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Nebenan: Umwege ins Leben
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eBook419 Seiten5 Stunden

Nebenan: Umwege ins Leben

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Über dieses E-Book

 

»Ich frage mich, ob das alles irgendwann einen Sinn ergibt«, sagte Rebecca. »Oder ob es genauso grotesk bleibt, wie es gerade ist.«

Charlotte lachte leise. »Wir können ja alle zehn Jahre ein Sinn-Update machen und gucken, wie es sich entwickelt!«

Rebecca musste ebenfalls lachen. »Manche Dinge«, sie drückte ihre Kippe in einer zerbrochenen Tonschale aus, »ergeben besser keinen Sinn! Sonst wäre das Leben echt pervers.«

 

Es sind Sommerferien auf Majas Hof und Charlotte hofft, sich dort ein bisschen ausruhen und zunehmen zu können. Aber Mirjams Baby kommt zu früh zur Welt, Rebecca sucht auf zweifelhaften Wegen nach ihrer unbekannten Schwester und Fritzis Hochzeit endet in einer Katastrophe. Währenddessen versucht Ben, den Tod seines Großvaters zu verarbeiten und den Traum von einem Partner für immer hinter sich zu lassen. Doch weder das eine noch das andere Problem kann durch Marihuana und Ignoranz gelöst werden.
Charlotte, Ben und die ganze Klinik-Clique erleben einen Sommer voller innerer und äußerer Turbulenzen, der manche alte Frage beantwortet und zahlreiche neue aufwirft ...

 

›Nebenan‹ ist der vierte Band der Reihe ›Umwege ins Leben‹.

 

Bisher sind aus der Reihe erschienen:
›Stationär‹ (Band 1)
›Außerhalb‹ (Band 2)
›Jenseits‹ (Band 3)
›Nebenan‹ (Band 4)

›Innendrin‹ (Band 5)

 

Für die gesamte Reihe gilt eine Triggerwarnung. 

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum30. Juni 2019
ISBN9783739639154
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    Buchvorschau

    Nebenan - Fia-Lisa Espen

    Freitag, 31.7.

    Als Charlotte die Haustür aufschloss, hörte sie bereits Rebeccas Stimme aus dem Dachgeschoss. Anscheinend stand die Wohnungstür zur WG offen.

    »Ich kann mich nicht entscheiden«, erklärte ihre Freundin hibbelig. Die nervöse Aufregung schwang deutlich in ihren Worten mit.

    Charlotte hörte Andrea seufzen. »Dann leg beide Kleider raus und entscheide dich morgen!«

    Es war ihr anzuhören, dass sie dieses Gespräch nicht zum ersten Mal an diesem Tag führten. Charlotte musste lächeln. Rebecca neigte dazu, impulsive Entscheidungen zu treffen – und sie genauso impulsiv wieder rückgängig zu machen. Je wichtiger eine Entscheidung war, desto unmöglicher war es für Rebecca, diese zu treffen. Charlotte stieg schmunzelnd die Stufen nach oben. Eine Kleiderwahl war zwar keine schwerwiegende Entscheidung, aber das Ereignis, für das Rebecca ihre Garderobe wählte, schon. Morgen würden sie zu Fritzis Hochzeit fahren und es schien, als würde Rebecca stellvertretend für ihre Klinikfreundin immer angespannter werden, je näher die Feier rückte.

    »Gott sei Dank, du bist da!«, stieß Andrea ehrlich erleichtert hervor, als Charlotte auf der Türschwelle erschien.

    »Charlotte.« Rebecca flog halb angezogen auf sie zu und schloss sie in die Arme. »Ich bin so aufgeregt!«

    Charlotte musste lachen. »Das habe ich unten schon gehört.« Sie küsste ihre Freundin auf die gepiercten Lippen und entließ Andrea mit einem Kopfnicken.

    Die lächelte dankbar und löste sich aus dem Türrahmen. »Ich wünsche euch viel Spaß! Wir sehen uns dann spätestens nächstes Wochenende.«

    »Wir melden uns zwischendurch«, versprach Charlotte.

    »Wenn ihr euch nicht meldet, weiß ich wenigstens, dass keine Katastrophen passiert sind.«

    Rebecca verzog das Gesicht zu einem gespielten Schmollen. »Wir rufen dich nicht nur an, wenn sich Dramen ereignen!«

    »Nein«, sagte Andrea grinsend. »Ihr ruft auch an, wenn eine Katastrophe gerade überstanden ist! Zum Beispiel, wenn jemand Verlorenes wieder auftaucht.« Sie verabschiedete sich mit einem Zwinkern und ging die Stufen hinab. »Passt einfach auf euch auf, ja? Und kommt irgendwann heil zurück, mehr will ich gar nicht!«

    »Versprochen«, rief Charlotte Andrea nach, während Rebecca skeptisch die Nase kräuselte.

    »Was meint sie mit ›heil‹?«, erkundigte sie sich kritisch.

    Charlotte lachte abermals. »Nicht kaputter als jetzt.« Sie drückte die WG-Tür ins Schloss und wandte sich dem Sofa zu, auf dem sich Rebeccas Kleidung verteilte.

    »Ich muss dir was zeigen!« Ihre Freundin stürzte sich auf eine schwarze Hose und wühlte ihr Handy aus der Gesäßtasche. »Majas Kaninchen haben Junge bekommen!«

    Einen Augenblick später blickte Charlotte auf ein Nest mit winzigen Kaninchenbabys. »Dann«, erklärte sie mit einem Lächeln, »schauen wir sie uns doch übermorgen an!«

    »Du kommst mit?« Rebecca jubelte und umarmte ihre Freundin stürmisch.

    »Ja.« Charlotte spürte das Kitzeln von Rebeccas aus den Spangen gelösten Locken auf ihrem Gesicht und atmete in Patchouli getränkte Freude. »Mein Vater hat mich dazu überredet.«

    Björns Gesichtsausdruck war ernst, als er seiner Tochter das Telefon entgegenhielt. »Ich möchte, dass du dieses Praktikum verschiebst.«

    Zwei Stunden waren vergangen, seit er Charlotte vom Bahnhof abgeholt hatte. Hundertzwanzig Minuten, in denen er sie ausgiebig zum Studium befragt und kritisch beobachtet hatte.

    »Papa«, antwortete sie gequält, »sie haben mich da schon im Mai einplant. Ich kann das doch nicht so kurzfristig ...«

    »Doch«, unterbrach Björn sie bestimmt. »Du kannst in vier Wochen das Praktikum machen, wenn du dich erholt hast. Aber jetzt brauchst du Pause – du bist blass wie im Winter und siehst aus, als hättest du wochenlang zu wenig geschlafen.«

    Charlotte wusste, dass diese Aufzählung unvollständig war. Ihr Vater unterschlug, dass sie schon wieder viel zu dünn war. Nach der Klinik hatte sie nicht mehr gehungert und doch hatten die Ansprüche von Studium und Leben ihr Entlassungsgewicht Vergangenheit werden lassen. Der ohnehin grenzwertige BMI war irgendwo zwischen Kursen, Vorlesungen und den Umwälzungen im WG-Leben abgesackt. Möglicherweise hatte sich ihr Gewicht in Wissen und Erfahrung aufgelöst, vielleicht auch nur in Veränderungen und Fragen.

    »Ich möchte nicht«, erklärte ihr Vater nachdrücklich, »dass du noch vor dem Physikum selbst im Krankenhaus landest!«

    Charlotte erwiderte seinen Blick, unsicher, ob sie etwas sagen sollte. Seine Fürsorge rührte sie, aber sie bezweifelte, dass es etwas änderte, wenn sie das Praktikum verschob. Dann würde sie statt vom Sommersemester ins Praktikum vom Praktikum ins Wintersemester gehen. Anstrengend war das auch.

    »Was ist«, fragte sie, »wenn ich das Pflegepraktikum nicht verschieben kann? Wenn sie keinen Platz für mich haben?«

    »Dann gehst du in ein anderes Krankenhaus.« Björn hielt ihr das Telefon hin. »Du bist eine unbezahlte Arbeitskraft – irgendwer wird dich nehmen!«

    Charlotte nickte und seufzte. Ihr Vater hatte sich sechs Jahre lang eher durch Abwesenheit als durch Teilnahme hervorgetan. Ihn jetzt zu ignorieren, käme ihr vor, als würde sie den Vater zurückstoßen, den sie lange vermisst hatte. Stumm nahm sie das Telefon entgegen.

    »In den nächsten Wochen«, bestimmte ihr Vater, »machst du etwas anderes! Fahr mit Rebecca zu Mirjam, besuch Julie, leg dich in die Sonne und lies etwas, das nichts mit der Uni zu tun hat. Im nächsten Monat möchte ich dich nicht in einem Krankenhaus wissen.«

    Charlotte wusste, dass diese Aussage beides beinhaltete: ihr Praktikum und ihren labilen Zustand.

    »Ich rufe an und frage«, stimmte sie leise zu. Wenn das Krankenhaus etwas dagegen hatte, konnte sie immer noch neu überlegen. Sie trug das Telefon in ihr altes Kinderzimmer, um dort die Nummer herauszusuchen.

    »Ich freu mich so«, seufzte Rebecca an ihrem Hals.

    Charlotte spürte, wie sich die aufgeregte Spannung in Rebeccas Muskeln für einen Augenblick löste. »Ich freue mich auch«, sagte sie dann leise. Es war gut, wenn sie losgelöst vom Alltag Zeit füreinander hatten.

    Plötzlich wirbelte Rebecca herum. »Du musst deine Sachen packen!«

    »Ja.« Charlotte musste lachen. »Und deshalb werden wir erst mal deinen Kram einsammeln. Damit wir so schnell wie möglich in meine WG kommen, um da weiterzupacken.«

    Ben saß auf der Eckbank in der Küche des alten Hofes und schälte Klaräpfel für Maja, die am Herd stand und Kompott kochte. Seit er mit Milan, seinem nicht-festen Freund, hier angekommen war, hatte Maja die Äpfel aus ihrem Garten bereits zu Chutney und Bratapfelmarmelade verarbeitet. Nun reihten sich weitere Einmachgläser auf der Anrichte. Ben fühlte sich so ausgeglichen wie schon lange nicht mehr. Dieser Hof schien seine eigene Zeitrechnung zu haben. Es tat gut, hier zu sein.

    »Hast du das früher schon gemacht?«, erkundigte er sich bei Maja, während er das Kerngehäuse entfernte.

    »Nein.« Maja rührte aufmerksam in dem großen Topf. »Ida hat mir das alles gezeigt.«

    »Die Nachbarin vom Biobauernhof?«

    »Ja.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und wandte sich wieder ihrem Apfelmus zu. »Wenn im Laden nicht viel los ist, erklärt sie mir alles, was ich über den Anbau und die Verarbeitung wissen muss.«

    Ben nickte und schälte den nächsten Apfel. Maja wohnte jetzt schon seit Mai hier, genauso wie Mirjam und Jannik. Und schon fast ebenso lange war sie mit den Nachbarn befreundet – einem älteren Paar, das im eigenen Hofladen seine Produkte verkaufte. Es hatte nicht lange gedauert, bis Maja – oder irgendwer aus Majas multiplem Persönlichkeitssystem – begonnen hatte, Ida dort auszuhelfen.

    »Wer«, fragte Ben zögernd, »aus eurem System ist eigentlich am meisten mit Ida zusammen?«

    »Ich«, erklärte Maja, musste dann aber lachen. »Jedenfalls bilde ich mir das ein. Aber es gibt schon noch einige andere, die gerne dort sind! Und ein paar von den Kleinen können schon richtig gut Niederländisch.«

    »Ich dachte«, erwiderte Ben verwirrt, »Ida wäre Deutsche. Oder habe ich das falsch verstanden?«

    »Das stimmt.« Elias’ Freundin inspizierte ihre Einmachgläser. »Aber ihr Mann, Bram, ist Niederländer. Die beiden helfen mir, es zu lernen. Wie weit bist du mit den Äpfeln?«

    »Die zweite Schüssel ist voll.« Ben reichte ihr die Schale mit den Fruchtstücken. »Versteht Elias auch schon etwas, wenn ihr euch unterhaltet?«

    »Ein bisschen.« Maja stellte einen weiteren Topf auf den Herd und ließ die kleingeschnittenen Äpfel hineingleiten. »Aber Jannik lernt am schnellsten.«

    Ben wandte sich wieder dem Obst zu. Elias war zwischen Deutschland und den Niederlanden hin und her gependelt, bis seine Vertretungsstelle im Kindergarten ausgelaufen war. Aber nun wohnte er ebenfalls auf dem über zweihundert Jahre alten Hof, den Maja von ihrem Vater geerbt hatte. Gelebt hatte hier allerdings bis voriges Jahr ihre Großtante, von der Maja noch nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Aber Anna hatte ihrer Großnichte genau das hinterlassen, was sie am meisten brauchte: ein sicheres und verlässliches Zuhause.

    Ben seufzte. Hier in dieser alten Küche mit angrenzender Stube zu sitzen und den Duft von Apfelmus einzuatmen, war so gemütlich, als wäre er mitten in eine Kindergeschichte gereist. Nur dass die Lebensgeschichten der meisten Hofbewohner keine Altersfreigabe für Minderjährige bekommen würden.

    Er viertelte den nächsten Apfel. »Wann kommen die anderen?«

    »Rebecca begleitet uns nach der Hochzeit hierher zurück.« Maja füllte etwas Wasser in den Topf. »Und morgen Nachmittag kommen Mira und Julie.«

    »Dann sind wir neun Leute in diesem Haus«, meinte Ben kopfschüttelnd, »und haben immer noch Platz.«

    Vor zweihundert Jahren war das Wohnhaus klein gewesen – es hatte nur aus Küche, Stube und der Kammer bestanden, in der jetzt Mirjam mit der kleinen Lotta-Pauline wohnte. Und dann war da natürlich der angrenzende Stall- und Scheunentrakt gewesen. Den gab es immer noch, denn nur ein ehemaliger Lagerraum gehörte jetzt als Bad zur Wohnung. Aber Großtante Anna hatte das Dachgeschoss ausbauen lassen und so war der Wohntrakt um einige Zimmer erweitert worden.

    »Stimmt.« Ein Grinsen zog über Majas Gesicht und Ben war sich sicher, dass jetzt jemand anderes vorne war. »Nur wenn jeder aus unserem System ein eigenes Zimmer will, wird es eng!«

    »Nachts«, grinste Ben zurück, »wollen die meisten von euch doch eh bei Elias sein!«

    Maja warf ihm einen Topflappen an den Kopf, aber dann stolperte jemand Kleines in Majas Körper. »Genau«, bestätigte das Kind Bens Ansicht. »Und zum Spielen ist auch Platz in der Diele!«

    Das war zweifellos richtig. Die ehemaligen Stallungen, Ernte- und Lagerräume waren ein Paradies für Kinder, besonders an Regentagen. Und in Majas inneren Kindern würde Mirjams und Janniks Tochter gute Spielgefährten finden.

    Maja füllte Kompott aus dem ersten Topf in die Gläser und Ben entkernte den letzten Apfel.

    »Milan kommt«, berichtete er mit einem Blick aus dem Fenster. Sein undefinierter Lebensbegleiter war gerade mit dem Lastenrad voller Einkäufe in der Einfahrt erschienen. Ben sah die fedrigen, blonden Haare im Wind wehen und schmunzelte. Milan wirkte auf die Entfernung noch jungenhafter als aus der Nähe.

    Maja seufzte schwer. »Ade Apfelmus«, murmelte sie. »Willkommen Masterarbeit!«

    Milan hatte angekündigt, nach seiner Rückkehr die statistischen Daten von Majas Arbeit weiter auswerten zu wollen, aber Maja war deutlich anzusehen, dass sie viel lieber in der nach Zimt und Kindergeschichten duftenden Küche bleiben würde. Ben konnte es ihr nicht verdenken. Es waren sicherlich mehr Persönlichkeitsanteile an Apfelmus und Gemütlichkeit interessiert als an empirischer Wissenschaft.

    »Milan und ich«, schlug er vor, »können erst mal Großtante Annas Rad reparieren. Dann hast du Zeit, die letzte Portion fertigzukochen.«

    Elias’ Freundin lächelte ihn dankbar an und sah dann in den zweiten Topf. »Gut, dann werden die mathematischen Formeln wenigstens von der Aussicht auf Apfelzimtkompott begleitet!«

    Ben lachte und schob die letzten Obststücke in die Schüssel. »Ich hole dann mal die Einkäufe und erkläre Milan, dass wir erst reparieren müssen!«

    Charlotte stand vor ihrem Koffer und packte die Sachen ein, die sie auf jeden Fall brauchen würde. Sie war sich noch nicht sicher, wie lange sie auf Majas Hof bleiben würde. Aber am frühen Abend hatte Julie geschrieben, dass sie und Mira morgen anreisten. Ab Sonntag würden also die meisten ihrer Freunde auf dem Hof sein.

    Langsam begann Charlotte, sich auf die bevorstehende Zeit zu freuen. Zunächst auf die Hochzeit und dann auf vier freie Wochen, die ein unerwartetes Sommerferiengefühl in ihr weckten. So viel selbstbestimmte Zeit hatte sie zuletzt als Kind gehabt. Im vergangenen Sommer war sie in der Klinik gewesen, die Sommer davor hatte die Magersucht sie gefangen gehalten. Charlotte verbannte die Sorge um ihr Studium zwischen zwei Lehrbuchseiten und schloss die Lektüre. In diesem Moment wollte sie die leise erwachende Vorfreude auf eine lange Zeit voller Freiheit und Wärme genießen.

    Nacheinander warf sie Unterwäsche, Socken und Shirts in den Trolley. Vielleicht würde sie auch ein bisschen länger bleiben als Rebecca.

    Charlotte spürte den Blick ihrer Freundin auf sich ruhen. Mit einem Lächeln in den Augen wandte sie sich ihr zu. Rebecca hatte ihr Notebook auf die Matratze gelegt und betrachtete sie ruhig.

    »Ich bin froh«, erklärte sie, »dass du das Praktikum verschoben hast.«

    »Ich weiß.« Charlotte ließ sich neben ihrer Freundin auf dem Bett nieder.

    Es war eine langsame Wiederannäherung zwischen ihnen beiden gewesen. In vielen kleinen und vorsichtigen Schritten waren sie aufeinander zugegangen. Und erst als sich das Semester dem Ende geneigt hatte, hatte Rebecca es gewagt, ihr zu sagen, welche Sorgen sie sich machte, weil die Testate und Klausuren Reserven verschlangen, die Charlotte nicht besaß. Dabei, dachte Charlotte, hatte Rebecca die schlimmste Zeit gar nicht miterlebt – die Wochen ohne Rebecca und mit dem ersten Teil des Pflegepraktikums.

    Rebeccas Daumen streichelte sachte über Charlottes Handrücken. »Ich weiß, du wolltest vor Semesterbeginn eigentlich an den Tutorien teilnehmen, aber gute Noten sind nicht alles, was dich zu einer guten Ärztin macht.«

    Charlotte nickte. Sie wusste, dass sie dasselbe gesagt hätte – wenn es um jemand anderen gegangen wäre. Es war immer leichter, klar zu sehen, wenn es um andere ging.

    Sie rutschte an Rebeccas Seite auf das Bett und musste plötzlich an die Klinik denken. Damals hatte sie sich das alles noch ganz anders vorgestellt: ein paar Wochen stationäre Therapie und dann ein normales Leben. Sie seufzte.

    »Was?« Rebecca ließ eine von Charlottes lichtblonden Strähnen durch ihre Finger gleiten.

    »Bevor ich in die Klinik gegangen bin, habe ich gedacht, danach wäre alles gut.« Sie stieß ein leises Schnauben aus. »Das war total naiv. Aber ich habe wirklich geglaubt, dass ich nach der Entlassung geheilt bin.«

    »Du hast sehr, sehr viel geschafft«, erklärte Rebecca zärtlich, während sie weitere Strähnen einfing. »Unglaublich viel für ein einziges Jahr.«

    Charlotte sah sie dankbar an, bewegte aber dennoch abwehrend den Kopf. »Ich bin nicht so belastbar wie die anderen in meinem Studium. Und während des letzten Praktikums hatte ich immer Albträume, jede Nacht.«

    Rebecca lächelte traurig. »Das kenne ich gut. Aber es war bestimmt nicht nur das Praktikum ...«

    »Nein.« Charlotte schüttelte den Kopf.

    Sie hatten oft über ihre Trennung gesprochen; wie es dazu gekommen war, wie sie sich wieder annähern konnten. Aber sie hatten kaum darüber gesprochen, wie die Monate der Trennung gewesen waren, wie sich das Leben in dieser Zeit angefühlt hatte. Die ersten Wochen hatte Charlotte sich so überfordert gefühlt, war so verzweifelt gewesen. Aber dann war da irgendwann Mirjam gewesen. Sie hatte sie Rebecca nie vergessen lassen, aber sie hatte ihr eine neue Form von Glück geschenkt.

    Rebeccas Finger strichen sanft über ihre Wange. »Wir versuchen jetzt gemeinsam, deinen Sommer wunderschön zu gestalten. Ganz viel erholen, ausruhen ... schöne Dinge erleben!«

    Charlotte nickte lächelnd und küsste ihre Freundin. »Für dich auch! Wenigstens, bis du wieder mit der Bachelorarbeit anfängst ...«

    Einige Zeit später war wirklich alles gepackt, sowohl für die Hochzeit als auch für unbestimmte Tage auf Majas Hof. Charlotte hatte sich nicht dazu durchringen können, ihre Lehrbücher in der WG zurückzulassen, aber neben Lernmaterial und Notebook hatte sie auch Badesachen und ihr Tagebuch herausgelegt. Sie hatte viel zu lange schon nichts mehr geschrieben.

    Rebecca hatte sich vom Bett gelöst, um aus den Resten im WG-Kühlschrank etwas zu kochen. Das Klappern der Töpfe und Pfannen erklang aus der Küche, als Charlotte in ihren Aufzeichnungen zurückblätterte. Die letzten Einträge erinnerten an Paulines Geburt.

    »Charlotte?« Eine Hand lag auf ihrer Schulter und rüttelte sie wach. Charlotte hob schlaftrunken den Kopf. Vor ihr stand Mirjam, Angst in den Augen und eine Hand stützend unter dem Bauch. »Kannst du mich ins Krankenhaus bringen? Das sind keine Vorwehen mehr ...«

    Charlotte taumelte in eine sitzende Position. »Bist du sicher?«

    Sie hatte noch nicht lange geschlafen. Es fühlte sich noch immer ungewohnt an, mit Mirjam unter demselben Dach, aber in verschiedenen Stockwerken zu schlafen. Auch wenn sie mittlerweile wieder mit Rebecca zusammen war.

    »Ja«, erklärte Mirjam mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Ich habe so lange in der Badewanne gelegen, dass ich schon ganz schrumpelig bin. Die Wehen werden immer stärker und kommen in immer kürzeren Abständen.«

    Charlotte zog sich hastig an und verhedderte sich dabei in der Kleidung. »Wie kommen wir hin?«

    »Wir können«, quetschte ihre Freundin hervor, »Großtante Annas altes Auto nehmen.«

    Charlotte sah sie entsetzt an. »Das ist museumsreif!«

    Mirjam lachte gepresst. »Es ist älter als wir, ja. Aber es fährt noch.«

    »Wie weit ist es bis zu deiner Klinik?« Charlotte schloss mit zitternden Fingern die Knöpfe ihrer Jeans.

    »Zwanzig Kilometer.« Mirjam atmete tief durch. »Ungefähr. Statistisch gesehen haben wir noch genug Zeit ...«

    Die Statistiken kannte Charlotte. Besser vermutlich als Mirjam glaubte, denn sie hatte mehrere Bücher zum Thema Schwangerschaft und Geburt gelesen. Aber gerade jetzt dachte sie vor allem an die Abweichungen vom Durchschnitt. Pauline war schon deshalb kein Mittelwertskind, weil ihre Mutter untergewichtig war und sie selbst vier Wochen zu früh kam.

    »Okay.« Charlotte griff nach dem Arm ihrer Freundin. »Wir fahren jetzt gleich los! Ich sage nur noch Elias Bescheid und er soll versuchen, Jannik zu erreichen.«

    »Charlotte?« Rebeccas Stimme drang aus der Küche an ihr Ohr. »Habt ihr irgendwo Kurkuma?«

    Gedankenverloren schlug Charlotte das Tagebuch zu. »Ja«, antwortet sie ihrer Freundin abwesend und stand auf. »Ich zeig es dir!«

    Samstag, 1.8.

    Die behagliche Hofküche war durchdrungen von gelassener Bewegtheit. Ben, sein nicht-fester Freund und Mirjam saßen am Küchentisch, während Jannik mit seiner kleine Tochter im Tragetuch auf und ab ging. Von Pauline war nicht viel zu sehen. Alles von ihr war unter dem Tuch versteckt, sodass ihr Vater eine kleine Kugel herumzutragen schien. Sie war unfassbar winzig. Jetzt, drei Wochen nach ihrer verfrühten Geburt, war sie noch immer kleiner als die meisten Babys an ihrem ersten Lebenstag. Aber Ben fand sie auch unfassbar niedlich.

    Milan folgte Bens Blick argwöhnisch in Janniks Richtung. »Sag nicht, du willst ein Kind!«

    Ben lachte leise. »Im Augenblick nicht.« Die präzise Beobachtung seines Freundes beeindruckte ihn dennoch. Schließlich wäre es auch nicht abwegig gewesen zu denken, dass Ben Jannik ins Auge gefasst hatte – immerhin war Paulines Vater ein ausgesprochen attraktiver Zwanzigjähriger.

    Milan betrachtete seinen Freund nach wie vor skeptisch. »Dann beruhigt mich das für den Augenblick.«

    Ben grinste und bestreute seine Brotscheibe mit Hagelslag. Er war mit Elias’ kleiner Schwester Mira aufgewachsen und Kinder gewohnt, aber Milan schreckte vor jeder Verbindlichkeit zurück, die über ihn selbst hinausging. Aus diesem Grund hatten sie auch keine wirklich geklärte Beziehung, obwohl sie seit fast fünf Monaten phänomenalen Sex hatten und bald gemeinsam in Charlottes WG wohnen würden.

    »Dieses Kind«, erklärte Mirjam mit einem Lachen, »bekommt sowieso niemand!«

    »Höchstens nachts«, murmelte Jannik müde und rieb sich die Augen. »Für ein paar Stunden.«

    Bens Blick wanderte nun doch zu Mirjams Bruder, von dem nur die Hofbewohner wussten, dass er Paulines Vater war. Zwar befanden sie sich in einem Land, in dem freiwilliger Bruder-Schwester-Inzest nicht bestraft wurde, aber vorerst hatten Jannik und Mirjam entschieden, niemandem davon zu erzählen. Immerhin hielt selbst ihre Familie einen fremden Mitpatienten von Mirjam für den Vater.

    »Nach der Hochzeit«, tröstete Mirjam Jannik, »ist Elias wieder da! Dann wird es bestimmt besser ...«

    Ben wusste nicht, auf welche Weise Elias die Nächte der jungen Eltern ruhiger machte, aber dass er es konnte, wunderte Ben keinen Augenblick. Elias’ Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und wortlos zu kommunizieren, war so ausgeprägt, dass Ben ihm ohne Weiteres ein beruhigendes Gespräch mit einem Säugling zutraute.

    »Kommst du so lange klar?«, erkundigte sich Jannik, während er das kleine Bündel Mensch behutsam aus dem Tragetuch schälte. »Ich muss nämlich jetzt los ...«

    Mirjam nickte und nahm ihre schlafende Tochter entgegen. »Aber am besten wickelst du das Tuch gleich um uns.« Sie stand auf, während Jannik die Stoffbahnen ordnete und dann um seine Schwester schlang.

    Ben musste daran denken, dass Jannik ein Urlaubssemester eingelegt hatte, um mit Mirjam hierher ziehen zu können. Ihrer Familie hatten sie gesagt, dass er im Ort einen Praktikumsplatz hatte, aber dass er tatsächlich seit einigen Wochen in der Kirchengemeinde arbeitete, war wohl weniger ein Vorwand als Janniks ureigenes Bedürfnis.

    ›Er kann‹, hatte Mirjam einmal geseufzt, ›einfach nirgendwo sein, ohne sich einzubringen!‹

    Zunächst hatte es Ben befremdet, dass Mirjams Bruder Religionslehrer werden wollte. Er wusste nicht viel darüber, war sich aber sicher, dass keine christliche Kirche Janniks Beziehung zu seiner Schwester gutheißen würde. Aber vielleicht war das auch einfach eine Sache zwischen Jannik, Mirjam und Gott – etwas, das die Kirche nichts anging.

    »Wir sehen uns heute Abend!« Jannik winkte noch einmal in die Küche, dann verschwand er über die Schwelle.

    Ben streute noch ein paar Schokostreusel auf sein Brot. Wie die Familienverhältnisse auch immer sein mochten – auf jeden Fall kümmerte sich Jannik, wenn er da war, genauso rührend um Lotta-Pauline wie Elias.

    Bisher hatte Fritzis Hochzeitstag nichts auch nur annäherungsweise Romantisches.

    In den letzten Stunden vor der Trauung potenzierte sich das Chaos in Fritzis Elternhaus auf unbeschreibliche Weise. Charlotte beobachtete fassungslos die durcheinanderlaufenden Freunde und Verwandten. Jeder schien auf planlose Weise beschäftigt zu sein. Alle fragten einander Dinge, die offenbar niemand beantworten konnte, trafen kopflos die letzten Vorbereitungen, eilten durch das Haus, riefen einander Anweisungen zu oder suchten erfolglos nach irgendetwas.

    Irgendwann schlug Rebecca Fritzis Zimmertür zu und schob einen Stuhl unter die Klinke. »Jetzt kommt wenigstens niemand mehr rein.« Sie ließ sich auf Fritzis Sofa fallen und sah völlig erledigt aus. »Warum hast du eigentlich keinen Schlüssel?«

    »Mein Bruder hat ihn verschluckt.« Fritzi saß seelenruhig auf ihrem Bett, während Maja ihre Haare hochsteckte.

    »Verschluckt?!« Einen Moment lang hoben sich Rebeccas Brauen, dann schüttelte sie resigniert den Kopf. »Warum nicht – verschluckt ... Langsam sollte ich deine Familie gut genug kennen!«

    »Ich war vierzehn und er wollte mich ärgern. Aber ich habe mich gerächt.« Über Fritzis Gesicht zuckte ein süffisantes Grinsen.

    Rebecca faltete ihre Beine zum Schneidersitz. »Was hast du mit seinem Zimmerschlüssel gemacht?«

    »Er hatte schon längst keinen Zimmerschlüssel mehr. Aber das ist eine andere Geschichte.« Fritzis Augen blitzten angesichts der Erinnerung an ihre Rache. »Ich habe seinen Mofaschlüssel entwendet.«

    »Wo ist er jetzt?«, erkundigte sich Maja, während sie ein paar Haarsträhnen feststeckte.

    »In der Güllegrube.« Fritzis Grinsen vertiefte sich. »Ich fand, wir sollten beide in die Scheiße fassen, um unsere Schlüssel wiederzukriegen.«

    Maja gab einen angewiderten Laut von sich, dann übernahm eine Innenperson den Körper und lachte auf. Charlotte sah ihren eigenen ungläubigen Blick im Spiegel. Rebecca mochte Recht haben, sie kannten Fritzi und ihre Familie nun schon seit einem Jahr ... aber diese Sippe versetzte Charlotte immer noch regelmäßig in verstörte Überraschung.

    »Wir haben«, berichtete die Braut ungerührt, »dann allerdings beide auf unsere Schlüssel verzichtet ...«

    »Das ist irgendwie beruhigend«, murmelte Rebecca. »Ansonsten hätte ich auch abgelehnt, dieser Geschichte weiter zu lauschen ...«

    Maja begann, eine Strähne zu flechten. »Manchmal bin ich froh, ein Einzelkind zu sein.« Sie hielt inne und Charlotte sah verschiedene Persönlichkeitsanteile durch ihre Mimik fliegen.

    Rebecca, die das Schauspiel ebenfalls beobachtete, verzog spöttisch das Gesicht. »Einzelkind, hm?«

    »Du musst weitermachen.« Louise, die Achtzehnjährige in Majas Körper, drehte sich zu Charlotte um. »Ich kann sowas nicht!«

    Charlotte nahm ihr die Strähne ab und flocht weiter, während sich Louise neben ihre beste Freundin auf das Sofa fallen ließ.

    »Weißt du noch«, erkundigte sie sich bei Rebecca, »dass sich Maja vor einem Jahr beschwert hat, weil sie keinen Mann, kein Kind und keinen Job hat?«

    Rebecca nickte und angelte ihre Zigarettenpackung aus der Tasche.

    »Jetzt hat sie einen Mann und mehr Kinder, als sie sich je hat träumen lassen!«

    Charlottes Freundin grinste. »Die hatte sie aber schon vorher! Sie hat es nur nicht gewusst.«

    »Stimmt.« Louise wühlte ebenfalls ihr Tabakpäckchen hervor. »Das Gejammer hätte sie sich sparen können. Aber sie musste ja jahrelang vor uns davonlaufen!«

    Rebecca erhob sich und trat an Charlottes Seite. »Ist es okay, wenn wir eine rauchen gehen? Wir kommen auch gleich wieder hoch.« Ihre Finger strichen fast schwerelos über Charlottes Seite und die nickte.

    »Ich muss eh nur noch die Seidenblumen feststecken.« Sie küsste ihre Freundin und widmete sich dann dem Abschluss der Hochzeitsfrisur.

    Als die Tür hinter Louise und Rebecca ins Schloss gefallen war, erkundigte sich Fritzi: »Willst du mal heiraten?«

    Charlotte zuckte mit der Schulter. »Als Kind wollte ich natürlich. Und jetzt schon auch noch, nur ...« Sie war sich nicht sicher, ob sie Fritzi die Problematik nahebringen wollte. »Es«, schloss sie schließlich, »eilt ja nicht.«

    Die Letzte, die von ihrer zukünftigen Hochzeit gesprochen hatte, war Rebeccas Mitbewohnerin Andrea gewesen. Allerdings hatte sie den Bund für die Ewigkeit nicht Rebecca und Charlotte, sondern Mirjam und Charlotte prophezeit. Wenn es so viel Zeit für eine Beziehung überhaupt gab. Rebecca jedenfalls würde mehr Ewigkeit aushalten, wenn sie sich nicht offiziell darauf festlegte.

    Weiches Märzlicht sickerte durch Charlottes Fenster. Mirjam lag neben ihrer Mitbewohnerin auf dem Bett und fuhr behutsam über deren hervorstehenden Beckenknochen.

    »Rebecca«, mutmaßte sie, »könnte genau dazwischen liegen – wie eingerahmt.«

    »Ja.« Charlotte fing Mirjams Hand ein, als fühlte sie sich weniger mager, wenn Mirjam sie nicht daran erinnerte. »Aber sie würde es hassen. Rebecca hält es nicht aus, eingeengt zu sein.«

    Ihre Mitbewohnerin lachte leise. »Vielleicht ist das ja ein guter Grund zuzunehmen.«

    Es gab viele gute Gründe zuzunehmen. Einer der besten war drei Wochen alt und hatte ihren Namen geerbt.

    »Vielleicht«, sagte Fritzi und zwinkerte Charlotte über den Spiegel zu, »sollte ich Rebecca den Brautstrauß zuwerfen! Sie braucht in Sachen Hochzeit bestimmt mehr Unterstützung als du.«

    Charlotte musste lächeln. Manchmal vergaß sie, dass auch Fritzi Rebecca gut kannte. Sie selbst mochte in der Klinik wenig Kontakt zu Fritzi gehabt haben, aber Rebecca war schon damals mit ihr befreundet gewesen.

    »Ich werde ihr sagen«, nahm sich Fritzi vor, »dass sie die Brautstraußprophezeiung nicht ignorieren kann. Vor allem, da sie eine Freundin hat, die wie eine Prinzessin aussieht, sogar ohne Brautkleid. Das verlangt geradezu nach einer märchenhaften Hochzeit.«

    Bevor Charlotte antworten konnte, klopfte es und Elias steckte seinen Kopf durch die Tür.

    »Ich habe ein paar Blumen gepflückt – falls ihr echte Blüten einflechten wollt!«

    Ben hatte sich zu der windgeschützten Abseite des Hauses, wo der Kaninchenkäfig stand, aufgemacht. Er hatte Maja mehrfach versprechen müssen, sich gut um Mikado, Murmel und ihren Nachwuchs zu kümmern. Und es war lange her, dass er Zwergkaninchen versorgt hatte.

    Ben ließ den Kaninchenpapa in seinen Teil des Freigeheges hinaus und kraulte ihn behutsam im Nacken.

    »Bald«, tröstete er ihn, »darfst du wieder zu den anderen!«

    Majas Innenkinder hatten Mikados Kastration nur schweren Herzens zugestimmt, aber bald lag die Operation lange genug zurück, damit die Kaninchenfamilie wieder zusammen sein durfte.

    Ben füllte Futter und Heu nach, dann wandte er sich Murmel und ihrem Nachwuchs zu. Es waren fünf Zwerge, bei denen sich langsam der erste Flaum abzeichnete. Noch lagen sie mit geschlossenen Augen in ihrem Nest, aber bald schon würden sie herumhoppeln und alle Hofbewohner in Entzücken versetzen. Vermutlich, dachte er, hätten sie sogar seinen alten Großvater gerührt.

    Ben streute Kraftfutter in den Napf und kontrollierte dann die Wasserflaschen. Großvater Jonte war kein Freund großer Worte gewesen, aber manchmal hatte man seine Gemütsverfassung aus seinen Handlungen ablesen können. Und den alten Kaninchenstall in seinem Garten hatte er nie abgerissen. Ben dachte an das kleine Haus in der halblegalen Gartensiedlung, in dem er aufgewachsen war. Er vermisste es beinah genauso sehr wie Jonte. So sehr, dass er das verlassene Häuschen seit Wochen nicht mehr besucht hatte.

    Die kleine Dorfkirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Helles Licht schien durch die hohen Kirchenfenster und Charlotte glaubte, längst vergangene, vorreformatorische Weihrauchschwaden in den Sonnenstrahlen tanzen zu sehen.

    Sie lauschte Elias’ Gitarrenspiel, das ein wenig Himmel auf die Erde holte. Die restliche Gemeinde schien Vergleichbares zu empfinden, denn in der Kirche war es ganz still geworden. Nur das dreijährige Blumenmädchen in Majas Körper warf gelegentlich versonnen eine Blüte in Richtung des Brautpaares. Als Elias’ Spiel verklungen war, brauchte sogar der Pfarrer einen Augenblick, um sich zurück in die Kirche zu besinnen.

    Aber dann wurde knarrend das Kirchenportal aufgezogen und ein Mann stolperte auf die vorderen Kirchenbänke zu. Charlotte erkannte sein Gesicht von Fritzis Geburtstagsfeier und als sie Rebeccas Blick sah, wusste sie auch, wer er war: Ralf, Fritzis jüngster Onkel.

    Damals hatte er seine Nichte gewaltsam zu einem Kuss zwingen wollen. Ein Beschützeranteil in Maja hatte ihm einen Kinnhaken verpasst und Fritzi war mit Rebecca, Maja und Bine im Auto getürmt. Sie hatten so lange in den Feldern neben Fritzis Haus gestanden, dass Julie und Charlotte eine ganze Weile gebraucht hatten, um sie zu finden.

    Charlotte

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