Keine Mutter, zwei Väter, drei Männer: Lebenserinnerungen aus der Münchner Vorstadt im 20. Jahrhundert
Von Helga Viviani
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Über dieses E-Book
Die vielen spannend und unterhaltsam beschriebenen Stolpersteine verraten dem Leser, wie das gesteckte Ziel in der Mitte des Lebens erreicht wurde,
und wie sich die Autorin trotz aller Widerstände durchgewurstelt hat.
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Buchvorschau
Keine Mutter, zwei Väter, drei Männer - Helga Viviani
Keine Mutter, zwei Väter, drei Männer
Keine Mutter, zwei Väter, drei Männer.
Keine Mutter, zwei Väter, drei Männer.
Helga Viviani
Lebenserinnerungen aus der Münchner Vorstadt im 20. Jahrhundert
Meine Erinnerung begann im Nachkriegsjahr 1946, als mein Stiefvater Richard todunglücklich und mit verweinten Augen von der nahe gelegenen Schwabinger Privatklinik nach Hause kam. Er sagte mir und meinem Bruder Bobby schluchzend: „Eure Mutter ist gestorben. Ich weiß nicht wie es weitergehen soll!" Meine Mutter war gerade 28 Jahre alt, sie sollte ihr drittes Kind zur Welt bringen, aber irgendwas musste schief gelaufen sein. Mein Stiefvater machte dafür - allerdings ergebnislos die Klinikärzte verantwortlich und dabei blieb es denn auch.
Einige Tage später, vielleicht auch Wochen danach mir fehlte damals jedes Gefühl für die Zeit schien er die Lösung unseres Problems gefunden zu haben. Er packte einen alten braunen Pappkoffer, leinte unseren Schäferhundmischling Elko an, nahm Bobby und mich an der Hand und fuhr mit uns per Tram in den Münchner Osten.
Das sollte für mich der Abschied von unserem kleinen Haus sein, das von einer Münchner Zeitung als Alt Schwabing hinter Bäumen mit einem großen Bild veröffentlicht worden war.
Unser Zuhause war ebenerdig und lag in einem großen, verwilderten Garten, mit vielen alten Bäumen. Es gab ein Badezimmer, eine Küche, zwei Kinder- und ein Schlafzimmer, was, für damalige Verhältnisse mehr als luxuriös war. Erst viel später erfuhr ich wie wir zu dieser wunderschönen Bleibe kamen.
In diesen Zeiten musste eine alte Dame unter Androhung von Gewalt ausziehen und überließ uns unter Aufsicht einiger Uniformierter die Hausschlüssel. Sie hat dabei bitterlich geweint, denn ein bestimmter Personenkreis, zu dem auch sie gehörte, wurde einfach enteignet und verschleppt. Ich war jedoch noch ein unwissendes Kind, daher plagte mich auch kein schlechtes Gewissen.
Die Lage der uns zugewiesenen Behausung war optimal, der Kleinhesseloher See lag nur einen Steinwurf entfernt, die Tramhaltestelle Feilitzschplatz fast vor der Haustür und zusammen mit dem riesigen Englischen Garten hatten wir in der beginnenden Nachkriegszeit eine Adresse, um die uns viele beneideten.
Ich besuchte die Grundschule, die nur ungefähr zehn Gehminuten durch verwinkelte Altschwabinger Gassen entfernt lag.
Meine Großeltern, zu denen wir uns auf dem Weg gemacht hatten, lebten im sogenannten Münchner Franzosenviertel, in der Pariser Straße. Sie waren überrascht uns zu sehen, aber der von mir erwartete Dialog zwischen meinem Stiefvater und den Großeltern blieb aus. Es war mehr ein Monolog seinerseits, der in dürren Worten sinngemäß nur ausdrückte, dass er schon mit dem eigenen Sohn total überfordert wäre und sich deswegen nicht auch noch um seine Stieftochter kümmern könne. Der heutige Besuch fände nur statt um mitzuteilen, dass meine Mutter gestorben sei. Er würde mich hier abliefern, denn ich wäre ja nicht seine Tochter, aber sie, Anton und Anna, wären meine richtigen Großeltern.
Erst nach vielen Jahren erfuhr ich, dass meine Großeltern meinen Stiefvater nie besonders gemocht hatten. Er und meine Mutter hatten sich den Erzählungen nach in Kriegszeiten kennengelernt, während mein Vater an der Front war. Warum mein Stiefvater, der er später nach der Scheidung wurde nicht eingezogen worden war, obwohl er gesund und kräftig schien, blieb unklar.
An die Reaktionen von Oma und Opa erinnere ich mich nicht mehr. Auf einmal blieb ich mit Hund Elko und Pappkoffer in der kleinen Zweizimmerwohnung in der Pariser Straße zurück, im 1.Stock, Hinterhof, Rückgebäude. Mein Bett, eine Eckbank, stand in der Küche. Es gab einen Kohleofen, auf dem auch gekocht wurde, und auf den in der Vorweihnachtszeit Bratäpfel gelegt wurden, die wunderbar rochen. Ganz luxuriös war zudem der Gasanschluss und - ausschließlich in unserer Wohnung - ein Kaltwasserhahn in der Küche. Das WC lag allerdings außerhalb der Wohnung, eine halbe Treppe höher, es wurde von zwei Parteien benutzt und geputzt und von der Hausbesitzerin, die selbst im Vorderhaus wohnte immer auf Sauberkeit kontrolliert.
Nach einiger Zeit wurde mir die verantwortungsvolle Aufgabe ihr den Mietzins mit dem dazugehörigen Büchlein auszuhändigen, übertragen. Wenn sie gut aufgelegt war, bekam ich dafür manchmal ein Bonbon geschenkt.
Eine steile Treppe führte vom Hinterhof in die Waschküche mit einem Kessel, der jedes Mal aufgeheizt werden musste, und einem enorm großenWaschbrett. Das ganze Jahr über haben Oma und ich dort jede Woche mit einer harten Wurzelbürste und einem Stück Kernseife alles gewaschen.
Aufgehängt habe ich die gesamte Wäsche auch im Winter auf dem eiskalten Speicher. Das Resultat der damaligen Pflichtaufgaben sollte jahrzehntelang an meinen Händen sichtbar bleiben, welche bei Kälte sofort rot und erfroren aussahen.
Der Geruch einer Backstube im Nebenhaus machte süchtig nach frischen Brezen, die aber 10 Pfennige kosteten. Ein solches Vermögen konnte ich mir nur mit sozialen Hilfsdiensten bei Nachbarn in unserer Umgebung erwirtschaften. Dann hatten wir in unserer Straße noch einen Metzger wo man immer das Stückchen Gelbwurst, damals ohne Petersilie bekam, zudem einen Milchladen und ein Wirtshaus. Also alles, was man damals so brauchte.
Ob ich vom Tod meiner Mutter oder meinem neuen Zuhause deprimiert war, ist schwer zu sagen, aber ich war wild entschlossen aus diesem Milieu herauszukommen. Das sollte jedoch länger als 20 Jahre dauern.
Der erforderliche Schulwechsel vom Münchner Norden in den Münchner Osten verlief problemlos, denn zur Freude und finanziellen Entlastung meiner Großeltern war ich immer eine gute Schülerin, der man deswegen das damals erforderliche Schulgeld und die Kosten für die Lehrmittel erlassen hatte.
Oft aber waren mir Geldgeschenke, etwa um an Schulausflügen teilnehmen zu können, vor allem, wenn sie aus der Elternschaft kamen, sehr peinlich.
Besonders gefielen mir der Musikunterricht und das Notenlernen in der Grundschule. Dort bot sich mir die Möglichkeit ein kleines Kinderakkordeon, auch Ziehharmonika genannt, kostenlos auszuleihen. Ich habe das häufig in Anspruch genommen, anfangs einfach nach Gehör darauf gespielt und dazu Kinderlieder gesungen.
Mein Stiefvater Richard hat sich – wie er sagte – aus lauter Kummer um nichts gekümmert. Oma und Opa organisierten deswegen alle Bestattungsfeierlichkeiten und erfüllten mir den Wunsch eines Urnengrabs auf dem unweit gelegenen Ostfriedhof, damit ich es bepflanzen und pflegen konnte wann immer ich wollte. Mein Hund Elko hat mich stets zum Friedhof begleitet, bis er eines Tages plötzlich verschwand. Die Polizei ermittelte, das er nicht weit vom Friedhof überfahren und getötet worden war. Offenbar wollte er alleine dorthin laufen. Das hat mich gewaltig getroffen. Jetzt hatte unsere ohnehin kleine Wohnung einen Mitbewohner weniger.
Weil sich meine Oma bemühte, beim Jugendamt das Sorgerecht für mich