Die fromme Lüge: Sophienlust 461 – Familienroman
Von Ursula Hellwig
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Über dieses E-Book
Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren.
»Bitte, könntest du nicht einmal eine Ausnahme machen, Mutter?« fragte Raimund von Winterfeld und hielt den Telefonhörer fest umklammert. »Diese Reise nach Paris ist wirklich wichtig für uns. Es handelt sich nicht um irgendeine Modenschau. Es ist eine Fachmesse, und ich möchte, daß Barbara mitkommt. Sie hat einen guten Geschmack und kann mich ein bißchen beraten. Ich möchte einige neue Modelle in unser Programm aufnehmen. Es ist nowendig, daß wir unser Angebot stets erweitern. Das weißt du doch selbst.« »Das weiß ich sehr wohl«, erwiderte Juliane von Winterfeld kühl. »Ich kenne mich in diesem Geschäft aus. Nicht umsonst habe ich mit deinem Vater über zwanzig Jahre lang unsere Modehäuser geleitet. Aber euer Kind ist nicht mein Problem. Ich kann mich nicht um einen sechs Jahre alten Jungen kümmern. Barbara muß sehen, wo sie ihr Kind unterbringt.« »Es ist auch mein Kind«, versuchte Raimund es noch einmal. »Vergiß das bitte nicht. Außerdem ist es nur für fünf Tage, und Daniel ist ein lieber kleiner Bursche.«
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Buchvorschau
Die fromme Lüge - Ursula Hellwig
Sophienlust
– 461 –
Die fromme Lüge
Unveröffentlichter Roman
Ursula Hellwig
»Bitte, könntest du nicht einmal eine Ausnahme machen, Mutter?« fragte Raimund von Winterfeld und hielt den Telefonhörer fest umklammert. »Diese Reise nach Paris ist wirklich wichtig für uns. Es handelt sich nicht um irgendeine Modenschau. Es ist eine Fachmesse, und ich möchte, daß Barbara mitkommt. Sie hat einen guten Geschmack und kann mich ein bißchen beraten. Ich möchte einige neue Modelle in unser Programm aufnehmen. Es ist nowendig, daß wir unser Angebot stets erweitern. Das weißt du doch selbst.«
»Das weiß ich sehr wohl«, erwiderte Juliane von Winterfeld kühl. »Ich kenne mich in diesem Geschäft aus. Nicht umsonst habe ich mit deinem Vater über zwanzig Jahre lang unsere Modehäuser geleitet. Aber euer Kind ist nicht mein Problem. Ich kann mich nicht um einen sechs Jahre alten Jungen kümmern. Barbara muß sehen, wo sie ihr Kind unterbringt.«
»Es ist auch mein Kind«, versuchte Raimund es noch einmal. »Vergiß das bitte nicht. Außerdem ist es nur für fünf Tage, und Daniel ist ein lieber kleiner Bursche.«
»Nein, Raimund, tut mir leid. Du hast diese Frau, die wahrhaftig nicht in unsere Kreise paßt, geheiratet. Ich war damit nie einverstanden.«
Gequält verdrehte der Mann die Augen. Was seine Mutter ihm jetzt erzählte, hatte er schon tausendmal gehört. Nach ihrer Meinung war es nicht standesgemäß, eine einfache Beamtentochter zu heiraten. Juliane von Winterfeld hatte für ihren Sohn damals schon eine passende Braut ausgesucht und war außer sich, als Raimund die Botschaftertochter abgelehnt und statt dessen die Tochter eines Buchprüfers zum Standesamt geführt hatte. Bei jeder Gelegenheit hetzte sie nun gegen Barbara.
»Schon gut, Mutter«, sagte Raimund. »Wir werden bestimmt eine Lösung finden.«
Barbara von Winterfeld hatte das Gespräch mit angehört. »Wir hätten deine Mutter nicht bitten sollen, Daniel für die fünf Tage aufzunehmen«, sagte sie. »Es war doch klar, daß sie es ablehnt. Sie haßt mich aus tiefster Seele, und Daniel ist eben ein Stück von mir.«
»Trotzdem ist der Junge ihr Engel«, meinte Raimund ärgerlich. »Ich verstehe Mutter nicht. Sie müßte sich doch längst damit abgefunden haben, daß du meine Frau geworden bist.«
»Damit wird sie sich nie abfinden«, widersprach Barbara. »Du bist ihr einziger Sohn. Sie hatte große Pläne mit dir. Die hast du durchkreuzt, als du ein armes Mädchen geheiratet hast. Das verzeiht sie dir niemals.«
»Vielleicht hast du recht. Aber was machen wir nun mit unserem Sprößling? Wir können ihn doch nicht mitnehmen. Er würde sich entsetzlich langweilen und womöglich lauter Unfug anstellen.«
Barbara war von Anfang an sicher gewesen, daß Juliane von Winterfeld die Bitte, den Jungen zu beaufsichtigen, abschlagen würde. Deshalb hatte sie sich bereits nach einer anderen Möglichkeit umgesehen. Eine Nachbarin hatte ihr von einem Kinderheim berichtet, das ganz in der Nähe, in dem kleinen Ort Wildmoos, lag. Dieses Heim hatte Barbara sich von außen angesehen und war begeistert gewesen. Jetzt erzählte sie ihrem Mann davon.
»Sophienlust heißt das Heim. Aber die Bezeichnung Kinderheim ist eigentlich nicht richtig. Es handelt sich um ein wunderschönes altes Herrenhaus, das mitten in einem Park liegt. Es wird von einer Frau von Schoenecker verwaltet. Soweit ich gehört habe, hat ihr Sohn Nick diesen herrlichen Besitz geerbt. Er ist aber noch nicht volljährig. Deshalb verwaltet seine Mutter Sophienlust für ihn. Nicks Vater ist gestorben, als der Junge noch nicht auf der Welt war. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Vielleicht kann Daniel für die fünf Tage in Sophienlust bleiben.«
Raimund war von diesem Vorschlag wenig begeisert. Sein Sohn in einem Kinderheim? Das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Schließlich war Daniel kein Waisenkind. Barbara spürte sein etwas ablehnendes Verhalten und versuchte, ihn für ihre Idee zu gewinnen.
»Sophienlust ist kein Kinderheim im üblichen Sinne. Es leben nur wenige Kinder dort. Eigentlich ist es eine große Familie. Ich habe gehört, daß es häufig vorkommt, daß Kinder ein paar Tage dort verbringen, wenn die Eltern aus irgendwelchen Gründen verhindert sind.«
»Ich bin nicht sicher, ob das die richtige Lösung ist«, meinte Raimund nachdenklich. »Aber wir haben wohl kaum eine andere Wahl. Vielleicht ist es sogar ganz gut für den Jungen, wenn er einmal für einige Zeit den ganzen Tag mit anderen Kindern zusammen ist.«
Damit war es beschlossene Sache, daß Daniel in Sophienlust untergebracht werden sollte.
Barbara telefonierte mit Denise von Schoenecker, die sofort bereit war, das Kind aufzunehmen. Für sie war es ein ganz alltäglicher Fall. Immer wieder kam es vor, daß Kinder kurzfristig nach Sophienlust kamen, weil die Eltern verreisen mußten, die Mütter im Krankenhaus lagen oder sich aus anderen Gründen nicht um ihre Kinder kümmern konnten.
Daniel selbst nahm es erstaunlich gelassen hin, als seine Eltern ihm erzählten, daß er für fünf Tage in Sophienlust wohnen sollte. Obwohl es die erste Trennung von seinen Eltern war, war er sofort einverstanden. Er hatte nämlich gehört, daß er eventuell bei seiner Großmutter bleiben sollte. Das wollte er aber nicht. Er hatte sie bisher nur dreimal gesehen, aber direkt gemerkt, daß diese Frau ihn nicht mochte. Dann wollte er schon lieber nach Sophienlust. Dort gab es wenigstens Kinder, mit denen er spielen und vielleicht sogar Streiche aushecken konnte.
Denise von Schoenecker hatte die Familie von Winterfeld freundlich empfangen, und die Heimleiterin, Frau Rennert, die von den Kindern Tante Ma genannt wurde, hatte Daniel das Zimmer gezeigt, in dem er schlafen sollte. Es war ein heller, gemütlich eingerichteter Raum, den Daniel mit einem elf Jahre alten Jungen namens Fabian teilte.
Fabian lebte als Dauerkind in Sophienlust. Er hatte seine Eltern bei einem Zugunglück verloren.
Raimund mußte zugeben, daß er sich völlig falsche Vorstellungen von diesem Kinderheim gemacht hatte. Es war tatsächlich ein herrliches Anwesen, auf dem jedes Kind einfach glücklich sein mußte. Es gab mehr als reichlich Platz zum Spielen und sogar Ponys, auf denen die Kinder reiten durften.
»Ihr Haus ist wirklich ein Musterbeispiel für ein ideales Kinderheim«, sagte Raimund zu Denise, als sie die notwendigen Formalitäten erledigten. »Aber ist das für eine Witwe nicht eine recht schwierige Aufgabe?«
Die schwarzhaarige, jugendlich wirkende Frau sah ihn erstaunt an. »Manchmal ist es nicht leicht. Aber es ist eine wundervolle Aufgabe. Allerdings bin ich keine Witwe.«
Raimund von Winterfeld murmelte eine Entschuldigung. »Ich habe gedacht, der Vater Ihres Sohnes Nick sei gestorben. Meine Frau hat mir das erzält. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Mißverständnis.«
»Nein, nein, das ist schon richtig«, erklärte Denise. »Nicks Vater ist schon lange tot. Ich habe wieder geheiratet. Mein Mann Alexander hat damals zwei Kinder mit in die Ehe gebracht. Er war ebenfalls verwitwet. Die beiden Kinder sind inzwischen erwachsen. Sascha studiert in Heidelberg, und Andrea ist mit dem Tierarzt Hans-Joachim von Lehn verheiratet. Sie ist heute selbst schon Mutter.«
»Ich muß Ihnen meine Bewunderung aussprechen«, sagte Barbara. »Dieses Heim zu führen, erfordert bestimmt viel Kraft. Dazu noch drei Kinder zu erziehen, das ist nicht einfach.«
»Vier«, erwiderte Denise lächelnd. »Es sind vier Kinder. Alexander und ich haben noch einen gemeinsamen Sohn, der jetzt neun Jahre alt ist. Henrik ist unser Nesthäkchen.«
»Wohnen Sie eigentlich alle gemeinsam hier in Sophienlust?« wollte Raimund wissen.
»Nein, wir wohnen auf Gut Schoeneich. Es liegt ganz in der Nähe und ist mit Sophienlust durch eine Privatstraße verbunden. Aber unsere beiden jüngsten Kinder sind fast täglich hier. Das ist viel interessanter. In Sophienlust ist immer etwas los. Nick nimmt seine Aufgabe als künftiger Besitzer des Kinderheims jetzt schon sehr ernst. Er ist zwar erst sechzehn Jahre alt, aber er ist mit dem Gedanken groß geworden, daß er eines Tages für Sophienlust verantwortlich sein wird. Er hat diesen Besitz von seiner Urgroßmutter geerbt, als er noch klein war. Nach ihrem Wunsch sollte das Haus in ein Heim für verlassene und in Not geratene Kinder umgewandelt werden. Diesen Wunsch haben wir gern erfüllt.«
Nachdem Barbara und Raimund von Winterfeld nun alles über das Kinderheim erfahren hatten, wollten sie mit Daniel einen Rundgang unternehmen. Aber damit mußten sie noch eine Weile warten.
Die Kinder waren inzwischen von der Schule zurückgekehrt, und auch das Nesthäkchen von Sophienlust, die fünfjährige Heidi, war mit der Kinderschwester Regine Nielsen von einem Spaziergang wieder eingetroffen.
Es dauerte nicht lange, bis die Kinder bemerkt hatten, daß ein neuer Junge angekommen war. Das bedeutete für sie immer wieder ein großes Ereignis. Daniel wurde nach seinem Namen gefragt, und wie lange er bleiben würde, wollten die Kinder auch wissen.
»Fünf Tage nur«, meinte Pünktchen, ein dreizehnjähriges Mädchen mit einer Vielzahl von Sommersprossen auf der Nase. Die hatten ihm auch den Spitznamen Pünktchen verliehen. Eigentlich hieß das Mädchen Angelina Dommin und lebte bereits seit vielen Jahren in Sophienlust. Die Eltern waren bei einem Zirkusbrand umgekommen.
»Schade, daß du nicht länger bleibst«, bedauerte Pünktchen. »Aber auch in fünf Tagen kann man eine Menge unternehmen. Langweilig wird es bestimmt nicht werden.«
»Gehst du schon in die Schule, Daniel?« fragte die kleine Heidi erwartungsvoll.
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Ich bin ja gerade erst sechs Jahre alt geworden. Nächstes Jahr komme ich in die Schule.«
»Das ist fein!« rief Heidi und klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Dann können wir zusammen spielen, wenn die Großen in der Schule sind. Allein ist es nämlich manchmal