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NUMMERN: Story Center
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eBook373 Seiten4 Stunden

NUMMERN: Story Center

Von Paul Sanker, Enzo Asui, Peter Stohl und

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Über dieses E-Book

1, 9, 11, 20, 300 und 2020!
Diese Zahlen spielen in jeder einzelnen Geschichte eine tragende Rolle.
Warum?
Weil genau das die Aufgabe war, die der Verleger seinen Autoren stellte. Dabei durften sie es sich nicht so einfach machen, 9 Raumgleiter durchs Jahr 2020 fliegen zu lassen.
Warum er genau diese Zahlenfolge wählte, wissen wir nicht. Wir können nur sagen, dass die Autoren in diesem Buch sich der Herausforderung stellten und die Vorgabe auf unterschiedlichste Art und Weise meisterten. Heraus kamen Geschichten aus der Zukunft, die alle lesenswert sind. Überzeugen Sie sich selbst.

Die Geschichten:
Paul Sanker: Es hat dich nie gegeben
Enzo Asui: Die Smileys von Triangel
Galax Acheronian: Nur das Beste
Peter Stohl: Consumwelt
Werner Karl: 1 – 9 – 11 – 20 – 300 – 2020
Marianne Labisch: Verbannung
Michael Alois Ortner: Für das Rïjch, allein für das Rïjch
Jeanine Lefèvre: Identität: Unbekannt

Das Titelbild schuf Galax Acheronian.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum1. Juni 2020
ISBN9783957658968
NUMMERN: Story Center

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    Buchvorschau

    NUMMERN - Paul Sanker

    8

    Vorwort

    1 | eins

    Sechs Zahlen.

    9 | neun

    Keine Entfernung. Keine Menge.

    11 | elf

    Keine Zeit, kein Datum.

    20 | zwanzig

    Eine Aufgabe.

    300 | dreihundert

    Acht Autoren.

    2020 | zwanzigzwanzig

    Acht Lösungen.

    Den zwei Herausgebern

    Marianne Labisch & Galax Acheronian

    im April 2020 untergeschoben

    www.pmachinery.de/archive/496

    Paul Sanker: Es hat dich nie gegeben

    »Weltweit werden zwischen 250.000 und 300.000 Jungen und Mädchen als Kindersoldaten gehalten. Sie werden meist entführt, geschlagen, vergewaltigt und dann zu Tötungsmaschinen erzogen. Obwohl der Missbrauch von Kindern als Soldaten international verboten und geächtet ist, werden Minderjährige dennoch rekrutiert – nicht nur von Rebellenorganisationen und Milizen, sondern auch von Regierungstruppen.«

    Aus einem Bericht des Kinderhilfswerks UNICEF von 2010.

    »Wir müssen ihn so schnell wie möglich ausschalten!« Modulator Arthur Clarke brüllte regelrecht in das Kommunikationssystem. »Hast du mich verstanden?«

    »Dazu müssen wir ihn zunächst einmal finden«, antwortete Ken Bulling lakonisch. Der kleine schmächtige Operator befand sich als Sklave getarnt in einem Kellerraum unterhalb des Kolosseums.

    Nachdenklich drehte er die so unscheinbar wirkende Zeitbombe in den Händen. Wäre sie explodiert, würde halb Rom jetzt ein Trümmerhaufen sein. Der Zündmechanismus maß nicht mehr als Bullings kleiner Finger und bestand aus einer Glasampulle, die mit Nexium gefüllt war. Das seltene Edelgas entfaltete zusammen mit dem Sauerstoff der Luft ein verheerendes Gemisch mit der Sprengkraft von hundert Tonnen TNT. Zum Glück wurde das Institut für Zeitreisen rechtzeitig vorgewarnt, sodass ein Operator losgeschickt werden konnte, um die Katastrophe gerade noch zu verhindern.

    Gewarnt hatte sie der Konstrukteur der Bombe höchstpersönlich. Es handelte sich um Viktor Donkov. Er war Operator des Ministeriums zur Abwehr von Zeitturbulenzen, kurz MAZ genannt, genauso wie Bulling. Netterweise hatte er gleich neben der Nexiumampulle einen winzigen Transtemporalsignalgeber aktiviert, der von der Zentrale geortet werden konnte. Normalerweise war solch ein Gerät dazu gedacht, um Hilfe anzufordern, falls ein Zeitreiseteam in unerwartete Schwierigkeiten geriet.

    Nach Bullings Ansicht war Donkov einfach nur durchgeknallt. Er gehörte zu den dienstältesten Operatoren des MAZ. Operatoren mussten als eine Art Mädchen für alles herhalten. Sie wurden losgeschickt, wenn irgendwo Zeitturbulenzen mit Verwerfungen der Kausalitätsraster und der Gefahr von Zeitparadoxa auftraten. Bei diesem Job steckte man ständig mitten im Strahlungsfeld des Materie-Antimaterie-Kondensators, dem Herzstück einer Zeitfähre. Dies konnte über die Jahre zu neurologisch-psychiatrischen Störungen durch Schädigungen des Zentralnervensystems führen. Meistens kam es nur zu chronischen Kopfschmerzen, Sehstörungen oder selten einmal zu epileptischen Krampfanfällen. Manchmal beobachtete man aber auch Symptome wie Halluzinationen, Persönlichkeitsspaltungen oder Verfolgungswahn.

    Bei Donkov konnte man dagegen am ehesten von krankhaftem Größenwahn reden. Vor einer Woche ließ er mitten in der Wüste Judäas im ersten Jahrhundert vor Christus einen ähnlichen Sprengsatz hochgehen, wie ihn jetzt Bulling unter dem Kolosseum gefunden hatte. Zum Glück lebte niemand in dieser gottverlassenen Gegend, sodass es zu keinem erkennbaren Eingriff in den Zeitstrom gekommen war. Kurz darauf meldete sich Donkov und kündete an, eine unumkehrbare Korrektur der Geschichte durch ein ultimatives Paradoxon herbeiführen zu wollen.

    Großzügigerweise wollte er aber dem MAZ die Chance geben, das Unabänderliche doch noch zu verhindern, indem er uns vier Hinweise gab, durch die wir herausfinden konnten, wo und wann das angekündigte Attentat stattfinden sollte. Seitdem blieb Donkov verschwunden.

    In der Tat entdeckte ein Exkursionstrupp an der Detonationsstelle in der judäischen Wüste einen modernen Aluminiumaktenkoffer. Darin fand sich eine Bibel mit einem Lesezeichen im Buch der Psalmen. Rot unterstrichen war der Vers: Alle, die dich kennen, Herr, setzen auf dich ihr Vertrauen. Du lässt niemand im Stich, der deine Nähe sucht.

    Auch Bulling hatte jetzt einen solchen Alukoffer in der Hand, als er die Zentrale des MAZ nach seiner Rückkehr aus der Ewigen Stadt betrat. Gespannt schaute der zwölfköpfige Krisenstab des Zeitministeriums zu, wie Modulator Clarke eine weitere Bibel daraus zum Vorschein brachte. Diesmal fand sich die Markierung unter folgender Textstelle: Ein Psalm Davids, vorzusingen.

    Das war’s. Nur ratloses Gemurmel war von den Anwesenden zu hören. Nachdem Clarke noch eine Weile auf den Bibelvers gestarrt hatte, knallte er das Buch wütend auf den Tisch.

    »Der Kerl will uns bloß verarschen!«, brüllte er mit hochrotem Kopf. Bulling beobachtete beunruhigt, wie die Schläfenader seines Vorgesetzten heftig pulsierte.

    »Das glaube ich nicht, Modulator Clarke«, meldete sich ein untersetzter, grauhaariger Mann zu Wort. Halo Singh war der Leiter der Ausbildungsakademie für Operatoren. »Donkov mag psychisch gestört sein, aber dumme Scherze macht er keinesfalls. Er ist durchaus ernst zu nehmen.«

    »Da stimme ich Ihnen unbedingt zu, Direktor Singh«, sagte Geoffrey Pak nickend, Kommissar für Innere Angelegenheiten des MAZ.

    »Donkov sprach jedoch von vier Hinweisen auf den geplanten Sabotageakt. Wir sollten also auf die nächsten beiden Puzzleteile des Rätsels warten.«

    Zustimmende Bemerkungen kamen von allen Seiten.

    »Wieso solche Umstände? Reisen wir doch einfach in die Zeit zurück, eine Stunde, bevor der Signalgeber anfängt zu senden! Wir können dann in Ruhe auf den Mistkerl warten und ihn unschädlich machen«, zischte Clarke.

    »Alleine an diese simple Möglichkeit zu denken, bedeutet eine gefährliche Unterschätzung von Donkovs Intelligenz«, antwortete Singh trocken. »Wir wissen längst, dass die Sprengsätze aus unserer Gegenwart ferngezündet werden. Die Bomben können bereits Wochen vorher an ihrem Bestimmungsort deponiert worden sein.«

    Nun erhob sich Bruce Kim, der Leiter der Abteilung zur Verhinderung von Zeitverbrechen.

    »Das eigentliche Problem liegt darin, dass wir gar nicht definitiv abschätzen können, was bei Herbeiführung eines ernsthaften Paradoxons tatsächlich passiert. Ich möchte an dieser Stelle nur den Capello-Effekt nennen.«

    Seit der zweiten Hälfte des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts gab es zwei unterschiedliche Theorien dazu, was geschehen würde, falls jemand bei einer Reise in die Vergangenheit durch seine Handlungen eine Änderung der Zukunft bewirken sollte.

    Die etablierte Lehrmeinung dazu war, dass solche tief greifenden Eingriffe gar nicht möglich seien. Das Raum-Zeit-Kontinuum würde gröbere Änderungen des linearen Zeitstromes nicht zulassen und Verwerfungen selbst korrigieren. Das hieße, wenn jemand den zukünftigen Erfinder des Rades erschlagen hätte, dann würde jemand anderes an dessen Stelle das tun, was getan werden müsste, um das Rad zu erfinden.

    Eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe um den Kosmophysiker Fabrizio Capello sorgte dagegen im Jahr 2438 für Aufregung durch einen wissenschaftlichen Aufsatz, in dem er nachzuweisen versuchte, dass jeder Eingriff in die Vergangenheit zu einem sofortigen Abbruch des Zeitstrahles führe. Nach seiner Theorie leben wir an der Spitze des Zeitstrahles. Dies erklärt auch, warum wir bisher keinen Besuch aus der Zukunft erhalten haben. Vor uns gibt es nichts.

    Wenn ein Zeitreisender im Jahre 800 durch die Ermordung Karls des Großen ein Paradoxon verursachen würde, käme es zum Bruch des Zeitstrahles. Die Zukunft würde mit dem Tod des Kaisers wieder neu beginnen. Das Mittelalter, die Reformation, Erster und Zweiter Weltkrieg hätte es nie gegeben. Das eigentlich Sensationelle aber war, dass Capellos Team durch komplizierte quantenmechanische Berechnungen glaubte, beweisen zu können, dass die sogenannten schwarzen Löcher im Universum direkte Folgen von solchen Zeitstrahlbrüchen seien. Das hieße also, dass es sich nicht etwa um ein noch nie da gewesenes singuläres Phänomen handle, das es zu verhindern galt, sondern dass es bei der Schaffung von Paradoxa um sich ständig wiederholende, sozusagen alltägliche Ereignisse handle. In Fachkreisen spricht man seitdem vom Capello-Effekt.

    Die Vorstellung, dass durch ungewollte oder mutwillige Manipulationen in der Vergangenheit die Zukunft und damit die Existenz der gegenwärtigen Menschheit nicht nur ausgelöscht, sondern sozusagen nihilisiert würde, erschreckte die Verantwortlichen des MAZ so sehr, dass eine Abteilung zur Verhinderung von Zeitverbrechen, kurz AVZ, mit besonders weitreichenden Kompetenzen geschaffen wurde.

    Modulator Clarke hatte sich inzwischen wieder unter Kontrolle und auf seinem Stuhl Platz genommen.

    »Nun gut, meine Herren. Warten wir’s ab. Mehr können wir wahrscheinlich im Augenblick sowieso nicht tun.«

    Dann wandte er sich um und deutete mit einer knappen Geste auf Bulling, der als Einziger in der Runde etwas abseits stand.

    »Operator Ken Bulling leitet das Sondereinsatzkommando Donkov und verfolgt weitere Spuren und Hinweise, die uns in dem Fall weiterhelfen können.«

    Bulling machte einen knappen Ansatz zur Verbeugung und zeigte ein höfliches Lächeln. Die Angehörigen des Krisenstabes musterten ihn neugierig, so als hätten sie ihn gerade eben erst zur Kenntnis genommen.

    Sondereinsatzkommando!, dachte der Operator verbittert. Damit war ausschließlich er allein gemeint. Zum einen musste die Affäre Donkov möglichst geheim gehalten werden. Nur die Personen, die sich in diesem Raum befanden, waren über die Krisenlage unterrichtet. Zum anderen konnte eine Zeitfähre sowieso immer nur eine einzige Person transportieren. Das MAZ besaß derzeit dreißig Maschinen, die sich alle ständig irgendwo im Einsatz befanden. Eine Unterstützung Bullings durch weitere Einsatzkräfte war somit gar nicht möglich.

    »Erst als die Schusswechsel aufhörten, merkten wir, dass wir auf Kinder geschossen hatten. Die Verletzten schrien nach ihren Müttern«, berichtete der Soldat der Zentralafrikanischen Schutztruppe.

    Aus dem Tagebuch von Nguono Bano, 15. September 2019.

    Drei Tage später schlug erneut ein Transtemporalsignalgeber Alarm. Die Peilung ergab als Ursprungskoordinaten Kyoto im Jahr 1788.

    In rekordverdächtiger Eile gelang es den Maskenbildnern der Zentrale, Bulling in einen Shogun der japanischen Edo-Periode zu verwandeln. Zum Glück war im Archiv das passende Spracherkennungsmodul vorhanden, womit die Mikrospeicher im Kehlkopf und Temporallappen des Operators programmiert werden konnten.

    Nach seiner Ankunft am Zielort wies er sich als Stadtkommissar von Okayama aus, der zu einer Audienz beim Kaiser erschien. In einem unbeobachteten Augenblick verschwand er im westlichen Seitenflügel des Palastes, wo hochrangige Regierungsbeamte und Aristokraten gewöhnlich ihr Frühstück einnahmen. Um diese Zeit war der Bereich des Palastes aber verlassen.

    Er entdeckte den erwarteten Sprengsatz an der Rückseite eines Bambusparavents. Nachdem er ihn entschärft hatte, schaute sich Bulling nach dem dritten Hinweis des Attentäters um. Doch der Raum war bis auf ein paar Matten und Seidenkissen auf dem Boden leer. Ziemlich ratlos stand er herum und wusste nicht, was er tun sollte. Auf jeden Fall musste er verschwinden, bevor er hier von einem Bediensteten entdeckt wurde.

    Der Operator betrachtete nun den Paravent etwas genauer. Er erkannte darauf Motive des japanischen Sonnenkalenders. Als er näher herantrat, stutzte Bulling plötzlich. Über dem dreihundertsten Längengrad, dem Daikan, hatte jemand winzig klein mit Tusche das Zeichen einer Friedenstaube gemalt. Witzbold!, dachte der Operator unwillkürlich. Schnell machte er mehrere Detailaufnahmen mit seiner Mikrokamera und sah zu, dass er von hier fortkam.

    »Sie waren noch Kinder, genau wie ich selbst, die in etwas hineingerieten, das sie nicht beeinflussen konnten. Vielleicht hatten sie im Busch an ihre Eltern und Geschwister gedacht und sich allein und verängstigt gefühlt wie ich.«

    Aus dem Tagebuch von Nguono Bano, 11. Oktober 2019.

    Keine achtundvierzig Stunden später führte ein weiterer Signalgeber Bulling nach Wien ins Jahr 1886. Der Sprengsatz war in einem Universitätshörsaal der medizinischen Fakultät deponiert worden, wo Sigmund Freud am Abend einen Vortrag über männliche Hysterie halten sollte.

    Der Operator hatte zunächst erwartet, dass Donkov die Bombe im Rednerpult verstecken würde. Überraschenderweise fand er dort jedoch nichts. Als er sich gerade weiter umschauen wollte, öffnete sich die hintere Tür des Hörsaals und der Hausmeister der Fakultät trat ein. Der korpulente Mittfünfziger trug einen langen, grauen Arbeitskittel und kam mit drohender Miene hinter seinem Kaiser-Franz-Josef-Bart auf Bulling zu.

    »Woas mochens denn hier, werter Herr?«, rief er Bulling in breitem wienerischen Akzent zu. »Hier hoams nix zum suchen!«

    »Ich bin der Sekretär von Professor Freud, guter Mann«, antwortete der Operator geistesgegenwärtig. »Ich muss dafür sorgen, dass der Herr Professor alles zu seiner Zufriedenheit vorfindet, wenn er am Abend seinen Vortrag hält.«

    Als er merkte, dass der Hausmeister verunsichert war und nicht wusste, was er darauf sagen sollte, setzte Bulling frech nach. »Und wie ich zu meinem Bedauern feststellen muss, hat die hiesige Fakultät noch gar nichts vorbereitet!« Scheinbar entrüstet verdrehte er theatralisch die Augen. »Oh je! Wenn das nachher nur keinen Skandal gibt. Ich hoffe nur, dass ich das noch rechtzeitig in Ordnung bringen kann.«

    Der Hausmeister errötete heftig. »Nun … äh, na nix für ungut, werter Herr!«, setzte er stotternd an. »Mir hoat doch koaner nix gsoagt über den Herrn Professor und des woas er Wichtiges zu reden hoat.«

    Er gestikulierte aufgeregt mit seinen behaarten Pranken in der Luft herum.

    »Ich bitt Sie goanz herzlich, werter Herr, richtens sich olles so her, so wies der Herr Professor gern hätt! Der Zeigestab steckt übrigens hinter der Tafel.«

    Damit drehte er sich, ganz kleinlaut geworden, um und sah zu, dass er den Saal so schnell wie möglich verließ.

    Bulling atmete erleichtert auf. Dann schaute er hinter die Schiefertafel, auf die ihn der Hausmeister hingewiesen hatte. Und in der Tat fand er dort nicht nur den Zeigestab, sondern auch den Sprengsatz, der mit modernem Paketklebeband befestigt war. Er entfernte rasch die Bombe. An der Rückseite klebte ein Zettel mit der Aufschrift: Wer normal sieht, der wird auch finden …! Gruß D.

    Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Dann wurde er auf das Plakat aufmerksam, das direkt neben der Schiefertafel an der Wand hing. Es handelte sich um eine Sehprobentafel, so wie sie auch Augenärzte in ihren Praxen verwendeten. Bestand da ein Zusammenhang mit Donkovs kryptischer Botschaft? Für alle Fälle machte er ein Foto von dem Plakat, bevor er wieder in die Gegenwart reiste.

    »Wir mussten lange Märsche mit den Rucksäcken machen und laufen. Ich war elf, und wenn ich nicht mithalten konnte, wurde ich geschlagen.«

    Aus dem Tagebuch des Nguono Bano, 19. Januar 2020.

    Erneut hatte sich der Krisenstab im unterirdischen abhörsicheren Raum der Zentrale des MAZ versammelt. Auf dem Tisch vor ihnen lagen die angeblichen Hinweise auf das geplante Attentat Donkovs zur Schaffung eines ultimativen Zeitparadoxons. Zunächst waren da die beiden Bibeln mit den markierten Psalmtexten. Daneben das Foto vom Paravent aus dem japanischen Kaiserpalast und schließlich die Aufnahme des Sehschärfentests aus der Wiener Universität.

    Max von Bredau fasste die Ergebnisse des Profilerstabs vom AVZ zusammen. Von Bredau war mit seinen dreißig Jahren der jüngste Ressortchef des MAZ und galt als Wunderkind auf seinem Gebiet der logistischen Datenanalyse und Strategieplanung. Bulling hielt ihn für einen schmierigen Wichtigtuer, doch da er wusste, dass die Meinung eines einfachen Operators in diesem Kreis wenig zählte, hielt er sich zurück und beschränkte sich aufs Zuhören.

    »Meine Herrschaften, ich möchte gleich zur Sache kommen und Ihnen mitteilen, dass es uns aller Wahrscheinlichkeit nach gelungen ist, Donkovs Hinweise auf sein geplantes Zeitverbrechen zu entschlüsseln.« Ein hochmütiges Grinsen umspielte seinen Mund. Er machte eine Kunstpause, bevor er weiterredete. Die Anwesenden hörten angespannt zu und rutschten unruhig auf ihren Plätzen hin und her.

    »Beginnen wir zunächst mit den Fakten, die uns Donkov selbst verraten hat. Er spricht von Hinweisen, die uns ermöglichen sollen, das angedrohte ultimative Paradoxon zu verhindern. Das kann nur gelingen, wenn er uns verrät, wann und wo der Anschlag stattfinden soll, damit wir rechtzeitig dort hinreisen können, um das Vorhaben zu vereiteln. Um eine Zeitreise programmieren zu können, brauchen wir mindestens Angaben zum Jahr und zum Tag des Zielpunktes sowie die räumlichen Koordinaten mit Angabe des Längen- und Breitengrades. Das heißt, wir brauchen vier Variablen, um unser Ziel in einem vierdimensionalen Raum-Zeit-Koordinatensystem definieren zu können. Und voilà …« Von Bredau aktivierte rasch den Holo-Beamer, mit dem er die vier von Bulling beschafften Gegenstände im Raum projizierte. »Wir haben genau vier Hinweise bekommen.«

    »Wir müssen uns diese vier Hinweise als eine Art von Bilderrätsel oder Drudel vorstellen, das heißt, wir müssen herausfinden, welche Bedeutung hinter dem konkreten Bild oder Gegenstand steckt.«

    »Kommen Sie endlich auf den Punkt!«, schnarrte Modulator Clarke ungeduldig. Von Bredau warf ihm einen kurzen, missbilligenden Blick zu, redete aber schnell weiter.

    »Am einfachsten zu entschlüsseln war die Darstellung aus dem alten Kaiserpalast von Kyoto« Das Hologramm des Bambusparavents wurde rasch größer und zeigte in allen Einzelheiten die darauf abgebildete Darstellung des Sonnenkalenders.

    »Donkovs lächerliche kleine Friedenstaube zeigt auf den dreihundertsten Längengrad. Dies entspricht in etwa dem zwanzigsten Januar unseres gregorianischen Kalenders. Der zwanzigste Januar ist also der Tag, an dem das besagte Zeitverbrechen stattfinden soll.«

    Aufgeregtes Raunen und anerkennendes Kopfnicken ließen von Bredau strahlen und eifrig in seinem Vortrag fortfahren. Das Hologramm des Paravents verschwand, dafür schwebte nun die Sehschärfetafel aus Wien in der Luft.

    »Es handelt sich hierbei um den sogenannten Snellen-Index nach dem niederländischen Augenarzt Herman Snellen. Zusätzlich hat uns Donkov die Botschaft hinterlassen: Wer normal sieht, der wird auch finden. Der Normalsichtige mit einem Sehvermögen von hundert Prozent hat nach dem Snellen-Index eine Sehschärfe von zwanzig/zwanzig. Und somit lautet unser Zieljahr 2020!«

    Wieder erklang das anerkennende Raunen der Anwesenden. Einige klopften beifällig auf den Tisch. Bulling musste zugeben, dass der Kerl einiges auf dem Kasten hatte. Von Bredau fuhr indes fort.

    »Bleiben uns noch die beiden Psalmen.« Die Darstellung des Snellen-Index verschwand, stattdessen konnten jetzt alle die beiden Bibelzitate lesen: Alle, die dich kennen, Herr, setzen auf dich ihr Vertrauen. Du lässt niemand im Stich, der deine Nähe sucht. Und darunter: Ein Psalm Davids, vorzusingen.

    »Was verraten uns diese Worte über die noch fehlenden geografischen Zielkoordinaten?«

    Wie ein Oberlehrer, der die Lösung der Mathematikaufgabe bereits kennt, die Antwort aber von den Schülern hören will, blickte er über die Köpfe des Krisenstabs. Als er Clarkes wütenden Blick bemerkte, beeilte sich von Bredau, fortzufahren.

    »Auf den ersten Blick gar nichts. Aber wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es sich bei den Zitaten um den Psalm neun, Vers elf beziehungsweise um Psalm zwanzig, Vers eins des Alten Testamentes handelt, dann sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Unser Zielort ist bei neun Grad, elf Minuten nördlicher Länge und zwanzig Grad, eine Minute östlicher Breite zu finden. Und zwar am zwanzigsten Januar des Jahres 2020!«

    Nun hielt es die Zuhörer nicht mehr auf ihren Plätzen. Alle diskutierten, redeten und riefen durcheinander. Nach einer geraumen Weile wurde es ruhiger im Konferenzraum. Bulling ließ ein schüchternes Räuspern hören, bevor er seine Frage stellte.

    »Und auf welchen Ort weisen nun diese angeblichen Zielkoordinaten hin?«

    Alle Augen richteten sich wieder auf von Bredau.

    »Er befindet sich im Norden der Zentralafrikanischen Republik, wenige Kilometer von der Grenze zum Tschad«, lautete die Antwort des Profilers.

    »Und was genau befindet sich dort?«, bohrte Bulling weiter.

    Von Bredau zuckte unsicher die Achseln.

    »Keine Ahnung. Es handelt sich um Niemandsland inmitten eines Bürgerkriegsgebietes. Die historischen Archive liefern keine Informationen über ein bedeutsames Ereignis an diesem Ort zu diesem besonderen Zeitpunkt.«

    »Ich habe Sarh 2018, also vor zwei Jahren, verlassen. Ich war allein und habe es niemandem erzählt. Ich wusste, wo ich mich der Rebellion anschließen konnte. Ich habe ältere Brüder, die sich nicht der Rebellion angeschlossen haben. Mein Vater ist alt. Zu Hause haben wir nicht genug für jeden, deshalb wollte ich unsere Situation verbessern und der Armee beitreten, um meiner Familie und meiner Mutter zu helfen …«

    Aus dem Tagebuch des Nguono Bano, 18. Januar 2020.

    In den frühen Morgenstunden des zwanzigsten Januar landete Bulling im Jahr 2020 in der Trockensavanne des Tschad-Beckens. Es war noch Nacht und recht kühl, doch war das dem Operator lieber, als die Hitze, die ihn hier tagsüber erwarten würde. Die Zeitfähre stand gut geschützt unter einem Felsvorsprung, zusätzlich getarnt durch einen Nanodeflektorschild, der die Maschine vor fremden Augen schützen sollte.

    Bulling fluchte leise vor sich hin, wenn er in der Dunkelheit immer wieder über lockeres Geröll stolperte. Von Anfang an hatte er am Sinn des Einsatzes gezweifelt, zumal er nicht wusste, was er hier sollte. In welche Richtung sollte er sich wenden? Hier gab es nichts außer öder Savanne, Hitze und Schlangen. Er beschloss, zunächst nach Norden zu marschieren, der Grenze entgegen. Irgendwann würde er hoffentlich einen Hinweis erhalten, der ihn auf die Spur von Donkov brachte.

    Bei Sonnenaufgang knapp zwei Stunden später sah er tatsächlich am Horizont Anzeichen einer menschlichen Siedlung. Als er näher kam, erkannte der Operator enttäuscht, dass es sich lediglich um ein gutes Dutzend schäbiger Wellblechhütten handelte, zwischen denen ein paar unterernährte Kinder spielten. Eine Frau war gerade dabei, einen Topf voll Hirse über einem Feuer zu kochen. Ein Hund lief Bulling kläffend entgegen und hob drohend seine Lefzen. Die Kinder sahen dem Fremden, der sich ihnen näherte, ängstlich entgegen und verschwanden dann in den Hütten. Mit einem Lächeln und mit seitlich erhobenen geöffneten Händen ging er langsam auf die Frau zu und fragte sie, zunächst auf Französisch, ob vor Kurzem ein weißer Mann hier vorbeigekommen sei. Als die Frau ihn nur weiter stumm anstarrte, wiederholte er die Frage mithilfe des Kehlkopfmodulators im ubangischen Dialekt Sango. Überrascht schüttelte sie den Kopf und erklärte, dass in den letzten Wochen nur immer wieder bewaffnete Rebellen aus dem Tschad über die Grenze gekommen seien, um die Dörfer zu überfallen und Männer zum Dienst in ihrer Armee zu zwingen.

    Der Operator nickte und bedankte sich freundlich bei der Frau, woraufhin sie sich ihrer Hirse zuwandte und ihn nicht weiter beachtete. Bulling war ratlos und schlenderte ziellos zwischen den Hütten herum. Der Hund hatte mittlerweile auch aufgehört zu kläffen und schnupperte interessiert an seiner Hose. Am Ende des Dorfes kam er zu einem kleinen Ziegenpferch, daneben befand sich ein primitiv gezimmerter Hühnerstall. Aus einem Brunnenloch schöpfte ein Junge mit einem Eimer bräunlich trübes Wasser.

    In der Ferne sah Bulling am Horizont eine feine Staubwolke, die zunehmend größer wurde. Beunruhigt stellte Bulling fest, dass sich über die trockene, unbefestigte Straße ein Konvoi aus mehreren Militärlastwagen näherte. Der Operator wollte schon eilig das Weite suchen, da sah er aus den Augenwinkeln ein metallisches Blinken am Straßenrand, direkt neben dem Ziegenpferch. Die Soldaten hatten das Dorf bald erreicht, dennoch lief Bulling einer Ahnung folgend zur Straße, um nachzuschauen, was da in der Sonne glitzerte.

    Schnell erkannte er, dass es sich um eine Sprengfalle handeln musste. Die Straße war vermint. Die Truppentransporter waren höchstens noch hundert Meter entfernt. Bulling winkte aufgeregt, lief dem Konvoi entgegen und schrie immer wieder »Stop!«.

    Höchstens eine Armeslänge vor dem Operator kam das vorderste Fahrzeug zum Stehen. Mehrere Soldaten sprangen von der Ladefläche und bauten sich vor ihm auf, die M16 im Anschlag. Beunruhigt erkannte Bulling mit erhobenen Händen, dass es sich bei den Bewaffneten ausnahmslos um Kinder handelte. Der Älteste und gleichzeitig der Anführer war höchstens sechzehn und kam langsam auf ihn zu. Mit versteinerter Miene musterte er den Weißen, dann untersuchte er die nähere Umgebung und entdeckte die Sprengfalle. Plötzlich sprang eine Gestalt hinter dem Hühnerstall hervor und schoss ohne Vorwarnung auf den Jungen. Von einer Kugel von den Beinen gerissen, feuerte er noch im Fallen eine Salve aus seiner M16 zurück. Der Angreifer brach in der linken Brust getroffen zusammen.

    Als sie näherkamen, erkannte Bulling, dass es sich bei dem Angreifer um Donkov handelte. Er lebte noch, als sich der Operator zu ihm hinunterbeugte. Sein Atem rasselte, blutiger Speichel floss aus seinem Mund. Trotzdem lächelte er, als er Bulling erkannte und flüsterte: »Dich hat es nie gegeben.«

    Dann war Donkov tot.

    Die Verletzung des jungen Anführers der Rebellen war nicht lebensgefährlich. Sie brachten ihn in eine Hütte und verbanden den Steckschuss in seiner rechten Schulter.

    »Warum hast du uns gewarnt, weißer Mann?«, fragte er den Operator. Bulling zuckte die Achseln.

    »Das Schicksal wollte es so«, entgegnete er lakonisch. »Wie heißt du, mein junger Freund?«

    »Nguono Bano«, antwortete der Junge.

    Bulling erstarrte. Nguono Bano, der Vater von Mike Bano, dem genialen Physiker, der die Grundlagen der Zeitreise entdeckt hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Anschlag gelungen wäre. Nguono trank gierig einen Schluck Brunnenwasser, das ihm einer seiner Kameraden brachte.

    »Was wirst du jetzt tun, mein Freund?«, fragte der Operator mit sanfter Stimme. »Willst du weiter für die Rebellen deinen Kopf hinhalten und dich irgendwann töten lassen?«

    Der Junge schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein. Wir haben uns von der Truppe abgesetzt und sind auf dem Weg nach Bangui. Dort werden wir unsere Waffen ablegen. Der Kampf ist für uns vorbei. Ich will wieder zur Schule gehen und ein neues Leben beginnen.«

    Guter Plan!, dachte Bulling. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Alles würde sich zum Guten wenden, für Nguono und für die Welt.

    Von draußen drangen laute, aufgeregte Stimmen zu ihnen herein. Einer der Kindersoldaten stürmte in die Hütte und schrie mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen: »Nicht trinken! Schlechtes Wasser!«

    Der Operator sah den Jungen verständnislos an. Der lief auf den Wasserbecher zu, der neben Nguonos Decke auf dem Boden stand, und trat ihn in die Ecke.

    »Gift!«, schrie er. »Der Brunnen wurde vergiftet!« Doch der Becher war leer und kullerte gegen die graue Blechwand.

    Wie auf ein Zeichen hin krümmte sich Nguono von heftigen Bauchkrämpfen gequält auf seiner Liegestatt. Feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Dann schrie der Junge vor Schmerzen auf, wälzte sich zur Seite und erbrach faulig stinkenden Mageninhalt. Kurz darauf war Nguono Bano, der zukünftige Vater des Erfinders der Zeitmaschine, tot.

    »Dich hat es nie gegeben«, murmelte Bulling und die Welt um ihn herum verblasste.

    Enzo Asui: Die Smileys von Triangel

    In blutroten Buchstaben projizierte der Beamer den Bescheid an die Kabinenwand.

    Treffer.

    Versenkt.

    Berta aktivierte den Replikator, orderte einen doppelten Merkur Spezial und spülte den milchigen Inhalt auf ex hinunter. Brennend schlich der konzentrierte Alkohol durch ihre Speiseröhre. Enttäuschung legte sich über sie wie eine Bleidecke.

    Schlechte

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