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Innendrin: Umwege ins Leben
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Innendrin: Umwege ins Leben
eBook532 Seiten6 Stunden

Innendrin: Umwege ins Leben

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Über dieses E-Book

Lucas Finger hielten sich im Fensterrahmen fest. "Glaubst du, das alles hat schon etwas mit den Hormonen zu tun?"

Rebecca hob die Schulter. "Ich glaube, es hat etwas mit dir zu tun. Damit, dass du jetzt im Gartenhaus wohnst und die Transition weitergeht. Damit, dass du die Clique hast und einen Bruder. Damit, dass du Mira begegnet bist ..."

"Wann warst du zum ersten Mal verliebt?", wollte Luca von ihrer Beinah-Schwester wissen. 

"Mit elf", erklärte Rebecca. Sie schwang sich vom Fensterbrett und zog die Jacke enger. "Das hatte auch noch nicht viel mit Hormonen zu tun, und ich wollte trotzdem mit ihm durchbrennen." 

 

Nachdem Luca ins Gartenhaus gezogen ist, unterscheidet sich ihr Leben grundlegend von allem Bisherigen. Doch auch die Vergangenheit im Camper mit ihrer drogenabhängigen Mutter, der sexuellen Gewalt durch ihren Ziehvater und die traumatischen Behandlungserfahrungen aufgrund ihrer Transidentität prägen ihre Gegenwart. Gleichzeitig erlebt auch Mira, dass Dinge, die sie hinter sich gelassen hat, wieder auftauchen - obwohl sie nur unvollständiges Wissen darüber hat. Azra, eine frühere Freundin, platzt in ihre Herbstferien hinein und weckt in Mira unter anderem Erinnerungen an die Zeit, als ihre Schwester starb. Aber nicht nur Miras und Lucas Leben werden durcheinandergewirbelt, als sich die Klinik-Clique einer Reihe neuer, beunruhigender Herausforderungen stellen muss. 

 

 

'Innendrin' ist der fünfte Band der Reihe 'Umwege ins Leben'. 

 

Bereits erschienen sind: 

'Stationär' (Band 1)

'Außerhalb' (Band 2)

'Jenseits' (Band 3)

'Nebenan' (Band 4)

 

Für die gesamte Buchreihe gilt eine Triggerwarnung.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum10. Aug. 2021
ISBN9783748791249
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    Buchvorschau

    Innendrin - Fia-Lisa Espen

    Personenverzeichnis

    Luca

    21 Jahre alt,

    Schwester von Ben,

    Beinah-Schwester von Rebecca

    Mira

    17 Jahre alt,

    Schwester von Elias und Laura (†)

    Rebecca

    26 Jahre alt,

    Beinah-Schwester von Luca,

    ›Gerade-nicht-so-richtig-Partnerin‹ von Charlotte,

    in ›Stationär‹ Patientin auf der Borderline-/Trauma-Station

    Ben

    26 Jahre alt, Bruder von Luca,

    bester Freund von Elias,

    Partner von Milan,

    Bassist bei ›Not a clue‹

    Elias

    26 Jahre alt,

    Bruder von Mira und Laura (†),

    Partner von Maja,

    Gitarrist bei ›Not a clue‹,

    in ›Stationär‹ Patient auf der Borderline-/Trauma-Station

    Julie

    17 Jahre alt,

    Freundin von Mira und Charlotte,

    in ›Stationär‹ Patientin auf der Essstörungsstation

    Charlotte

    20 Jahre alt,

    Freundin von Julie,

    ›Gerade-nicht-so-richtig-Partnerin‹ von Rebecca,

    ›Gerade-nicht-Partnerin‹ von Mirjam,

    in ›Stationär‹ Patientin auf der Essstörungsstation

    Maja

    27 Jahre alt,

    Partnerin von Elias,

    in ›Stationär‹ Patientin auf der Borderline-/Trauma-Station

    Louise 

    18 Jahre alt,

    abgespaltener Persönlichkeitsanteil von Maja,

    beste Freundin von Rebecca

    Isa

    17 Jahre alt,

    abgespaltener Persönlichkeitsanteil von Maja,

    singt statt zu sprechen

    Error 

    ungefähr 26 Jahre alt,

    abgespaltener Persönlichkeitsanteil von Maja,

    Beschützer im Persönlichkeitssystem

    Lenny

    9 Jahre alt,

    abgespaltener Persönlichkeitsanteil von Maja

    Ella

    14 Jahre alt,

    abgespaltener Persönlichkeitsanteil von Maja

    Azra

    18 Jahre alt,

    Freundin von Mira

    Milan

    24 Jahre alt,

    Partner von Ben

    Sina

    26 Jahre alt,

    Freundin von Ben und Elias,

    Sängerin bei ›Not a clue‹

    Jannik

    21 Jahre alt,

    Bruder von Mirjam,

    Vater von Lotta-Pauline

    Mirjam

    20 Jahre alt,

    Schwester von Jannik,

    Mutter von Lotta-Pauline,

    ›Gerade-nicht-Partnerin‹ von Charlotte,

    in ›Stationär‹ Patientin auf der Essstörungsstation

    Lotta-Pauline, genannt Pauline

    3-4 Monate alt,

    Tochter von Mirjam und Jannik

    Tom

    21 Jahre alt,

    Freund von Julie,

    in ›Stationär‹ Patient auf der Essstörungsstation

    Flo

    6 Jahre alt,

    Julies Bruder

    Alfred

    über 80 Jahre alt,

    Nachbar von Ben und Luca in der Gartensiedlung

    André

    Vater von Elias, Laura (†) und Mira

    Anke

    Mutter von Elias, Laura (†) und Mira

    Eike

    Andrés Frau

    Adoptivmutter von Mira

    Benedikt

    Vater von Julie

    Therese

    Mutter von Julie

    Inka (†) 

    Mutter von Ben und Luca

    Jonte (†) 

    Großvater von Ben und Luca,

    außerdem Adoptivvater von Ben

    Alex

    Vater von Ben

    Frau Finke

    Lucas Therapeutin

    Dr. Noack

    Lucas Psychiater

    Dr. Balthus

    Lucas Urologe

    Dr. Gräbert

    Majas Onkel (unehelicher Sohn ihres Großvaters),

    ihr ehemaliger Psychiater

    Ida und Bram

    wohnen in der Nachbarschaft von Majas Hof

    Marieke

    Nichte von Ida und Bram,

    Hebamme, bei der Charlotte ihr Praktikum macht

    Samstag, 26.9.

    Luca lehnte ihren Kopf gegen das Busfenster und ließ sich über die Landstraße hinwegschaukeln. Einen Augenblick lang schloss sie erschöpft die Augen. Es war einer der langen Arbeitstage gewesen, und die waren auch im zweiten Ausbildungsjahr noch eine Herausforderung. Aber so erledigt sie auch war, ihre Haltestelle wollte sie nicht verpassen. Luca blinzelte in die sinkende Sonne. Seit ihrem Umzug hatte sich der Weg zum Tierheim deutlich verkürzt. Luca wühlte in ihrem Rucksack und zog zwischen zwei Büchern den Disso-Stein heraus. Auch wenn es gerade keine destruktiven psychischen Zustände zu stoppen galt, half ihr der Druck in der Handfläche wachzubleiben. 

    »Der ist wirklich besonders.« Rebeccas schmale Finger fuhren über die blaugraue Spitze des Steins. »Du hast ein viele Millionen Jahre altes Anti-Dissoziativum.«

    Luca schob eine dunkelblonde Strähne hinter das Ohr. »Ich habe ihn beim Ausgang in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gefunden. Da waren die Kerben noch scharfkantiger.« 

    Rebeccas mehrfach gepiercte Braue hob sich. »Und du durftest ihn dennoch behalten?«

    Luca nahm den Stein aus der Hand ihrer Beinah-Schwester wieder entgegen. »Ich habe ihn bis zur Entlassung draußen versteckt.« 

    Die schmutzige Busfensterscheibe überzog das Licht mit einem diesigen Schleier. Gleich konnte sie sich noch eine Weile in den Garten setzen und lesen. Wenigstens bis die abendliche Septemberkühle aufzog. Auch Ben war sicher noch draußen und werkelte im Garten.

    Luca ahnte die Andeutung eines Lächelns auf ihrem unvollständigen Busfenster-Spiegelbild. Dieser Sommer hatte nicht nur die fragile und zugleich von metallerner Unbeugsamkeit durchsetzte Rebecca in ihr Leben gebracht, sondern auch einen Halbbruder. Und dann waren da auch noch die anderen. In Lucas Gedanken tauchten all die Gesichter und Menschen auf, die sie in den vergangenen Wochen kennengelernt hatte. Luca wusste noch nicht genau, wie sie mit dieser Invasion an Verbundenheit umgehen konnte. Aber sie war froh, ins Gartenhaus gezogen zu sein, auch wenn noch nicht klar war, wie es mit Bens halblegalem Zuhause weitergehen würde.

    Wenigstens würde sie sich heute Abend ausruhen können, ohne dass sie jemand daran hinderte. Luca seufzte dankbar. Bis vor Kurzem hatte sie in einem sozialpsychiatrischen Wohnheim gelebt, und dort hatte es etliche fremdbestimmte Programmpunkte gegeben. Es war ungewohnt, ohne das komplexe Regelwerk zu leben, aber durch Ben und die anderen war sie nach ihrem Auszug nicht so abgestürzt wie andere vor ihr.

    ›Sogar nach der Klinik muss man sich erst mal wieder draußen zurechtfinden‹, hatte Rebecca gesagt, ›in der Selbstbestimmung, ohne die vorgegebene Struktur. Und da ist man nicht so lange wie im betreuten Wohnen.‹

    Luca wusste, dass sie unwahrscheinliches Glück gehabt hatte, in ein Netzwerk entlassen worden zu sein, das sich gerade zu dem Zeitpunkt gebildet hatte, als ihr Auszug bevorstand. 

    Im Vorbeifahren realisierte sie, dass sie die Häuserreihe vor der Biegung, die zu ihrer Haltestelle führte, erreicht hatte, und drückte den Signalknopf. Sie zog den Riemen ihres Rucksacks über die Schulter. Es war nicht absehbar, wie ihr Leben sich weiterentwickeln würde, aber sie hatte in Wenigem mehr Übung als darin, ungewiss zu leben. 

    Mira öffnete Alfreds verwitterte Gartenpforte und schob einige Zweige der Felsenbirne zur Seite. Danach sah sie an der Schwengelpumpe den Hausbesitzer in ausgeleierten Hosen stehen. 

    »Hallo Alfred«, rief sie dem alten Mann zu.

    Bens Gartenhausnachbar drehte sich um. »Hallo Mira«, grüßte er lächelnd. »Julie ist hinten in der Laube.« 

    »Ich weiß, das hat sie mir geschrieben.« Mira ließ ihren Blick über die Obstbäume und das Hochbeet wandern, bevor er an Alfred hängen blieb, der mit gleichmäßigem Schwung die Gießkannen füllte. Noch nicht einmal ihr großer Bruder strahlte eine so ausgeglichene Ruhe aus wie dieser alte Mann. »Soll ich Wasser für die Rosen mitnehmen?«, erkundigte sie sich und deutete auf die Gießkannen. 

    »Nein, nein.« Alfred schüttelte gelassen den Kopf. »Das mache ich später.« 

    »Dann gehe ich nach hinten.« 

    »Gut.« Der alte Mann lächelte ihr zu. »Ich komme dann mit dem Tee, wie immer.« 

    Mira winkte ihm noch einmal zu und ging dann über die grasbewachsenen Pflastersteine in Richtung Haus. Früher war sie oft mit ihrem Bruder in der Gartensiedlung gewesen.

    Elias hatte sich nebenan mit seinem Freund Ben getroffen, und Mira war ab und zu nach drüben gegangen, um Alfred zu besuchen. Dann hatte sie mit dem alten Mann Tee getrunken und Buchstaben aus seinen Zeitungen ausgeschnitten. Der alte Gartenhausnachbar hatte eine Fähigkeit, die den meisten Erwachsenen abging: Er konnte da sein, ohne sich einzumischen. Das zeigte sich auch in seinem Umgang mit Julie, der er einen Lernort im hinteren Garten bot. Alfred hatte Miras Freundin besonders ins Herz geschlossen, und trotz seiner Ungezwungenheit im Umgang mit Julies Untergewicht passte er gut auf sie auf.

    Mira umrundete Alfreds von Wein umranktes Haus und erblickte Julie am Pavillon-Tisch. Gedankenverloren und mit einem verfärbten Blatt in den Engelslocken hob ihre Freundin den Kopf.

    »Du siehst aus, als würdest du für Renoir oder Monet Modell sitzen«, begrüßte Mira sie und zog das Blatt aus Julies Haar. »Nur deine Kleidung ist nicht ganz stilecht.« 

    Julie schaute an ihrem Baumwollshirt herab. »Nein, wohl eher nicht. Aber im 19. Jahrhundert bin ich gerade tatsächlich. Nur ein paar Jahrzehnte vor dem Impressionismus.«

    »Mit wem?« Mira warf einen Blick auf die Unterlagen. »Ach ja, Bentham und Mill. Du bereitest dich also für die Nachholklausur vor.«

    »Ja.« Julie schaute auf die Notizen und verzwirbelte eine Locke. »Die Vorletzte. Aber für Kunst habe ich kaum noch Zeit.« 

    Auch Mira fand, dass die Nachholklausuren eng geblockt waren. So als wollte das Lehrerkollegium nicht nur Julies Wissen, sondern auch ihre Stressresistenz prüfen. Und das war das Einzige, was Mira beunruhigte. Die Lerninhalte waren kein Problem für Julie, ihre Prüfungsangst schon. 

    »Für Kunst bist du schon vorbereitet.« Mira ließ sich auf einem der Stühle mit der abgeplatzten Farbe nieder. »Damit hast du dich sogar in der Klinik beschäftigt. Vor deinem Bett lag ein ganzer Stapel Fachbücher über die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts.«

    Es waren die Monate in Klinik und Tagesklinik gewesen, die Julie den ganzen Schulstoff hatten versäumen lassen. Aber sie hatte auf gar keinen Fall zurückgestuft werden wollen. Und so lernte sie seit geraumer Zeit für das elfte und zwölfte Schuljahr gleichzeitig. 

    Mira betrachtete ihre Freundin aufmerksam. Sie wirkte blass und angespannt, außerdem war sie weiterhin zu dünn, aber noch hatte Julie keinen Kampf aufgegeben. Weder den um die Versetzung noch den gegen die Anorexie. Mira war überzeugt davon, dass Julies Anwesenheit in der Gartensiedlung dabei eine große Rolle spielte. Es tat ihr gut, an diesem Ort zu sein, und Mira wünschte ihr nichts mehr, als dauerhaft hier leben zu dürfen. 

    »Gibt es eigentlich irgendwas Neues von Benedikt?«, erkundigte sie sich.

    Vor einigen Tagen hatte Julie ihre Eltern mit Unterstützung ihrer Therapeutin darum gebeten, bei Ben im Gartenhaus wohnen zu dürfen. Alle aus der Clique hatten sie zu diesem Schritt ermutigt, und Mira hatte Stunden damit verbracht, Julie bei der argumentativen Vorbereitung zu helfen. Aber Benedikt hatte die Sitzung abgebrochen und eine Antwort verweigert. 

    »Nein.« Julie blickte auf ihre Notizen, als hätte sie dort etwas entdeckt, das ihre ganze Aufmerksamkeit forderte. 

    Mira presste die Lippen aufeinander und verfluchte sich stumm selbst. Sie hätte nicht fragen sollen. Wenn es Neuigkeiten gab, würde Julie sie ihr mitteilen, und so erinnerte sie ihre Freundin nur an die angespannte Atmosphäre zu Hause. Benedikt schwieg sich aus, seit er die Therapiestunde verlassen hatte, und das war leider nichts Neues. Julies Vater spielte auf seiner Tochter wie auf einem Instrument. Er wusste genau, welche Saiten er anschlagen musste. Sein abweisendes Schweigen war nichts weiter als eine Taktik, die Julie dazu bringen sollte, ihren Wunsch zurückzunehmen.  

    Und die wusste das genauso wie Mira, nur musste Julie auch aushalten, was ihr Mut bewirkt hatte: sein Gekränktsein, das sich in manipulativem Verhalten zeigte.   

    »Du hältst das aus«, beschwor Mira ihre Freundin. »Es ist nur ein Machtspiel.«

    »Wahrscheinlich«, bestätigte Julie unglücklich. »Aber ich weiß nicht, wie lange ich das aushalten kann.«

    »Rufst du mich an, bevor du glaubst, alles zurücknehmen zu müssen?«, bat Mira. 

    »Das wollte Charlotte auch schon.«

    »Gut.« Mira lächelte sie aufmunternd an. »Dann sind wir uns in dem Punkt ja einig.« 

    Sie wusste nicht, ob es reichen würde, damit Julie gegenüber Benedikt bestand, aber es erleichterte sie. Denn Julie brauchte alle Unterstützung, die sie kriegen konnte, um nicht das zu tun, was sie immer tat: Auf Lebensnotwendiges verzichten. 

    »Sollen wir Mathe machen?«, fragte Julie. »Du wolltest doch, dass ich dir etwas erkläre, bei den Aufgaben zur Bernoullie-Kette.« 

    Mira unterdrückte ein Seufzen. An Mathe dachte sie fast so ungern wie an Julies Vater. Aber sie wusste, dass dieses Fach eine beruhigende Wirkung auf Julie hatte. Also war sie bereit, die eintönige Welt der Wahrscheinlichkeitsrechnung als Ausstieg aus dem schwierigen Thema zu akzeptieren.

    »Okay. Aber spätestens, wenn Alfred mit dem Tee kommt, hören wir auf.« 

    Als Luca in den Garten kam, hörte sie ihren Bruder im Schuppen rumoren. Sie zog einen der Plastikstühle in die Herbstsonne und wischte gelbbraune Birnbaumblätter von der Sitzfläche. An diesem Wochenende wollte Ben eine Entrümpelungsaktion durchführen. Also konnte es sein, dass er im Schuppen bereits das ein oder andere aussortierte. Denn ganz offensichtlich hatte ihr Großvater das zu Lebzeiten nicht getan. 

    »Hallo Schwesterherz.« Ben trat aus der Schuppentür heraus und mit einem verschwitzten Lächeln auf sie zu. »Wie war dein Tag?«

    »Gut.« Luca musste ebenfalls lächeln. Diese Anrede hatte noch immer etwas Gewöhnungsbedürftiges, weil sie sich erst so kurze Zeit kannten, aber aus irgendwelchen Gründen mochte sie die verbale Nähe, die ihr Bruder auf diese Weise herstellte. »Wie war deiner?«, wollte sie wissen.

    Ben blickte erst auf den Schuppen und deutete dann auf die hintere Ecke des Gartens. »Er wurde besser, während ich das Gehege fertiggebaut habe.« 

    Luca folgte seinem Blick und sah die Ränder eines großzügig angelegten Auslaufs. Bisher hatte dort nur ein alter, heruntergekommener Stall gestanden, aber da bald zwei junge Kaninchen einziehen sollten, hatte Ben in den vergangenen Wochen begonnen, das Gehege zu bauen und den Stall als Unterschlupf auszubessern. 

    »Es sieht gut aus«, meinte Luca. »Sie werden sich dort wohlfühlen.« Dann betrachtete sie Bens leicht abwesenden Ausdruck noch einmal. »Und was war vorher?«,

    Ben hatte manchmal eine ungewöhnliche Art, mit Fragen umzugehen. Nicht dass er abweisend geworden wäre oder ungehalten, er äußerte sich nur absolut undurchsichtig, bevor er davon ging. Aber wenn man seinem Partner Milan glauben konnte, tat er das auch bei anderen. Es war also nichts, worum Luca sich mehr Gedanken machen musste als der Rest der Clique. 

    »Vorher hat sich Alex gemeldet«, berichtete Ben ausweichend.

    Luca nickte. Alex war Bens Vater, aber auch er war erst in diesem Sommer aufgetaucht. Und deshalb hatten sie erst ein Mal Kontakt gehabt: Ben hatte Alex in seiner Anwaltskanzlei angerufen, um ihn um seine juristische Hilfe zu bitten. Und Alex hatte versprochen, sich zu melden. 

    »Er kommt Donnerstagabend«, beschloss Ben dann mitzuteilen. »Kannst du da zu Hause sein?«

    Luca nickte. »Kein Problem. War er okay?«

    Ben zuckte mit der Schulter. »Wir haben uns nur kurz verabredet. Da konnte er nicht auf eine bestimmte Weise sein.« 

    Zwischen den Worten hing die verborgene Aufwühlung ihres Bruders, und Luca konnte sie nachvollziehen. Ben hatte einen schwierigen Sommer hinter sich, in dem sich viele Annahmen, mit denen er aufgewachsen war, als Unwahrheiten herausgestellt hatten. Er wollte keine weiteren Belastungen und Verstörungen, er wollte Alex nur ein paar Fragen zu juristischen Problemen bei der Erbschaft stellen. Aber auch das fand Luca bereits mutig. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie unter diesen Umständen nach ihrem Vater Ausschau gehalten hätte. 

    »Ich werde da sein«, versprach sie. 

    »Gut. Dann gehe ich jetzt duschen.« Ben lächelte sie noch einmal an, klopfte sich die Spinnweben vom Pullover und verschwand auf langen Beinen im Haus. 

    Luca holte ihr Buch aus ihrem Rucksack und lehnte sich im Stuhl zurück, während der Wind in den Blättern auffrischte. Es war doch rascher kühl geworden, als sie gedacht hatte. Aber sie würde noch eine Weile hier sitzen und den Aufschub genießen, den Ben ihr verschafft hatte. Sie würde erst später duschen müssen. 

    Mira trug das Tablett mit dem benutzten Teegeschirr zurück zu Alfreds Haus. Es dämmerte bereits, und Julie war längst gegangen, um ihren kleinen Bruder aus der Betreuung abzuholen. Letztlich hatten sie alle Bernoullie-Aufgaben gelöst, und danach war Julie gelassen genug gewesen, um Mira auch noch ihre Ethik-Notizen zu erklären.

    Der aufkommende Wind hatte die Unterlagen verweht, und Mira hatte sich gewünscht, dass Julies Selbstvertrauen mit jeder Prüfung wachsen würde – bis es vielleicht irgendwann auch vor Benedikt bestand. 

    Die blau bedruckten Tassen klapperten auf dem Tablett, als Mira den unebenen Pflastersteinen zum Haus folgte. Dann hörte sie ein Geräusch aus dem Nachbargarten und hob den Blick. Gerade war Bens Schwester mit einer Wolldecke aus dem Schuppen getreten und drückte die Tür ins Schloss.

    »Hallo Luca«, begrüßte sie den Cliquen-Neuzuwachs lächelnd. 

    Als sie das Mädchen mit den dunkelblauen Augen zuletzt gesehen hatte, hatten sie auf der Schwelle zum Gartenhaus gesessen und über Ovids Metamorphosen geredet. Und danach hatte Luca ihr ein Buch geliehen. Mira kannte niemanden sonst, der genau wie sie immer etwas zu Lesen mit sich herumtrug. 

    »Hey.« Lucas Augen lächelten sie an. »Was liest du gerade?«

    »Deine Graphic novel«, erwiderte Mira.

    Als Bens Schwester ihr den Band gegeben hatte, war Mira bewusst geworden, dass Luca einen Bogen über zweitausend Jahre Literatur geschlagen hatte. Ovid hatte die Geschichte von Iphis erzählt, die in einen Mann verwandelt wurde, damit sie ihre Geliebte heiraten konnte, und die Graphic novel erzählte die Geschichte eines Transjungen in eindrücklichen Bildern und Worten. Bisher hatte Mira sich noch nicht überwinden können, den Band zurückzugeben.

    »Und du?«, fragte sie mit Blick auf das Buch in Lucas Hand zurück.  

    »›Orlando‹, von Virginia Woolf«, erklärte Bens Schwester. »Ich habe die Ausgabe in dem kleinen Antiquariat neben deiner Schule gefunden.« 

    »Das ist einer meiner Lieblingsorte«, berichtete Mira. »Ist das Buch gut?« 

    »Natürlich, es ist von Virginia Woolf.« Luca blinzelte. »Aber mir ist kalt geworden, deshalb habe ich eine Decke aus dem Schuppen geholt.«

    »Die ist warm«, bestätigte Mira. »Bens Großvater hat mich früher darin eingewickelt, wenn es spät wurde und Ben und Elias sich noch nicht von ihren Gitarren trennen konnten.« Dann unterbrach sie sich. »Du hättest auch da sein sollen, damals ...«

    Denn Jonte war auch ihr Großvater gewesen, und plötzlich fragte sich Mira, wie es gewesen wäre, wenn es neben den großen Jungen auch noch Luca im Gartenhaus gegeben hätte. Ob sie sich mit dem Kind Luca angefreundet hätte ...

    »Dann wäre alles anders gewesen«, erwiderte Luca. 

    »Ja«, bestätigte Mira beim Versuch, sich eine so frühe Begegnung vorzustellen. Lucas Geschichte, die von ihnen allen, wäre so anders gewesen, dass es kaum vorstellbar war. »Aber wenigstens bist du jetzt da!« 

    »Das bin ich.« Lucas dunkelblaue Augen lächelten. »Und ich darf im Garten lesen.«  

    »Dann tu das«, meinte Mira und warf einen kurzen Blick in Alfred Fenster. »Ich bringe das Geschirr mal rein. Und beim nächsten Mal musst du mir von ›Orlando‹ erzählen!« 

    »Das mache ich«, versprach Luca.

    Mira spürte ihr einseitiges Grübchen lächeln und balancierte dann das Tablett zu Alfreds Haus. Vielleicht konnte er ihr als ehemaliger Lateinlehrer eines Tages noch mehr zu Ovid erzählen. Ob Iphis auch mal einen anderen Namen gehabt hatte?

    »Luca«, wandte Mira sich abrupt um. »Wann wusstest du, was dein richtiger Name ist?«

    »Mit fünf«, antwortete Bens Schwester. »Wir sollten einen Buch-Club gründen!« Dann winkte sie ihr mit ›Orlando‹ zu und machte sich auf den Weg zu ihrem Stuhl. 

    Luca hielt die Klinke der Badezimmertür noch in der Hand und atmete durch. Die Ablenkung durch Mira hatte gut getan, und die Frage nach ihrem Namen hatte die erste Erinnerung daran zurückgebracht, wer sie war. Doch nun stand sie in diesem Türrahmen und vor ihrer abendlichen Trauma-Begegnung. Mit einer Hebelbewegung zog sie die schief hängende Badezimmertür ins Schloss, und das ausgeblichene Holz rastete im Rahmen ein. 

    ›Es ist alles gut‹, beschwor sie den Ausnahmemodus ihres Gehirns. ›Du bist im Gartenhaus, die Tür hat einen altmodischen Riegel und du bist ganz allein.‹

    Als sie mit fünf erkannt hatte, dass sie Luca war, hatte sich das nach Befreiung und Ankommen zugleich angefühlt, doch kaum ein halbes Jahr später waren Dinge geschehen, die beides hatten zerstören wollen. 

    Luca warf noch einen Blick auf die Tür und begann dann, sich aus der Kleidung zu schälen. Alle Arbeitstage endeten mit der unvermeidlichen Dusche am Abend. Seit Beginn der Ausbildung war das so, und doch war es noch immer eine Qual. Sie löste den Hosenknopf, und die Jeans rutschte über die schmale Hüfte zu Boden. Luca schob sie mit einem wackeligen Bein zur Seite. Dann zog sie das Longsleeve über ihren Kopf und streifte den BH mit den Silikoneinlagen ab. Bevor sie das, was sie sarkastisch ihre ›Dessous-Collage‹ nannte, über die Beckenknochen schob, atmete sie noch einmal tief durch. Sie hatte schon unterschiedliche Versionen von Unterwäsche probiert und war schließlich bei einer engen Miederhose mit einer Panty darüber hängen geblieben. Luca stopfte beides unter das Shirt und verschwand mit einer raschen Bewegung unter der Dusche.

    Die Therapeutinnen, denen sie im Laufe ihres Lebens begegnet war, hatten ihr bisher nicht helfen können, diese Situation erträglicher zu gestalten. Aber das lag auch daran, dass Luca sie in dem Glauben gelassen hatte, es ginge ausschließlich um eine Identitätsproblematik.

    Unglücklicherweise gestaltete sich das Duschen im Gartenhaus besonders kompliziert. Das Wasser wechselte dauernd seine Temperatur und musste durch beständiges An- und Abdrehen neu angepasst werden. Diese Wasserregulation ließ sich nicht mit geschlossenen Augen erledigen, und so bedeutete sie eine vermehrte Konfrontation mit ihrem Körper – was Luca weitgehend vermeiden wollte. 

    Sie drehte den Wasserhahn in eine Position, die erfahrungsgemäß am Anfang lauwarmes Wasser produzierte. Während sie auf den Anstieg der Wassertemperatur wartete, machte sie bereits die Augen zu. Je weniger Luca von ihrem Körper sah, desto besser. Das Problem an diesem Vorgehen war nur, dass sie so auch weniger von der Gegenwart wahrnahm. 

    ›Ich weiß, wie du ein Mädchen werden kannst ...‹

    Die Männerstimme schien in ihr Ohr zu raunen, und Luca durchlief ein Beben. Das Duschen war ein unauflösbares Dilemma. 

    ›... ich kann dich behandeln.‹

    Lucas Körper zuckte unter dem Ansturm der Vergangenheit, und sie riss die Brause aus der Halterung. Die Wassertemperatur war ihr jetzt gleichgültig, sie wollte nur diesen Flashback abwehren. Aber so rasch sie sich auch wusch, ihre Hände erkannten doch, was ihre Netzhaut nicht wahrnehmen sollte. Ihre Fingerspitzen ertasteten die großflächig vernarbte Haut, die jungenhaft flache Brust und zuletzt auch ihr irreführendes Genital. Nichts davon war auch nur annäherungsweise so, wie es sein müsste, und genau deshalb erzählte ausgerechnet ihr Körper präzise von ihrer Wirklichkeit. 

    ›Bist du ein Doktor?‹, flüsterte ihre Kinderstimme.

    ›Ja.‹ Der Mann lachte rau. ›Ich bin ein Spezial-Doktor.‹

    Luca drehte den Wasserhahn so weit wie möglich auf, und das immer kälter werdende Duschwasser prasselte auf ihre Haut. Sie wollte unbedingt fertig werden, bevor die Flashbackschmerzen heranrollten. Als sie schließlich das Wasser aus ihren Haaren drückte, hatte sich Gänsehaut auf ihren Armen gebildet. Luca zerrte ihr Handtuch vom Haken. Sie musste sich nur noch abtrocknen und anziehen – bis zum nächsten Tag. 

    Sonntag, 27.9.

    An diesem Morgen war Mira früh zu einer Runde mit ihrer Hündin aufgebrochen. Es war unsonntäglich ungemütlich in der Wohnung gewesen, weil ihre Adoptivmutter Eike die Sachen für ihren Urlaub zusammenpackte. Ihr Vater André dagegen war geistig bereits jetzt abwesend, und so hatte Mira ihren Hund gerufen und war rausgegangen. 

    Sie hatte sich für die Altstadtrunde entschieden, um einen Blick in das Schaufenster des Antiquariats werfen zu können. Nun betrachtete sie die Auslagen und dachte an ›Orlando‹, das Bens Schwester auch hier entdeckt hatte. Gestern Abend hatte sie noch recherchiert, dass die Hauptfigur sich im Laufe des Romans von einem jungen Mann in eine Frau verwandelte. Aber wahrscheinlich war das nicht der einzige Aspekt, der Luca an Virginia Woolfs Geschichte ansprach. Mira hoffte, demnächst die Gelegenheit zu haben, mit ihr darüber zu reden. Sie wollte sich gerade dem zweiten Schaufenster widmen, als ihr Handy zu klingeln begann.

    »Lieblingsbruder«, begrüßte sie den Sechsundzwanzigjährigen, »du schläfst an diesem Sonntag also auch nicht aus?«

    »Das verschieben wir aufs nächste Wochenende«, sagte er, und Mira hörte ihn lächeln. 

    »Wenn ihr hier seid«, erklärte sie und spürte, wie das Grübchen in ihrer linken Wange zuckte. 

    Schon vor Wochen hatte sie den Besuch in ihrem Philosophie-Kalender eingetragen. Genau genommen seit Maja ihren Termin bei der Psychiaterin hatte, und nun war es bald so weit. Mira freute sich bei jedem Blick auf Blaise Pascale darauf, Elias und seine Freundin wiederzusehen. Aber sie wusste, dass Maja dem Termin mit gemischten Gefühlen entgegensah. 

    »Maja und die anderen sind wahrscheinlich schon ziemlich angespannt«, mutmaßte Mira.

    »Ja, das sind sie«, bestätigte Elias.

    Und das war nicht verwunderlich, dachte Mira. Immerhin war es ihr erster Versuch, sich psychiatrische Hilfe zu holen, nachdem sie vor einem Jahr bei einem psychopathischen Arzt gewesen waren, der sich als Halbbruder ihres Vaters herausgestellt hatte. Außerdem hatte sich gezeigt, dass Dr. Gräbert Maja bereits als Kind schwer traumatisiert und ihre dissoziative Identität geschaffen hatte. Er gehörte zu einem Zirkel, der es darauf angelegt hatte, Maja zurückzuholen, und so war es vollkommen verständlich, wenn Maja oder einer ihrer dissoziierten Persönlichkeitsanteile vollkommen panisch auf Psychiatertermine reagierte. 

    »Aber wir kriegen das hin«, sagte Elias. »Ich dachte nur, es wäre gut, den Termin mit etwas Positivem zu verbinden. Und deshalb kommen wir schon Freitag.« 

    »Wirklich?«, strahlte Mira. Sie hatte auf eine Übernachtung gehofft, aber ein ganzes Wochenende war natürlich noch viel besser.

    Ihr Bruder lachte. »Ben will das Gartenhaus weiter entrümpeln«, berichtete er. »Damit Julie Platz hat – und überhaupt alle ...«

    Mira nickte. Das Gartenhaus wurde von allen aus der Clique besucht, und dass Ben das Schreibzimmer für Julie vorbereiten wollte, ohne dass ihr Umzug gewiss war, erwärmte Mira noch mehr für ihn. Ben war ihr Zusatz-Bruder, und sie war gern bereit, ihn mit Julie zu teilen. 

    »Wir können ihm alle helfen«, schlug sie vor. 

    »Genau das habe ich mir auch gedacht«, meinte ihr Bruder. »Sagst du André Bescheid, dass wir früher kommen?«

    »Ich schreibe ihm gleich«, versprach Mira. »Und weil Eike im Urlaub ist, backe ich den Willkommenskuchen.« 

    Elias lachte. »Ich freue mich auf dich! Bis Freitagabend dann!«

    »Bis Freitag – grüß Maja und die anderen!« 

    Mira legte auf und wuschelte ihrem Hund durch das Fell. »Das wird ein großartiges Wochenende«, versprach sie Tonks. 

    In wenigen Tagen würde sie ihren Bruder sehen und außerdem Teile der Clique. Sie würde in der Gartensiedlung sein und mit Luca reden können. Außerdem waren Julies Prüfungen dann vorüber. Das Wochenende würde auch von der Aussicht auf Majas Arztbegegnung überschattet werden, aber im Vorgespräch hatte sich die Psychiaterin offen und kooperativ gezeigt. Mira hoffte also mit Elias, dass alle Befürchtungen überflüssig waren.  

    »Jetzt muss nur noch Julie bestehen«, flüsterte sie Tonks zu, »und ein kleines Wunder Benedikt vom Gartenhausumzug überzeugen.« 

    Im Laufe des Vormittags hatte sich der Himmel zugezogen, und Luca beschloss, den schwarzen Hundesenior mit in ihre Pause zu nehmen. Der Neuzugang war seit seiner Ankunft noch nicht nach draußen gekommen, und Luca wollte ein bisschen herumlaufen. Auch wenn sie bei der Arbeit mehr als genug Bewegung bekam, brauchte sie es gelegentlich, das Tierheim zu verlassen.

    Vor allem an Tagen, denen Albtraumnächte vorausgegangen waren und an denen sie das Gefühl brauchte, nicht eingesperrt zu sein. Sie nahm eine Leine vom Haken und holte Robin aus dem Zwinger. Der große Hund sah sie beinah ungläubig an, folgte ihr dann aber bereitwillig durch das Tor.  

    Luca ließ Robin den Weg bestimmen und begleitete ihn durch die abgeernteten Felder. Als einzelne Tropfen begannen, vom Himmel zu fallen, zog sie die Kapuze über den Kopf. 

    »Dir macht der Regen nichts aus, oder?« Sie betrachtete den zotteligen Hunderiesen, der an einem Strauch schnupperte. 

    Doch dann brachen urplötzlich derartige Wassermassen aus den Wolken, dass Luca Robin in das Bushäuschen zog. 

    »Ich habe keine Wechselklamotten hier«, erklärte sie ihm. »Und der Arbeitstag dauert noch ein paar Stunden.« Sie streichelte dem schwarzen Vierbeiner über den Kopf. »Wir warten hier, und demnächst deponiere ich wieder ein paar Kleidungsstücke im Tierheim.« 

    Sie ließ sich auf der Bank nieder und blickte in den Regen hinaus. Eine nasskalte Böe schlug herein und ließ sie frösteln. Luca zog die Jackenärmel über die Hände und blickte sich um. Am verkratzten Glas des Unterstandes rann das Wasser herab, und gelegentlich schlug der Wind mit Regentropfen nach ihr. 

    Die fünfjährige Luca sah durch einen Schleier aus Wassertropfen auf die Wand des Duschwagens. Ihr nackter Körper zitterte vor Kälte und Furcht. Bob hatte sie unter die Brause gestoßen, bevor das Wasser ausreichend warm geworden war. Sie hörte, wie er sich fluchend auszog. Dann gab der Boden des Duschwagens nach, als er hinter sie trat.

    Schon mehrmals war der sich neigende Untergrund das Letzte gewesen, was sie wahrgenommen hatte, bevor ihr schwarz vor Augen geworden war. Eine stürzende Welt und ein brachialer Schmerz hatten Bobs Behandlung beendet, und doch versuchte er es immer wieder. 

    Luca spürte, wie sich sein Unterleib an ihren Kinderkörper presste. Irgendwo an ihrem Rücken pulsierte es, und eine unbeugsame Hand drückte hart gegen ihren Brustkorb. Es war eine große Hand, die ihren Oberkörper fast umschloss. Luca starrte auf die schwarzen Haare auf dem Handrücken, dann wurde sie von einer zweiten Hand ruckartig vom Boden gerissen, und ein reißender Schmerz zuckte durch ihren Körper, als Bob in sie eindrang. 

    Luca fühlte das Echo des Schmerzes in ihren Eingeweiden und schlang die Arme um ihren Unterleib. Vornübergebeugt hockte sie auf der Kante des Sitzes und wartete darauf, dass der Flashback abebbte. Die Augen zu Boden gerichtet, konzentrierte sie sich auf den Asphaltboden.

    ›Es ist Vergangenheit‹, versuchte sie sich zu sagen. ›Und Bob ist im Gefängnis.‹

    Eine große, schwarze Schnauze bohrte sich in ihre Seite und zwang sie aufzuschauen. Robin schob seinen schweren Kopf auf ihren Schoß, und Luca wiederholte ihre Selbstbeschwörung.

    ›Bob ist im Gefängnis. Und ich bin nicht länger wehrlos.‹

    Robin atmete schwer, und sie spürte die warme Luft durch ihre Jacke. Es war wirklich Vergangenheit. Hier und jetzt saß sie mit einem Tierheimhund an der Bushaltestelle, und nur die Regentropfen erinnerten entfernt an eine Dusche. Luca strich Robin mit zittrigen Fingern durch das Fell. 

    »Du bist ein Anti-Dissoziativum«, sagte sie leise. »Und weißt du was? Bob hätte Angst vor dir gehabt.« 

    Mira saß mit Ovid und Iphis an ihrem Schreibtisch, als Eike den Kopf zur Tür hereinstreckte. 

    »Möchtest du mir beim Plätzchenbacken helfen?«, fragte ihre Adoptivmutter. 

    »Du hast Zeit zum Backen?«, fragte Mira überrascht. 

    Eike lachte. »Wie du siehst«, sagte sie und deutete auf ihre mehlbestäubte Küchenschürze. »Wenn ich am nächsten Wochenende schon nicht da bin, wollte ich euch wenigstens ein paar gut gefüllte Keksdosen hier lassen.« 

    »Ich komme sofort«, versprach Mira. 

    Sie blickte über ihre Lateinunterlagen, während Eike in die Küche zurückging. Sie notierte ihren letzten Übersetzungsansatz und schlug dann das Wörterbuch zu. Wenn sie das letzte Mal für drei Wochen die Gelegenheit hatte, Eikes Plätzchenduft und Warmherzigkeit zu atmen, würde sie nichts davon verpassen. 

    »Du kannst den Kakao in den Teig kneten«, schlug Eike vor, als sie über die Küchenschwelle trat. 

    Mira nickte und machte sich an die Arbeit. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern war sie mit einer ganzjährig backenden Eike aufgewachsen, in einer ofenwarmen Küche, die nach Vanille und karamellisiertem Zucker duftete und in der ihre Adoptivmutter den Rührlöffel schwang wie einen Zauberstab. Aber Elias und Laura waren auch nicht adoptiert worden, ihre leibliche Mutter hatte nur Mira hergegeben. Und Mira wusste, dass das ein Privileg war. 

    Sie siebte den dunklen Kakao in die Rührschüssel und begann dann, den Teig zu kneten. 

    ›Ich wünschte, Eike wäre auch meine Mutter‹, hatte Laura mit dreizehn gesagt. 

    Es war eins der ersten Gespräche mit ihrer großen Schwester, an das Mira sich erinnerte. Laura hatte ein Backblech in den Ofen geschoben, während Eike draußen war, und die vierjährige Mira hatte darauf gewartet, die Plätzchen mit Zuckerguss bestreichen zu dürfen.

    ›Ich habe die andere Mutter vergessen‹, hatte Mira geantwortet. 

    Laura hatte angesetzt, etwas zu sagen, sich dann aber offenbar dagegen entschieden. Stattdessen hatte sie sich vor Mira gesetzt und sie in eine der wichtigsten Wahrheiten eingeweiht, die sie zu vergeben hatte. 

    ›Wenn du nicht möchtest, dass Elias mitbekommt, was in dir vorgeht, ist Vergessen das allerbeste. Und wenn du es nicht vergessen kannst, denkst du so sehr an etwas anderes, dass er nur noch das wahrnehmen kann.‹

    Mira hatte genickt, auch wenn sie nur teilweise verstanden hatte, was Laura gemeint hatte. Aber nur wenige Jahre später hatte sie perfektioniert, was ihre große Schwester ihr beigebracht hatte. Bewegung half dabei, aber auch, dass sie unentwegt las. Auch Elias’ Begabung, in Atmosphären und Gefühlen zu lesen, war gewachsen, doch schon mit sieben konnte sie ihn wirksam ablenken. Denn sie liebte ihn über alles und wollte ihn beschützen. 

    Als die obligatorischen Nachmittagsarbeiten erledigt waren, stapfte Luca die hintere Hundewiese ab. Bevor sie nach Hause ging, musste sie hier noch aufräumen. Sie bückte sich, um die Wassernäpfe zum Auswaschen einzusammeln.

    Robin hatte sich als so verträglich erwiesen, dass sie ihn mit den anderen rausgeschickt hatte. Der Neuzugang hatte seinen Menschen an den Tod verloren und noch nie in einem Zwinger gesessen. Jeder Quadratzentimeter seiner zotteligen Existenz schien zu fragen, warum er hier war. Luca seufzte, denn die Attribute ›alt‹, ›schwarz‹ und ›groß‹ machten Robins Vermittlung nicht wahrscheinlicher, sie flößten den Menschen eher Angst ein.

    Dabei wollten alle hier nur ein Zuhause. 

    »Das ist unser neues Zuhause.« Bob nahm Luca die Augenbinde ab. »Wenigstens zwischendurch.« Er gab ein raues Lachen von sich und schob sie vor das Gebäude. »Aber besser als nichts, oder?«

    Die sechsjährige Luca legte den Kopf in den Nacken und zählte anhand der Fenster die Stockwerke. »Fünf«, flüsterte sie. 

    Das Gebäude sah selbst in der hereinbrechenden Dunkelheit schmutzig grau aus. In einer der rechteckigen Fensterbuchten hing ein kaputter Rollladen. Es sah nicht schön aus. Und auch nicht so, als wäre es drinnen schöner. Aber möglicherweise war dieses Zuhause besser als das Wohnmobil.

    »Du bekommst dein eigenes Zimmer«, verkündete Bob und schlug die Autotür zu. »Da stört uns keiner.« 

    Bei seinen Worten zogen sich Lucas Eingeweide zusammen. Irgendwas stimmte nicht, wenn sie auch noch nicht genau sagen konnte, was. Doch bevor sie darüber nachdenken konnte, schubste Bob sie auch schon durch die angelehnte Haustür in das dunkle Treppenhaus. Es roch muffig, und die einzelne matte Glühbirne leuchtete nur im Erdgeschoss. Von Geschoss zu Geschoss wurde es finsterer, sodass Luca kaum noch etwas erkennen konnte. Doch dann blieb Bob vor einer Wohnungstür stehen. 

    »Hier ist es«, verkündete Bob, rammte einen Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. »Rein mit dir.« 

    Er gab ihr einen Stoß in den Rücken, sodass sie vorwärts in den winzigen Flur stolperte. Die angehenden Straßenlaternen warfen unvermittelt einen blassen Schein auf den Boden und ließen die Umrisse der kleinen Wohnung erahnen. Dann drängte Bob ebenfalls herein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Plötzlich wünschte Luca, sie hätte nie nach einem richtigen Zuhause gefragt. Sie hatte das unvermittelte Gefühl, in einem Gefängnis zu sein.

    Panik stieg in ihr auf, während Bob in den nächsten Raum trat und einen Lichtschalter betätigte. Aus den teilweise gefliesten Wänden ragten Kabel, und langsam folgte Luca ihm durch den kahlen Raum. Dann öffnete er die Tür zum nächsten Raum.

    »Dein Zimmer ist schon eingerichtet«, lachte er dröhnend, während Luca vorsichtig an ihm vorbei lugte.

    Es war der Raum mit den kaputten Rollläden. Im schwachen Laternenlicht sah sie eine alte Matratze auf dem Boden liegen, eine Decke und daneben Bobs Koffer mit den Spezial-Doktor-Sachen. Lucas Magen zog sich zusammen, und Übelkeit brach aus ihren Poren. Das hier war kein Zuhause, es war Bobs Arztpraxis. 

    »Luca?«, hörte sie ihre Kollegin quer über den Hof rufen. »Kommst du? Ich brauche dich im Büro!« 

    Luca spürte den Zaun, in den sich ihre Hand gekrallt hatte, und nickte. »Ja«, brachte sie hervor. »Gleich!«

    Vorsichtig löste sie den Griff und atmete durch. Es war gut, dass sie bald zum Gartenhaus fahren konnte. Und vielleicht sollte sie heute Abend mal wieder bei Rebecca anrufen. Es würde ihr bestimmt guttun, mit ihrer Beinah-Schwester zu telefonieren, auch wenn ihre ›Schwesternschaft‹ darin bestand, dass sie beide von Bob missbraucht und gequält worden waren. 

    Montag, 28.9.

    Bevor der Nachmittagsunterricht begann, gingen Julie und Mira noch eine gemeinsame Runde durch den Park. Mit latentem Unbehagen dachte Mira an den Projektkurs, der ihr bevorstand. Dabei hatte sie ihn selbst gewählt. Das Zusatzfach lautete ›Literatur und Psychiatrie‹, und Mira war ursprünglich vollkommen begeistert von dem Angebot gewesen.

    Als sie den Aushang gesehen hatte, waren ihr gleich mehrere literarische Werke eingefallen, die im Kontext psychischer Störungen gelesen werden konnten. Außerdem hatte beinah die ganze Clique psychiatrische Diagnosen. Und sie hatte ihr Leben lang versucht, genug Wissen zu sammeln, um alles zu verstehen, was ihr wichtig war. Dass die Cliquen-Mitglieder dazugehörten, ergab sich von selbst. Es war also keine Frage gewesen, ob sie den Kurs belegen würde. 

    Aber dann hatte der Unterricht begonnen, und Mira hatte begriffen, dass er nicht nur inspirierend und aufschlussreich war, sondern auch belastender, als selbst sie es erwartet hatte. 

    »Woran denkst du?«, wollte Julie wissen, als sie am Denkmal abbogen. 

    »An meinen ›Literatur und Psychiatrie‹-Kurs«, antwortete Mira. »Ich hoffe, wir schließen heute das Kapitel zur ›Geschichte der Psychiatrie‹ ab.«

    Damit würden sie hoffentlich in einer Ära landen, in der an psychisch kranken Menschen keine Foltermethoden mehr ausprobiert wurden – jedenfalls nicht mehr in der Absicht, sie zu heilen. Unversehens musste Mira an Majas sadistischen Psychiater Dr. Gräbert denken, und dann auch an ihre tote Schwester, die jede erzwungene Nahrungszufuhr als Folter empfunden haben musste.

    Wenigstens war Julie die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten erspart geblieben. Ihre Freundin hatte nie auch nur in Erwägung gezogen, an diesem Kurs teilzunehmen. Manchmal, dachte Mira, funktionierte Julies Selbstschutz doch ganz gut, und das gab Anlass zur Hoffnung.

    »Kommst du am Samstag ins Gartenhaus?«, erkundigte sie sich. »Mein Bruder hat angerufen und gesagt, dass sie Ben beim Entrümpeln helfen wollen. Er freut sich bestimmt, wenn du auch da bist ...«

    Julie

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