Spatz im fremden Nest: Sophienlust Bestseller 103 – Familienroman
Von Susanne Svanberg
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Über dieses E-Book
Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird.
Der D-Zug fuhr durch eine verschneite Landschaft. Rauhreif glitzerte auf den tiefhängenden Zweigen der Bäume, auf Zäunen und Gräsern. Mit einer dünnen Eisschicht überzogen waren Straßen und Wege. Die Glätte zwang viele Autofahrer, die Bahn zu benutzen. Auch Dr. Hans-Joachim von Lehn, dem jungen Tierarzt, ging es so. Er kam von einem Veterinär-Kongreß in Wiesbaden. Die fachlichen Diskussionen mit den Kollegen waren sehr interessant gewesen. Die Gedanken des gutaussehenden Mannes mit dem dichten blonden Haar und den klaren blauen Augen beschäftigten sich noch mit dem Problem der Gesunderhaltung des Mastviehs auf Schweine- und Geflügelfarmen. Ein bekannter Professor hatte darüber ein umfassendes Referat gehalten. Gedruckte Auszüge daraus waren später unter die Anwesenden verteilt worden. Dr. von Lehn nahm die eng beschriebenen Seiten zur Hand, um einige Stellen noch einmal nachzulesen. Doch er konnte sich nicht richtig auf seine Lektüre konzentrieren. Denn ihm gegenüber saß eine junge Frau und hielt ein lebhaftes Kind auf dem Schoß. Es mochte etwa eineinhalb bis zwei Jahre alt sein und sah ganz reizend aus. Blonde Locken umrahmten ein pausbäckiges Gesichtchen, das von großen blauen Augen beherrscht wurde. Immer wieder lachte die Kleine. Unwillkürlich wurde Hans-Joachim an seinen kleinen Sohn Peterle erinnert. Peterle war ungefähr im gleichen Alter, hatte ebenfalls blondes Haar und war genauso quicklebendig.
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Buchvorschau
Spatz im fremden Nest - Susanne Svanberg
Sophienlust Bestseller
– 103 –
Spatz im fremden Nest
Warum Klein-Katrin für Aufregung sorgte
Susanne Svanberg
Der D-Zug fuhr durch eine verschneite Landschaft. Rauhreif glitzerte auf den tiefhängenden Zweigen der Bäume, auf Zäunen und Gräsern. Mit einer dünnen Eisschicht überzogen waren Straßen und Wege.
Die Glätte zwang viele Autofahrer, die Bahn zu benutzen. Auch Dr. Hans-Joachim von Lehn, dem jungen Tierarzt, ging es so. Er kam von einem Veterinär-Kongreß in Wiesbaden. Die fachlichen Diskussionen mit den Kollegen waren sehr interessant gewesen.
Die Gedanken des gutaussehenden Mannes mit dem dichten blonden Haar und den klaren blauen Augen beschäftigten sich noch mit dem Problem der Gesunderhaltung des Mastviehs auf Schweine- und Geflügelfarmen. Ein bekannter Professor hatte darüber ein umfassendes Referat gehalten. Gedruckte Auszüge daraus waren später unter die Anwesenden verteilt worden.
Dr. von Lehn nahm die eng beschriebenen Seiten zur Hand, um einige Stellen noch einmal nachzulesen. Doch er konnte sich nicht richtig auf seine Lektüre konzentrieren. Denn ihm gegenüber saß eine junge Frau und hielt ein lebhaftes Kind auf dem Schoß. Es mochte etwa eineinhalb bis zwei Jahre alt sein und sah ganz reizend aus.
Blonde Locken umrahmten ein pausbäckiges Gesichtchen, das von großen blauen Augen beherrscht wurde. Immer wieder lachte die Kleine.
Unwillkürlich wurde Hans-Joachim an seinen kleinen Sohn Peterle erinnert. Peterle war ungefähr im gleichen Alter, hatte ebenfalls blondes Haar und war genauso quicklebendig.
Obwohl der junge Tierarzt nur zwei Tage von seiner Familie getrennt gewesen war, hatte er Sehnsucht nach ihr und freute sich unbändig auf das Wiedersehen. Jede Trennung von seiner jungen Frau machte ihn unruhig und ungeduldig. Er liebte die hübsche Andrea mit der ganzen Kraft seiner Jugend. Sie war für ihn die Verkörperung alles Schönen und Guten auf dieser Welt. Peterle war die vollkommene Ergänzung ihres Glücks.
Gewissenhaft versuchte der junge Tierarzt, sich wieder auf seinen Bericht zu konzentrieren. Gegenüber quietschte das Kind laut und übermütig. Es war ein freundliches kleines Wesen, das zu allen Mitreisenden Kontakt suchte. Doch der ältere Herr in der Ecke stellte sich schlafend, und die beiden Mädchen am Fenster unterhielten sich so gut, daß sie die Annäherungsversuche des Kindes überhaupt nicht bemerkten.
Hans-Joachim blinzelte hinter seinem Bericht hervor. Zu Hause spielte er oft mit Peterle und wußte sehr gut, wie Kinder in diesem Alter darauf reagieren. Er hatte sich nicht getäuscht. Die Kleine mit den goldblonden Locken bemerkte seinen Blick sofort. Vergnügt kicherte sie, wie es nur Kinder in diesem Alter können.
Die Brücke war geschlagen. Hans-Joachim von Lehn kam von dem Kind nicht mehr los. Er brauchte nur den kleinen Finger zu bewegen, schon wurde es gegenüber registriert. Die Kleine mit ihrem sorglosen Lachen forderte ihn zu immer neuen Spielchen heraus. Vorbei war es mit dem Lesen.
Dr. von Lehn war nicht böse deshalb. Was konnte schöner sein als diese strahlenden blauen Kinderaugen?
»Katrin hat Vertrauen zu Ihnen. Dürfte ich Sie deshalb um einen großen Gefallen bitten?« sagte da eine rauh klingende Stimme.
Der junge Tierarzt, der die Mutter des Kindes bisher gar nicht beachtet hatte, ließ seinen Bericht sinken. »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, gern.«
»Ich… ich müßte mal rasch raus. Könnten Sie Katrin bitte so lange halten?« Die junge Frau schien sehr nervös zu sein. Ängstlich schaute sie immer wieder zur Tür. Zitterten nicht ihre Hände?
»Selbstverständlich«, willigte Hans-Joachim ohne Bedenken ein. Er war überzeugt, daß das Anliegen dieser jungen Frau sehr dringend war und daß sich damit auch ihre Nervosität erklären ließ.
Er übernahm das kleine Mädchen, das keinen Moment traurig darüber zu sein schien, daß sich seine Mutti entfernte. Dr. von Lehn war erleichtert. Aus Erfahrung wußte er, daß es oft sehr schwierig war, ein weinendes Kleinkind zu beruhigen.
»Wie heißt du denn?« erkundigte er sich lächelnd. Irgendwie mußte er seinen Schützling ja beschäftigen.
Groß sahen ihn die blauen Kinderaugen an. Dicke, noch etwas unbeholfene Händchen tasteten sein Gesicht ab, rissen an seiner Krawatte.
Hans-Joachim mußte seine Frage wiederholen.
Jetzt lächelte die Kleine spitzbübisch. Sie schien ihre Erkundigungen abgeschlossen zu haben und mit dem Ergebnis sehr zufrieden zu sein.
»Tatrin!« erklärte sie laut und deutlich.
»Und weiter?«
»Tatrin lieb!« Schmeichelnd lehnte das Kind sein Lockenköpfchen an Hans-Joachims Brust.
»Ja, das bist du«, bestätigte der Tierarzt amüsiert. Inzwischen war ihm klargeworden, daß dieses Kind noch zu klein war, um seinen ganzen Namen zu kennen.
»Schau mal, magst du das?« Hans-Joachim zog eine Schachtel Kekse aus der Aktentasche, die er eigentlich für Peterle gekauft hatte. Doch er konnte ja am Bahnhof von Maibach Ersatz besorgen.
Sofort griff Katrin zu. »Mamamm! Mamamm! Mamamm!« krähte sie und öffnete verlangend das Mündchen.
Hans-Joachim öffnete das Päckchen und fütterte seinen kleinen Schützling.
Daß Katrin Hunger hatte, stand bald außer Zweifel. Denn sie futterte einen Keks nach dem anderen. Als die Schachtel leer war, hob Dr. von Lehn den Kopf und schaute zum ersten Mal zur Tür, ob Katrins Mutter wohl zurückkäme.
Der Tierarzt reckte in der nächsten Viertelstunde noch mehrmals den Hals und schaute durch die Scheiben hinaus auf den Flur. Katrins Mutti kam nicht.
Bereits zweimal hatte der Zug inzwischen gehalten. Die junge Frau erschien nicht mehr. Müde geworden, legte Katrin das Köpfchen in Hans-Joachims Armbeuge, schloß die Augen und schlief kurz darauf fest und ruhig.
Jetzt wurde Dr. Hans-Joachim von Lehn unruhig. Der alte Herr hatte das Zugabteil inzwischen verlassen, die beiden jungen Damen am Fenster unterhielten sich noch immer. Von ihnen war keine Hilfe zu erwarten.
Der Tierarzt stand auf und ging mit dem Kind auf dem Arm durch die langen Gänge zum Abteil des Zugführers. Ruhig und sachlich berichtete er über den Vorfall.
»Warten Sie hier«, empfahl der Mann in Uniform ihm. »Ich werde die junge Mutter ausfindig machen. Sie muß ja irgendwo im Zug sein. Vielleicht hat sie Bekannte getroffen und wurde aufgehalten.«
Hans-Joachim blieb in dem kleinen Büro.
Er wartete fünf Minuten, zehn, eine Viertelstunde. Immer nervöser wurde er. Heimlich verfluchte er jetzt seine Gutmütigkeit.
Endlich kam der Bahnbeamte zurück. Er war sichtlich erregt.
»Wir haben den ganzen Zug durchsucht und auch eine entsprechende Durchsage gemacht. Leider ohne Erfolg. Es muß angenommen werden, daß die Frau ausgestiegen ist.«
»Sie meinen, daß sie das Kind absichtlich im Stich gelassen hat?« Hans-Joachim fühlte, daß seine Stirn feucht wurde.
»Das ist schwer zu sagen.« Der Beamte zuckte hilflos die Schultern. »Vielleicht wollte die Mutter des Kindes auf dem Bahnsteig etwas besorgen und hat dabei den Zug verpaßt. Wir wenden uns auf jeden Fall sofort an die Bahnpolizei der nächsten Station.«
»Aber ich muß doch umsteigen.« Ratlos schaute Dr. von Lehn auf das Kind in seinen Arm, das von der ganzen Aufregung nichts bemerkte. Es schlief selig.
»Es tut mir leid, aber wir können verständlicherweise auf Ihre Angaben nicht verzichten. Es wird Sie etwas Zeit kosten. Das läßt sich nicht ändern.«
Hans-Joachim dachte sofort an Andrea, die ihn am Bahnhof von Maibach erwartete. Wie sollte er sie jetzt benachrichtigen, daß er nicht komme? Andrea hatte das Haus bestimmt schon verlassen.
»Und was geschieht, wenn die Bahnpolizei von der Mutter auch nichts weiß?« erkundigte sich der Tierarzt, in sein Schicksal ergeben.
»Dann wird das Kind der Bahnhofsmission übergeben. Meldet sich die Mutter auch dort nicht, bringt man es vorübergehend in ein Heim. Doch damit haben Sie nichts mehr zu tun. Im übrigen sind wir gleich da.« Der Zugführer deutete auf die ersten Häuser.
»Ich muß noch meine Tasche holen. Würden Sie bitte die Kleine übernehmen?« Hans-Joachim wollte das Kind vorsichtig auf eine gepolsterte Bank legen. Doch dabei erwachte Katrin und klammerte sich sofort ängstlich an ihn. Der Mann in der dunkelblauen Uniform schien ihr Angst einzuflößen. Sobald ihr Blick auf ihn fiel, begann sie laut zu weinen.
Was blieb Hans-Joachim anderes übrig, als Katrin mitzunehmen? Seufzend quälte er sich durch die Gänge, in denen die Reisenden bereits zu den Türen drängten.
*
Schwester Luzie legte einen Stoß Krankenblätter auf den Schreibtisch des Oberarztes. »Sie kommen doch heute abend?« erkundigte sie sich forsch.
»Wohin?« Zerstreut schaute Dr. Jörg Warding auf seine beste Mitarbeiterin.
Luzie Bernauer war Oberschwester der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses. Seit sechs Jahren schon verteidigte sie die Stellung gegen alle ehrgeizigen Kolleginnen. Die ständige Angst vor der Konkurrenz hatte sie über sich selbst hinauswachsen lassen. Sie wußte alles, hörte alles, konnte alles. Auf sie konnte man sich unbedingt verlassen. Sie war so etwas wie eine wandelnde Registratur. Dabei sah sie immer nett und gepflegt aus. Unter dem weißen Häubchen sahen rotblonde Locken hervor, und die vielen Sommersprossen auf der kessen Nase nahmen Luzies Gesicht die Strenge.
»Ins Schwesternheim natürlich. Dort ist doch heute Faschingsball.« Luzie Bernauer schaute den Oberarzt treuherzig an. Er gefiel ihr. Obwohl der große, sportlich wirkende Arzt mit dem dunklen Haar und den klugen dunklen Augen mit seinen achtunddreißig Jahren ein Jahr jünger war als sie, dachte sie ab