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Die Stimme aus der Erde
Die Stimme aus der Erde
Die Stimme aus der Erde
eBook307 Seiten4 Stunden

Die Stimme aus der Erde

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Über dieses E-Book

"Willst du jetzt noch mit Bello los?", fragte Monika verwundert."Ja, nur kurz.""Nimm Janus mit. Du gehst nicht alleine, verstanden? Es ist schon spät.""Nein, Janus kann mich mal. Er ist so doof!"Nach einem Streit mit ihrem älteren Bruder geht die 7-jährige Lilly Danielsen mit dem Familienhund spazieren. Als sie nicht nach Hause zurückkehrt, macht sich ihre Mutter Sorgen. Ist sie weggeblieben, weil sie immer noch wütend ist, oder ist ihr etwas Schlimmeres zugestoßen?Der Job des amerikanischen Polizeibeamten Mason Teilmann bei der Polizei in Mittel- und Westjütland ist deutlich entspannter als seine frühere Arbeit bei der Kindermordkommission in seiner Heimatstadt New Orleans. Trotzdem wird er immer wieder von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht, obwohl seine dänische Frau versucht, ihm zu helfen, darüber hinwegzukommen. Als er mit dem Fall des verschwundenen Mädchens Lilly Danielsen betraut wird, kann er seine gesamte amerikanische Ausbildung und Erfahrung gut gebrauchen. Aber unangenehme Erinnerungen holen ihn ein...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Sept. 2022
ISBN9788726782585
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    Buchvorschau

    Die Stimme aus der Erde - Inger Gammelgaard Madsen

    Inger Gammelgaard Madsen

    Die Stimme aus der Erde

    Übersezt von Patrick Zöller

    Saga

    Die Stimme aus der Erde

    Übersezt von Patrick Zöller

    Titel der Originalausgabe: Stemmen fra jorden

    Originalsprache: Dänisch

    Copyright © 0, 2022 Inger Gammelgaard Madsen und SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788726782585

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    www.sagaegmont.com

    Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

    Kapitel 1 - Verschwunden

    Monika nahm die Lesebrille ab und legte sie auf den Tisch. Sie streckte sich, verschränkte die Finger im Nacken und lehnte sich im Stuhl zurück. Ein Knacken zwischen den Schulterblättern verriet ihr, dass sie schon viel zu lange vor dem Laptop gesessen hatte. Sie hatte sich entschieden, die Dienstpläne für die Geburtshelferklinik zu Hause aufzustellen, wo es ruhiger war, besonders heute. Thor war in einem Meeting und würde erst spät wieder da sein. Es wurde immer spät, wenn die Kanzlei einen Fall gewann und sie anschließend noch in die Stadt gingen, um den Sieg mit einem guten Essen und reichlich Flüssigem zu feiern. Ab und zu war sie mitgekommen, hatte heute aber abgesagt, aufgrund der Dienstpläne. Und weil Lilly und Janus nicht schon wieder vom Kindermädchen ins Bett gebracht werden sollten. In letzter Zeit war so viel los gewesen.

    Das Abendlicht fiel durch die Sprossenfenster des Bauernhauses herein und malte helle, viereckige Felder auf den rauen Holzboden. Sie hatten darüber gesprochen, den Boden abschleifen und lackieren zu lassen, doch bisher waren sie sich noch nicht darüber einig geworden, inwieweit das Haus seinen alten Charme behalten oder modernisiert werden sollte, also war vorläufig alles beim Alten geblieben. Das war erst einmal die einfachste Lösung, es würde sich schon alles finden. Zumindest darauf konnten sie sich einigen. Allmählich gefiel es Monika sogar, obwohl sie nie geglaubt hatte, sie als typisches Stadtkind könne sich auf dem Land wohlfühlen, wo es im Frühjahr auf den umliegenden Höfen und Feldern nach Gülle stank und im Spätsommer der Staub der Ernte in der Luft hing. Aber sie musste sich eingestehen, dass Thor recht hatte. Er war auf dem Land aufgewachsen, und den Kindern würde es guttun, oft draußen unter freiem Himmel zu sein, besonders Lilly, hatte er energisch argumentiert, als er das Haus in dem kleinen Dorf gesehen hatte, das etwa zehn Kilometer außerhalb von Silkeborg zum Verkauf stand. Janus und Lilly mussten die Schule wechseln, aber das war kein Problem, denn Janus war an seiner alten Schule ohnehin nicht sehr glücklich gewesen. Mit Beginn des dritten Schuljahres war er an die Grundschule nach Voel gewechselt. Lilly hatte ganz einfach in der ersten Klasse begonnen. Sie konnten mit dem Rad zur Schule fahren, und Monika musste sie nicht mehr jeden Tag abliefern und abholen, weil sie sich Sorgen machte wegen des Verkehrs, vor allem an den Zebrastreifen. Und Lilly ging es hier tatsächlich deutlich besser. Sie hatte keine Angstanfälle mehr, seit sie umgezogen waren, und erleichtert hatte Monika beim Kinderpsychologen angerufen und gesagt, dass weitere Sitzungen nicht notwendig seien.

    Ihr Blick löste sich von den viereckigen Lichtfeldern und wanderte zum Fenster und nach draußen in den Garten. Bello machte sich lautstark bemerkbar. Vorhin hatte Janus einen Ball aus seinem Zimmer geholt, wie sie gesehen hatte, und wahrscheinlich spielten Lilly und er jetzt damit. Und Bello war jedes Mal ganz außer Rand und Band, wenn er dem runden Spielgerät nachjagte und versuchte, es zu erwischen. Auch der Hund war eine Neuanschaffung. Es schien ganz natürlich, aufs Land zu ziehen und sich einen Hund zuzulegen, und auch dabei ging es hauptsächlich um die Kinder. Lilly hatte eine stärkere Bindung zu dem Hund aufgebaut als Janus, und das galt umgekehrt auch für Bello. Janus war rauer und lauter als Lilly, wenn sie spielten, und manchmal erschreckte sich der kleine Vierbeiner. Bello vergrub die Schnauze im Kopfkissen und in Lillys blonden Locken, wenn sie sie abends ins Bett brachten, und ohne ihr kleines, lebendiges Kuscheltier konnte Lilly nicht einschlafen. Anfangs war Monika dagegen gewesen, das Tier ins Bett zu lassen, aber die Liebe der beiden zueinander hatte sie schließlich dazu gebracht, nachzugeben.

    Monika setzte die Brille wieder auf und wandte sich erneut den Dienstplänen zu. Es wurden immer mehr Kinder geboren, zum Glück, aber manchmal war es schwer, Personal zu bekommen, und dann musste sie den Hebammen auch schon mal ihren freien Tag streichen. Das war nie besonders angenehm, und es machte ihr zu schaffen, weil leicht der Eindruck entstand, sie sei eine schlechte Chefin, obwohl in Wahrheit die ewigen Einsparungen der Grund dafür waren. Sie hatten versucht, den politisch Verantwortlichen klarzumachen, dass der Erfolg der Geburtshelferklinik, innerhalb der vergangenen zehn Jahre die Zahl der Totgeburten zu halbieren, darauf zurückzuführen war, dass sie dazu übergegangen waren, die werdenden Mütter während der gesamten Schwangerschaft von ein und derselben Hebamme betreuen zu lassen. Aber diese Möglichkeit bestand nicht mehr, es war schlicht und einfach zu teuer.

    Die Kinderstimmen aus dem Garten wurden lauter, und auch Bello schien aufgebrachter zu sein als gewöhnlich. Monika stand auf und sah aus dem Fenster. Die knorrigen alten Apfelbäume blühten weiß und hellrot, und die Buchenhecke, die den großen Rasen umgab, hatte bereits dichte, hellgrüne Blätter getrieben. Sie konnte die gelben Rapsfelder hinter der Hecke erahnen, so weit das Auge reichte, darüber der blaue Himmel, den in etwa einer Stunde ein schöner Sonnenuntergang zieren würde. Der Mai war ihr Lieblingsmonat, auch wenn in diesem Mai ein Regenguss den anderen abgelöst hatte. Aber heute schien die Sonne und verkündete, dass der Sommer nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Janus und Lilly standen unter einem der Apfelbäume und zankten sich. Bello tanzte kläffend um sie herum. Monika seufzte. Worüber waren sie sich nun schon wieder in die Haare geraten? Sie zog sich vom Fenster zurück. Die Kinder mussten lernen, ihre Konflikte selbst zu lösen und ohne, dass sie sich einmischte. In diesem Punkt waren sie und Thor sich einig. So lange keiner heulte, gab es keinen Grund einzugreifen. Sie setzte sich und nahm die Arbeit wieder auf.

    Kurz darauf ging die Tür zum Flur auf und Bello kam schwanzwedelnd auf Monika zugelaufen. Sie bückte sich und tätschelte ihn.

    „Was ist denn los, mein kleiner Freund?", sagte sie in dem sanften, hellen Tonfall, den sie dem Hund gegenüber immer anschlug, und kraulte ihn hinter den Ohren. Sie sah, wie Lilly die Hundeleine von der Garderobe nahm. Lilly pfiff und Bello, der das Signal kannte, stürmte zu ihr in den Flur. Sein fröhlich wedelnder Schwanz hätte sie beinahe umgeworfen. Lilly klickte die Hundeleine an das Halsband.

    „Willst du jetzt noch mit Bello los?", fragte Monika verwundert.

    „Ja, nur kurz."

    „Nimm Janus mit. Du gehst nicht alleine, verstanden? Es ist schon spät."

    „Nein, Janus kann mich mal. Er ist so doof!"

    „Okay, aber versprich mir, dass ihr nur kurz draußen bleibt. Nur bis zum Ende der Hecke und wieder zurück."

    „Ja, ja."

    „Und zieh deine Jacke an."

    Monika beugte sich vor, sodass sie in den Flur sehen konnte. Lilly nahm ihre rote Jacke von der Garderobe und schlüpfte mit einer einzigen, geübten Bewegung hinein.

    Monika hörte die Tür zufallen und es wurde wieder still im Zimmer. Nur noch ein paar Schichten und der Dienstplan war endlich fertig. Sie sah auf die Uhr, es war 20.15 Uhr. Sobald Lilly zurück war, hieß es für sie und Janus Zähne putzen und ab ins Bett. Unter der Woche galt die Spätestens-21.00-Uhr-Regel. Thor würde sie wahrscheinlich nicht vor Mitternacht zu Gesicht bekommen. Die Kinder wurden am liebsten von ihm ins Bett gebracht, weil er immer so witzige Stimmen machte, wenn er ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte vorlas. Außerdem war er leichter zu überreden, noch ein Extrakapitel zu lesen.

    Wieder ging sie ans Fenster. Janus versuchte, seinen Basketball in den Korb zu befördern, den Thor an der Wand über dem Carport angebracht hatte. Monika klopfte an die Scheibe, aber er hörte es nicht. Sie zog sich eine Jacke über und ging durch die Terrassentür zu ihm nach draußen. Sie griff sich den Ball, nachdem dieser einmal mehr die Wand anstelle des Korbs getroffen hatte, und warf ihn zurück zu ihrem Sohn, der damit nicht gerechnet hatte und ihn fallen ließ. Sie hatte Thor gebeten, den Korb etwas niedriger aufzuhängen, sah aber jetzt, dass er es noch nicht getan hatte. Er vergaß häufig, dass Janus neun Jahre alt und es schwierig für ihn war, so hoch zu werfen. Am Ende verlor er noch die Lust daran.

    „Worüber hast du dich denn mit deiner Schwester gestritten?", fragte sie. Janus hob den Ball auf und versuchte wieder, ihn in den Korb zu werfen. Fast wäre es gelungen, aber der Ball traf den Ring und prallte ab. Janus sprang vor und fing ihn auf, bevor er auf dem Boden aufsetzte.

    „Nichts. Sie ist nur so eine Nervensäge."

    Noch einmal warf er den Ball.

    „Du hast aber nichts Gemeines zu ihr gesagt, oder Janus?"

    „Nein."

    „Ganz sicher nicht? Sie war ganz schön sauer."

    „Ich habe nur gesagt, dass sie wie ein Fisch ausgesehen hat, der nach Luft schnappt, als wir sie damals gefunden haben."

    Erschrocken starrte Monika ihren Sohn an und griff nach seinem Arm, der bereits wieder den Ball hielt.

    „Janus, jetzt hör mal mit dem Ball auf. Warum sagst du so etwas zu ihr?"

    „Weil sie manchmal so doof ist!"

    „Du kannst auch eine ganz schöne Nervensäge sein, und du weißt, dass du so etwas nicht sagen sollst. Du tust ihr weh, wenn du sie daran erinnerst, was passiert ist. Kannst du das verstehen?"

    Janus prellte den Ball hart auf die Steinplatten, fing ihn wieder auf und wiederholte die Prozedur. Seine blonden, fast weißen Locken klebten an der verschwitzten Stirn, und die Augenbrauen waren vor Wut zusammengezogen, sodass eine Falte zwischen ihnen entstand.

    „Immer haltet ihr nur zu ihr! Das ist ungerecht!" Tränen schlichen sich in Janusꞌ Stimme, und wütend trat er gegen den Ball, der unter der Hecke verschwand.

    „Wir halten doch nicht immer zu Lilly, kleiner Schatz, aber es ist nicht immer leicht für sie, und …"

    Sie streckte die Hand aus, um ihm über die Wange zu streicheln, aber er wich zurück.

    „Wann kommt Papa nach Hause?", fragte er und schaute sie vorwurfsvoll und mit Tränen in den Augen an.

    „Das dauert wohl noch ein bisschen. Ihr schlaft dann schon, aber Papa schaut ja immer noch bei euch rein, heute Abend natürlich auch. Magst du ein Eis? Es sind bestimmt noch welche im Tiefkühlfach."

    „Eins mit Waffel?", fragte er und wischte sich die Augen trocken.

    „Ja, eins mit Waffel, lächelte sie und nahm seine Hand. „Komm, gehen wir rein. Lilly und Bello kommen sicher jetzt gleich.

    Monika sah auf die Wanduhr in der Küche. Lilly war jetzt über eine halbe Stunde weg. Wo blieb sie so lange? Sie hatte versprochen, nicht zu weit wegzugehen. Monika hatte die Spülmaschine ausgeräumt, während Janus sein Eis aß. Danach war er auf sein Zimmer gegangen, um noch ein bisschen Fortnite auf seinem Rechner zu spielen. Er hatte den Schlafanzug an und die Zähne geputzt, die Bedingung dafür, dass er so spät noch zocken durfte. Monika schaute aus dem Fenster. Vielleicht war Lilly ja schon wieder da und spielte mit Bello im Garten, aber es war niemand zu sehen, und die Hecke versperrte den Blick auf die Straße. Sie steckte kurz den Kopf in Janusꞌ Zimmer. Der Junge war in sein Spiel vertieft, und sie ließ ihn spielen und ging nach draußen, um nach Lilly zu sehen. Wieder zog sie sich ihre Jacke über.

    Der Wind hatte ein wenig aufgefrischt und der einsetzende Sonnenuntergang über den gelben Feldern war so schön wie erhofft. Aber Lilly war nirgends zu sehen. Einige hundert Meter entfernt machte der asphaltierte Weg einen Bogen und verschwand hinter einigen Bäumen. Sie ging bis zu der Kurve. Von hier aus verlief der Weg einige Kilometer schnurgerade und war gut einsehbar, bevor er sich zwischen Getreidefeldern und Windschutzhecken verlor.

    Die Entfernung zwischen den Höfen war groß, und Monika glaubte nicht, dass Lilly diese Richtung eingeschlagen hatte. Monikas Herz klopfte jetzt heftiger, und ihre Handflächen, die sie zunehmend fieberhaft aneinander rieb, wurden feucht. Sie ging zurück und versuchte es in der anderen Richtung. Das entsprach Lillys Schulweg, und weiter als bis zur Schule würde Lilly nicht gehen, soviel stand fest, denn dahinter traf der Weg auf die Landstraße, und Lilly wusste, dass sie nicht alleine über die Straße laufen durfte. An der Einfahrt zur Schule hatten zwei Teenager ihre Fahrräder angehalten und sprachen miteinander. Monika ging auf sie zu.

    „Hej. Habt ihr ein kleines Mädchen gesehen, dass hier vorbeigekommen ist?"

    Beide kauten auf ihren Kaugummis und schüttelten den Kopf.

    „Ganz sicher nicht? Sie ist sieben Jahre alt und ungefähr so groß. Monika deutete Lillys Größe mit der Hand an. „Sie hat schulterlange, blonde Locken und eine rote Jacke mit Kapuze , einen Jeansrock und weiße Sandalen an. Sie hat einen kleinen weißen Hund dabei. Sie hörte, wie ihre Stimme zitterte, hörte den flehenden Klang, als wollte sie die Jungs zwingen, ihr zu sagen, wo Lilly war.

    „Nein, wir haben niemanden gesehen", antwortete einer der beiden. Monika hörte, wie sie ihr Gespräch wieder aufnahmen und über irgendetwas lachten, während sie sich umdrehte und auf den Rückweg machte.

    Wo bist du, Lilly?, dachte sie und verspürte den Drang, laut nach ihr zu rufen. Aber was sollte das nutzen, wenn sie weder Lilly noch Bello sehen konnte?

    Janus saß immer noch vor seinem Computerspiel, als Monika zurückkam. Wahrscheinlich hatte er gar nicht bemerkt, dass sie weggewesen war. Sie war jetzt ernstlich beunruhigt. Ein Impuls stellte sich ein, zu ihm ins Zimmer zu gehen und ihn zu schimpfen, weil er gemein zu seiner Schwester gewesen und sie deshalb noch mit dem Hund losgegangen war. Eigentlich hatten sie alle drei Ludo spielen wollen, während Papa noch in der Stadt war, aber sie wusste, dass es falsch wäre, Janus Vorwürfe zu machen. Sie hätte Lilly niemals alleine gehen lassen dürfen, nicht um diese Zeit. Sie hätte mit ihr gehen können, hätte mit ihr darüber sprechen können, warum sie und Janus sich gestritten hatten. Hätte sie trösten können. Sie schaute in Janus' Zimmer.

    „Es ist schon viel zu spät. Geh jetzt bitte ins Bett", sagte sie.

    Janus blickte auf und sah sie an.

    „Jetzt schon? Och Mann, darf ich die Runde noch zu Ende spielen?"

    „Nein, du machst jetzt den Computer aus und gehst ins Bett." Monika betrat das Zimmer und zog die Gardinen zu. Der Raum verdunkelte sich, und sie schlug die Bettdecke auf. Widerwillig gehorchte Janus, fuhr den Computer herunter und legte sich ins Bett. Monika deckte ihn zu.

    „Ist Lilly auch schon im Bett?", fragte er.

    Monika nickte. „Sie ist auch gleich dran. Sie versuchte zu lächeln. „Mach jetzt die Augen zu. Schlaf gut. Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

    Als sie die Tür zum Zimmer ihres Sohnes hinter sich schloss, stieg Panik in ihr auf. Sie atmete stoßweise. Lilly war jetzt schon viel zu lange weg. Es war fast dunkel, und es würde bestimmt noch Stunden dauern, bis Thor nach Hause kam. Monika lief in der Küche auf und ab. Sollte sie die Polizei rufen? Sie dachte an das letzte Mal, als sie das getan hatte, und wozu es geführt hatte. War Lilly vielleicht bei einer Klassenkameradin? Das sah ihr gar nicht ähnlich, aber vielleicht wollte sie Janus eins auswischen, indem sie lange wegblieb. Monika überlegte, wer aus Lillys Klasse von hier aus gesehen am nächsten wohnte, aber wenn sie sich richtig erinnerte, war es zu allen so weit, dass Lilly unmöglich dorthin gegangen sein konnte. Ein Mädchen namens Sara wohnte in der Nähe, aber mit ihr hatte Lilly nie viel zu tun gehabt, und Monika kannte den Nachnamen nicht und wusste auch nicht, wo genau Sara wohnte. Sie rief Thor an. Sie hörte ein Stimmengewirr, gedämpfte Musik und Besteck, das gegen Porzellan klirrte, und dann Thors Stimme.

    „Monika? Was ist denn los?"

    Thor wusste, dass sie ihn niemals anrufen und bei einem Siegesschmaus, wie die Kanzlei es nannte, stören würde, nur um ihm zu sagen, sie vermisse ihn oder sie habe jetzt endlich den Dienstplan für die Klinik fertig. Ergo ging er automatisch davon aus, dass etwas nicht in Ordnung war.

    „Lilly ist weg!", sagte sie atemlos und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

    „Was sagst du?"

    Monika war unsicher, ob Thor sie wegen des Lärms im Restaurant nicht verstehen oder ob er es nicht glauben konnte und deshalb nachfragte. Also wiederholte sie:

    „Lilly ist weg!"

    „Wie kann das sein? Einen Moment mal", hörte sie ihn sagen, und kurz darauf verschwand der Lärm und wurde durch eine Geräuschkulisse ersetzt, die nach im Hintergrund vorbeifahrenden Autos klang. Er war nach draußen gegangen, um ungestört reden zu können, wie sie vermutete.

    „Was ist passiert, Monika?"

    „Lilly wollte noch ein bisschen mit Bello gehen, und bis jetzt ist sie nicht zurückgekommen. Ich habe nach ihr gesucht, aber sie ist nirgends zu finden. Sie ist weg."

    „Ganz ruhig, Schatz. Tief durchatmen. Wann ist sie gegangen?"

    „Vor ungefähr einer Dreiviertelstunde. Ich war dabei, den Dienstplan aufzustellen, und ich … Ich hätte mit ihr gehen müssen, ich …"

    „Ganz ruhig, wiederholte Thor. „Sie taucht bestimmt gleich wieder auf. Wo ist Janus?

    „Im Bett. Ich habe ihm nicht gesagt, dass Lilly noch nicht wieder da ist." Beinahe hätte sie gesagt, dass es seine Schuld sei. Janus' Schuld. Dass er sich mit Lilly gezankt und die alten Wunden wieder aufgerissen hatte, ihr wehgetan hatte, aber sie schaffte es, sich zurückzuhalten.

    „Was soll ich tun, Thor?", fragte sie verzweifelt.

    „Ich nehme mir ein Taxi und komme nach Hause. Wenn Lilly dann immer noch nicht wieder da ist, müssen wir etwas unternehmen. Und du bewahrst die Ruhe, okay?"

    „Ja, okay", versprach Monika, aber es war ein Versprechen, dass sie nicht halten konnte. Sie war alles andere als ruhig. Immerhin würde Thor jetzt nach Hause kommen, und dann war sie wenigstens nicht allein.

    Thor hängte seine Jacke an die Garderobe, warf die Schlüssel auf die Kommode im Flur und betrat das Wohnzimmer, in dem Monika in Embryonalstellung auf einem der Stühle hockte. Sie fror und zitterte. Das Ganze klang so normal. So wie immer, wenn Thor aus der Kanzlei nach Hause kam. Die Geräusche waren dieselben, der Duft seines Aftershaves war derselbe, aber nichts war normal. Draußen war es jetzt dunkel, und Lilly war irgendwo draußen. Monika hatte doch die Polizei angerufen, noch bevor Thor nach Hause gekommen war. Es hatte sich hingezogen. Es war wohl nicht so einfach, sich vom Siegesrausch loszureißen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie seinen Abend ruiniert hatte, aber Lilly war ja auch seine Tochter. Und sie hatte irgendetwas tun müssen. Aber der Diensthabende bei der Polizei, mit dem sie gesprochen hatte, hatte sie ermahnt, noch abzuwarten. Es konnte ja sein, dass das Mädchen bald wieder auftauchte. Bestimmt hatte sie sich nur mit einer Freundin verquatscht. Verquatscht? Lilly quatschte nicht. Monikas Panik hatte ein neues Level erreicht, und sie hatte in den Hörer geschrien, dass ein kleines, siebenjähriges Mädchen verschwunden sei und dabei ängstlich in Richtung Janus' Zimmertür geschaut und gehofft, ihn nicht zu wecken. Sie war sicher, sie hatte hysterisch geklungen. Der Beamte antwortete bloß, sie könne ja noch einmal anrufen, wenn ihre Tochter nicht innerhalb der nächsten Stunde zurückkam. Hinterher überlegte sie, ob sie sich noch an sie erinnerten. Vom letzten Mal. Aber dann fiel ihr ein, dass sie sich ja jetzt in einem anderen polizeilichen Zuständigkeitsbereich aufhielten. Damals war es die Polizei Ostjütland gewesen, hier war die Polizei Mittel- und Westjütland zuständig.

    Thor ging vor ihrem Stuhl in die Hocke und versuchte vergeblich, ihre Hände von dem Kissen zu lösen, an das sie sich krampfhaft klammerten. In seinen Augen konnte sie sehen, dass ihm noch nicht klar war, worum es hier ging. Dass ihre Tochter verschwunden war. Oder war sie zu schnell in Panik verfallen? Verlor sie die Kontrolle, genau wie beim letzten Mal, als sie Lilly nicht finden konnten? War es das, was Thor jetzt dachte? Dass sie überreagierte?

    „Wir müssen sie finden, Thor. Wir müssen nach ihr suchen!"

    „Zusammen mit Bello würde Lilly auf dem Weg bleiben. Sie würde nicht über die Felder laufen. Sie sind viel zu schlammig nach dem Regen der vergangenen Tage. Ich bin die Strecke gerade gefahren und habe natürlich Ausschau nach ihr gehalten. Kann sie bei einer Schulfreundin sein?"

    „Höchstens bei Sara, die anderen wohnen zu weit weg. Aber ich kenne nur ihren Vornamen, Sara, und …"

    Thor stand auf, nahm sein Handy aus der Jackentasche und tippte eine Nummer ein.

    „Wen rufst du an?"

    „Saras Eltern."

    Monika nickte. Natürlich, warum hatte sie nicht selbst daran gedacht? Warum stand in ihrem Kopf alles still? Warum konnte sie sich nicht zusammenreißen und vernünftig denken?

    Thor sprach kurz mit Saras Mutter und aus dem, was er sagte, schloss Monika, dass Lilly nicht bei Sara war. Er rief noch weitere Eltern von Lillys Klassenkameradinnen an, aber keiner von ihnen hatte Lilly gesehen.

    „Sie hat sich doch noch nie mit einer von ihnen zum Spielen verabredet. Warum sollte sie plötzlich spät abends dort auftauchen, einfach so?, sagte sie in angegriffenem Tonfall, vielleicht weil sie dieser Möglichkeit nicht selbst nachgegangen war. „Was machen wir denn jetzt, Thor?

    „Wir müssen die Polizei anrufen, es gibt keine andere Möglichkeit."

    Jetzt wird sich etwas tun, jetzt ruft ein Mann mit ruhiger und autoritärer Stimme an, und keine hysterische Frau, dachte Monika, während sie Thors Stimme lauschte. Er telefonierte mit seinem Handy und ruhig und sachlich erklärte er der Polizei, dass Lilly Danielsen, ihre siebenjährige Tochter, einen Spaziergang mit dem Hund gemacht hatte, aber noch nicht nach Hause gekommen und jetzt seit fast drei Stunden verschwunden sei.

    „Es dauert ein bisschen, aber dann kommen sie mit Suchhunden", sagte Thor, nachdem er auf- und das Handy weggelegt hatte.

    „Ein bisschen? Wie lange? Sie können doch nicht einfach …"

    „Wir müssen warten, Monika. Sie schicken jemanden. Wir sollen ein geeignetes Bild raussuchen, damit sie Lilly zur Fahndung ausschreiben können."

    Monika war nicht fähig, sich aus ihrer zusammengekrümmten Haltung auf dem Stuhl zu lösen und schaute Thor nur an, der wieder nach seinem Handy griff.

    „Das hier ist doch das neueste, das wir von ihr haben, oder?", fragte er und hielt ihr das Handy hin. Das Bild war vor Kurzem im Garten aufgenommen worden. Lilly lächelte ein wenig schief, denn sie hatte ein paar Tage zuvor einen Milchzahn im Oberkiefer verloren und traute sich nicht richtig zu lächeln, weil Janus sie deswegen immer ärgerte. Monika nickte nur. Thor schickte das Bild an den Beamten, legte das Telefon auf den Tisch und ging wieder vor Monikas Stuhl in die Hocke. Er legte die Hände auf ihre Oberschenkel. Sie starrte auf seine sauberen und schönen Hände, die keine härteren Arbeiten ausführten, als den Basketballkorb zu hoch an der Wand beim Carport aufzuhängen.

    „Sollten wir nicht Janus wecken?", fragte er.

    Monika schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. „Hoffentlich finden wir Lilly, bevor er aufwacht. Dann müssen wir ihm nichts erzählen. Sie haben sich gestritten, bevor sie losgegangen ist. Also, sie ist mit Bello los, weil er sie geärgert hat." Mehr sagte sie nicht. Sie wollte Thor nicht an das alles erinnern, und schon gar nicht jetzt. Damals

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