernd war wie mein Vater Dreher. Mein Vater hatte diesen Beruf erlernt, aber keine Anstellung gefunden, weshalb er sein Geld zuerst mit Kellnern aufgebessert und sich dann für einige Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet hatte. Onkel Bernd und mein Vater hatten die Idee, sich selbstständig zu machen. Onkel Bernd wollte sich um die Buchhaltung kümmern und mein Vater sollte die Aufträge besorgen. Sie mieteten eine kleine Halle und kauften Dreh- und Bohrmaschinen. Beide glaubten, dass es ihnen besser gehen würde, wenn sie ihre eigenen Herren wären.

    In einem anderen Ortsteil von Ennepetal, der Wellenbecke, fanden meine Eltern eine Zweizimmerwohnung. Wir Kinder hatten ein gemeinsames Zimmer, unsere Eltern schliefen in dem anderen. Außerdem hatten wir noch eine Küche. Die Badewanne befand sich im Keller, was mir wesentlich besser gefiel als das Klo auf halber Treppe wie bei Oma Else. Unsere Vermieter erlaubten uns, im Garten zu spielen. Sie hatten selbst Kinder und nichts dagegen, wenn wir uns die Schaukel teilten.

    Das Haus stand ziemlich einsam an einer Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein schöner Wald. Ich mochte Wälder schon immer und ich mag sie heute noch.

    Eines Tages vertrieb ich mir die Zeit, während meine Mutter einen Kuchenteig anrührte und bis ich die Schüssel ausschlecken durfte, indem ich aus dem Fenster sah. Auf dem Weg, der in den Wald führte, tummelten sich lauter kleine grüne Zwerge, die miteinander spielten. Ich war total fasziniert, denn echte Zwerge hatte ich noch nie gesehen. Ich rief meine Mutter, das musste sie unbedingt sehen. Zuerst wollte sie nicht kommen und fragte: »Was gibt es denn?«

    »Mama, komm schnell, hier sind Zwerge!«, antwortete ich. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und kam zu mir. Die Zwerge mussten wohl geahnt haben, dass ich jemanden gerufen hatte, denn sie versteckten sich alle so gut, dass meine Mutter keinen von ihnen zu sehen bekam. Kopfschüttelnd ging sie zurück zu ihrer Rührschüssel und meinte: »Zu viel Fantasie.«

    Ich hoffte, dass diese Fantasie keine schlimme Krankheit wäre und ich trotzdem meinen Kuchenteig bekam. Kaum hatte meine Mutter ihren Platz am Fenster geräumt, kamen die Zwerge aus ihren Verstecken und spielten munter weiter; nur einer blickte direkt zu mir hinüber und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen, um mir zu bedeuten, dass sie sich nur mir zeigen würden. Ich vermutete, dass sie nur für Kinder überhaupt sichtbar waren. Die Teigschüssel durfte ich trotzdem ausschlecken.

    Als wir bei einem Spaziergang einige Tage danach an bunten Gartenzwergen vorbeikamen, gab ich zum Besten, dass echte Zwerge gar nicht so bunte Kleidung trugen, sondern nur grüne. Mir war auch ohne Erklärung vollkommen klar, dass man sich mit grüner Kleidung viel besser im Wald verstecken konnte.

    Damals waren die Radios noch sehr groß und ich wunderte mich eine Zeit lang, warum ich die Leute, die dort drinnen arbeiteten, nie zu Gesicht bekam. Ich stellte mir kleine Menschen vor, die morgens mit einer Aktentasche durch eine verborgene Tür ins Radio marschierten und abends zum Feierabend wieder nach Hause gingen. Obwohl ich immer wieder Ausschau nach diesen Leuten hielt, wollte mir nie einer zu Gesicht kommen. Also entschloss ich mich, der Sache auf den Grund zu gehen, und bewaffnete mich mit einem Schraubenzieher. Leider erwischte meine Mutter mich, bevor ich die erste Schraube gelöst hatte, und verbot mir unter Androhung von Schlägen, was sie nicht oft tat, mit solchem Unsinn fortzufahren. Das wären keine Leute drin, aber das Radio würde mit Strom betrieben und der wäre gefährlich. Ich könne einen Schlag bekommen und daran sterben. Ich wusste nicht, wo die Stimmen herkommen sollten, wenn da keine Menschen drin waren, aber der Strom und die Angst vor Schlägen hielten mich von weiteren Untersuchungen ab.

    Eines Tages kehrte mein Vater von der Arbeit zurück, aber statt hereinzukommen, blieb er im Auto sitzen und hupte. Wir sahen aus dem Fenster und bemerkten, dass er einen anderen Wagen fuhr. Wir Kinder waren ganz aufgeregt und liefen hinaus. Es war ein »neuer« gebrauchter Ford Taunus. Meine Mutter kam hinter uns her. Wir durften alle einsteigen und machten eine Probefahrt. Meine Mutter schimpfte mit meinem Vater, weil sie meinte, wir könnten uns kein neues Auto leisten, aber mein Vater ließ sich von ihr die gute Laune nicht verderben. Wir aßen an diesem Abend später und wurden direkt nach dem Essen ins Bett geschickt.

    In der Küche machte meine Mutter meinem Vater sehr wahrscheinlich das erste Mal Vorhaltungen, dass er so verschwenderisch mit dem Geld umging. Er hatte ihr nicht nur nichts von dem Auto erzählt, sondern es auch noch auf Pump gekauft. Seine Firma bekam zwar Aufträge, aber dort war der Schuldenberg noch größer, als der private, denn die Maschinen mussten alle erst noch abbezahlt werden.

    Von einem Vater von bald vier Kindern hätte man etwas mehr Verantwortungsbewusstsein erwarten können. Wenn meine Mutter nicht an den Wochenenden als Kellnerin gearbeitet hätte, wäre das Geld wohl noch knapper gewesen. Wir wussten damals weder, was Schulden waren, noch dass wir welche hatten. Das sollte sich allerdings bald ändern.

    Am 11. Juni 1964 wurde mein Bruder Rolf geboren. Jetzt waren wir zwei Jungen und zwei Mädchen. Gleichstand auf beiden Seiten.

    Meine Eltern gingen an den Wochenenden gerne aus und ich als die Große und Vernünftige sollte dann immer dafür sorgen, dass alle schön brav pünktlich ins Bett gingen und dort auch ruhig liegen blieben. Sie sagten mir immer Bescheid, wenn sie ausgingen, damit wir keine Angst bekämen, wenn wir aufwachten und sie nicht da waren. Das kam nicht ein einziges Mal vor.

    Mit unserer Müdigkeit stand es nicht allzu gut, wenn die Eltern erst aus dem Haus waren, darum hatten wir uns eine Art Einschlafsport angeeignet: Wir kletterten auf den Kleiderschrank im Elternschlafzimmer und sprangen vor dort aus ins Bett. Das machte uns einen Mordsspaß. Unsere Nachbarn, die auch Eigentümer des Hauses und somit unsere Vermieter waren, hielten allerdings nicht so viel von unserem Spaß und beschwerten sich. Das gab dann immer eine anständige Standpauke und meine Mutter war enttäuscht von mir. Das hielt uns alles nicht davon ab, es beim nächsten Mal exakt genauso zu machen. Es machte einfach zu viel Spaß.

    Freitags war unser Badetag. Jeder bekam sein Handtuch und seinen Schlafanzug in die Hand gedrückt und dann marschierten wir gut gelaunt im Gänsemarsch in den Keller. Anita knuffte mich, Helmut knuffte Anita und dann mussten wir alle lachen. Auch meine Mutter konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Sie war ja selbst erst vierundzwanzig Jahre.

    Natürlich ermahnte sie uns zur Ruhe, trotzdem schafften wir es nie, mucksmäuschenstill in den Keller zu kommen. Auch das bot unserem Vermieter Grund zur Klage. Sie meinten auch, dass vier Kinder schon zwei zu viel seien. Vielleicht haben sie auch die Miete nicht immer pünktlich bekommen. Es gab auf jeden Fall häufiger Streit im Haus.

    Für Anita und mich gab es fast nichts Schöneres, als wenn mein Vater uns mit in seine Firma nahm. Ich mochte den Geruch nach Maschinenöl, Metallspänen und Rost. Die Metallspäne fand ich auch richtig schön, Spiralen, die in den unterschiedlichsten Blautönen schimmerten. Diese Schönheit hielt allerdings nur kurz, denn verrostet sahen die Späne nur noch nach Abfall aus.

    Onkel Bernd hatte ein total vernarbtes Gesicht und ich wagte eines Tages, ihn zu fragen, woher das kam. Er berichtete: »Die stammen von einem Autounfall, den ich mit deinem Papa und deiner Mama hatte.«

    Das erstaunte mich, denn meine Eltern hatten keine Narben von diesem Unfall davongetragen. »Echt?«

    »Ja, echt.«

    »Was war das für ein Unfall und wann war das?«

    »Ist schon eine Weile her. Dein Papa saß am Lenkrad, ich daneben und deine Mama hinter mir. Wir mussten scharf bremsen und deine Mama hat sich instinktiv am Vordersitz abgestützt und mich durch die Windschutzscheibe gedrückt.«

    Oje, oje, oje, meine Mama war schuld, dass Onkel Bernd so viele Narben im Gesicht trug? Er musste mir meine Gedanken angesehen haben, denn er fuhr fort: »Das hat sie nicht mit Absicht getan, sie konnte gar nicht anders.«

    »Tut das noch weh?«

    »Nein, jetzt nicht mehr. Am Anfang schon, aber jetzt nicht mehr.«

    »Das hat ihr sicher leidgetan, oder?«

    »Ja, das kann man wohl sagen. Sie hat sogar geweint.«

    Damals hatten die Sitze weder Sicherheitsgurte noch Blockaden, und Verbundglas wurde auch erst später verwendet.

    In der Nähe der Werkstatt wohnten Kinder, mit denen wir schnell Freundschaft schlossen. Wir spielten die spannenden Abenteuer von Kalle Blomquist nach. Ich mimte natürlich Kalle und Anita übernahm die Rolle des kleinen Anders. Riesig war die Werkstatt nicht, wir besaßen drei Maschinen und ich wunderte mich, warum zwei Mann drei Maschinen brauchten. Der Boden vor der Fabrik bestand aus schwarzem Sand und es gab einen Sandkasten mit richtigem Sand.

    Einmal schlug ich mir auf dem Hof beim Spielen ein Knie auf. Mein Vater kam aus der Werkstatt geeilt, um zu sehen, warum seine älteste Tochter so ein Geschrei veranstaltete. Er tröstete mich, klebte ein Pflaster auf das Knie und gab Anita und mir Geld für ein Eis, was den ersten Schmerz wirksam stillte.

    Obwohl die Wunde nicht mehr schmerzte, wollte meine Mutter einen Blick darauf werfen. Sie entfernte das Pflaster und bestand darauf, dass sie ausgewaschen wurde. Das Pflaster zu entfernen tat schon weh, aber das Auswaschen war eine Qual. In meinen Augen eine überflüssige, denn wir bekamen den Dreck nicht mehr heraus.

    So wurde ich am nächsten Tag zum Arzt geschleppt, aber der schaffte es auch nicht, verpasste mir eine Tetanusspritze und scherzte über die lustige Form der Wunde. Sie sah aus wie eine übergroße Kaffeebohne. Bis zum Teenageralter hat mich diese Narbe eigentlich nie gestört. Manchmal verspürte ich sogar Stolz, denn sie unterschied mich von anderen und zeugte davon, dass ich einiges einstecken konnte. Selbst die Jungen, die ich kannte, hatten keine solche Narbe.

    Eines Abends weckte meine Mutter uns auf: »Kommt, aufstehen.« Es war noch dunkel und wir wunderten uns, was das zu bedeuten hatte.

    »Zieht euch schnell und leise an.«

    »Aber Mama, was ist denn los?«, fragte ich.

    »Das erzähle ich euch in der Küche, wenn ihr alle fertig seid«, antwortete sie und ging mit Rolf auf dem Arm voraus.

    Nichts hätte uns so antreiben können, wie das Versprechen, dieses seltsame Rätsel aufzulösen. Als wir in die Küche kamen, verstärkte sich der Eindruck, dass hier etwas ganz entschieden nicht stimmte. Es standen Kisten und Koffer herum, in denen unsere Mutter unsere Habseligkeiten verstaut hatte.

    »Fahren wir weg, Mama?«, fragte Anita.

    »Ja, wir verreisen.«

    »Wohin fahren wir denn?«, wollte ich wissen.

    »Das werdet ihr schon sehen, wenn wir da sind. Komm, Marianne, pack bitte die Brote ein und dann brechen wir auf.«

    Ich kam zu ihr an den Schrank und packte die Brote ein, die sie vorbereitet hatte. Meine Mutter füllte Kaffeepulver in die Thermoskanne und schüttete kochendes Wasser darauf. Rolf lag sauber gewickelt und angezogen auf dem Schrank. Vielleicht merkte er, dass etwas nicht in Ordnung war, denn er drehte und wendete sich und stieß an die Kaffeekanne. Sie kam ins Wanken und fiel schließlich um. Der ganze heiße Kaffee ergoss sich über Rolfs Arm. Er schrie wie am Spieß.

    In der kleinen Küche war plötzlich die Hölle los. Wir schrien und liefen kreuz und quer durcheinander. Nur meine Mutter behielt die Ruhe, sie trocknete Rolf vorsichtig ab und streute Mehl über den Arm, aber man sah schon, wie sich große Blasen bildeten. Der Junge musste ins Krankenhaus. Unerwarteterweise öffnete sich die Wohnungstür und mein Vater stand dort. Er sah verwundert aus, wurde aber von meiner Mutter schnell ins Bild gesetzt und die beiden fuhren mit Rolf ins Krankenhaus. Wir sollten uns ausziehen und ins Bett gehen.

    Lange wunderten wir uns noch, was das alles zu bedeuten hatte, aber wir konnten uns keinen Reim darauf machen. Am nächsten Morgen taten meine Eltern, als sei nie etwas gewesen; nur Rolfs verbundener Arm zeugte davon, dass wir das alles nicht nur geträumt hatten.

    Ich habe leider nie erfahren, weshalb meine Mutter in dieser Nacht gehen wollte, noch wohin die Reise hätte führen sollen. Später haben wir viel spekuliert, aber wissen konnten wir nichts. Warum keiner von uns je die Chance genutzt hat, meinen Vater, Onkel Bernd oder zum Beispiel Tante Gisela dazu zu befragen, kann ich nicht sagen, vermute aber, dass uns schon als Kindern klar war, dass solche Dinge tabu waren. Als Erwachsene hatten wir alle das Gefühl, von den Verwandten im Stich gelassen worden zu sein, was vielleicht eine Erklärung dafür liefert, warum wir das Versäumte da nicht nachgeholt haben.

    Ennepetal 1964

    Kurz darauf bekamen wir die Kündigung von unserem Vermieter. Er meinte, die Wohnung sei zu klein für uns. Also suchten meine Eltern nach einer anderen und wurden wenig später fündig. Der Tag des Umzuges rückte immer näher. Damals machte uns das noch einen Riesenspaß. Man fand nichts mehr. Dies und das, womit wir spielen wollten, war schon eingepackt. Überall standen Kisten herum.

    Das Einzige, was uns allen nicht entging, war der Unmut meiner Mutter. Je näher der Tag des Umzugs kam, desto schlimmer wurde es. Wir blieben in der gleichen Stadt, zogen nur in einen anderen Ortsteil, und zwar nach Rüggeberg.

    Wie der Name schon sagt, liegt es auf einem Hügel. Wir fuhren diesen schier endlosen Berg hinauf, ließen die Ennepetalsperre rechts hinter uns. Dieser Weg führte durch den Wald und war recht kurvenreich. Oben angekommen, mussten wir nach links in den Schnabeler Weg abbiegen. Damals standen dort noch nicht viele Häuser, an diesem Ende des Weges eigentlich nur die drei großen Häuser, die fast gleich aussahen. Zwei auf der rechten Seite, die wie Zwillinge wirkten. Unser Haus lag auf der linken Seite und hob sich von den anderen dadurch ab, dass es eine höher gelegene Eingangstür hatte, die über eine Rampe erreicht wurde. Uns gefiel das natürlich sofort. Später wurde die Rampe oft für Mutproben benutzt. Wir schwangen uns über die Brüstung und ließen uns fallen. Wer sich das nicht traute, wurde Feigling genannt.

    Unser Vater verkündete stolz, dass unsere Wohnung sich im obersten Stockwerk ganz hinten links befand und wir Kinder rannten jubelnd voraus und beschlagnahmten sie voller Begeisterung. Die Wohnungstür führte in die Küche, die größer war als die alte. Rechts neben der Tür stand der Kohleofen. Daneben gab es eine Tür, die in einen kleinen Flur führte, auf dessen linker Seite sich die Toilette befand. Dieser Flur führte in das Kinderzimmer. Wir eilten durch die Küche zurück, um das Elternschlafzimmer auf der entgegengesetzten Seite anzuschauen.

    In unseren Augen gab es nur einen Rückschritt: Es gab kein Badezimmer. Aber das machte nichts. Wir würden es genau wie unsere Oma Else machen und einmal in der Woche die Zinnbadewanne mitten in der Küche aufstellen und Töpfe aufsetzen, um heißes Wasser für die Füllung zu gewinnen. Darin würde dann einer nach dem anderen gebadet, ohne dass das Wasser getauscht wurde.

    Uns Kindern gefiel die Wohnung sehr gut. Hinter dem Haus gab es einen großen Rasen, der allerdings nicht uneingeschränkt zum Spielen genutzt werden konnte, sondern auf dem an Haltestangen Wäscheleinen aufgespannt waren. Auf der Seite, dort, wo sich unsere Küche befand, hatte man in den Rasen einen Sandkasten eingelassen, mehr Spielgeräte gab es nicht.

    Unsere Eltern folgten uns mit den ersten Gepäckstücken. Meine Mutter schaute sich die Wohnung mürrisch an. Selbst wir Kinder spürten deutlich, dass sie sich hier unbehaglich fühlte. Deshalb fragte ich: »Mama, gefällt dir die Wohnung nicht?«

    »Nein«, antwortete sie kurz angebunden.

    »Aber warum denn nicht? Sie ist doch viel größer als die alte.«

    »Das könnt ihr nicht verstehen«, entgegnete sie. Damit war das Thema besprochen und es wurde weitergearbeitet.

    Wir hatten für diese Wohnung ein paar neue Möbel gekauft. Aber das meiste aus der Wellenbecke mitgenommen. Das Küchenfenster befand sich direkt gegenüber der Wohnungstür. Darunter wurde die Eckbank aufgestellt. Der Tisch kam davor und zwei Stühle daran. Rechts in der Ecke befand sich der Spülstein. Daneben bauten wir einen halbhohen Schrank auf. In die linke Ecke kam unser alter Küchenschrank.

    Es gab in der Wohnung weder Heizung noch warmes Wasser. Geheizt wurde mit dem Kohleofen, auf dem auch gekocht wurde. Wenn nach dem Essen das Geschirr gespült wurde, oder wenn wir uns nach dem Spielen draußen waschen wollten, musste immer erst ein Topf mit Wasser aufgesetzt werden.

    Meine Eltern besorgten ein kleines elektrisches Heizgerät für das Kinderzimmer, das eingeschaltet wurde, wenn es zu kalt war. Das passierte nicht besonders oft. Einmal fiel eine Decke auf das Gerät und fing an zu kokeln. Meine Mutter entdeckte es, bevor sie richtig brannte, und schimpfte mit uns.

    Ins Elternschlafzimmer kam das Doppelbett. Wir stellten es unter das Fenster. Rechts und links daneben wurden die Nachttischchen aufgestellt. Außerdem wurde der Kleiderschrank an die linke Wand verfrachtet.

    Das Beste aus unserer Sicht war natürlich das Kinderzimmer. Unsere Eltern hatten zwei Doppelbetten für uns gekauft. Das für Anita und mich kam neben das Fenster auf die linke Seite. Das für Helmut und Rolf kam längsseits auf die rechte Seite. Damit war das Zimmer schon fast voll. Wir stellten noch einen Schrank gegenüber Anitas und meinem Bett auf.

    Unsere Straße war noch nicht geteert worden, weil die drei Häuser noch nicht lange dort standen. Rechts neben dem Haus befand sich eine umzäunte Wiese. Das Gras dort wurde nur selten gemäht und diente uns hin und wieder als Versteck. Nur wenn Ahla, ein Pferd, dort weidete, wagten wir uns nicht auf die Wiese, obwohl wir Ahla gern hatten, sie streichelten und fütterten, indem wir ihr das

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