Sie wollte ein Kind um jeden Preis: Mami 2069 – Familienroman
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Es geschah am Abend des 16. November. Zweimal fiel der Strom aus, was alle erheblich störte, außer Siegbert Brügge, denn für ihn gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkel! Siegbert, ältester Sohn des Industriellen Burkhard Brügge, Besitzer einer papierverarbeitenden Fabrik, einer Klischeeanstalt und mehrerer Druckereien, Siegbert hatte nie das Tageslicht erblicken können. Er war blind geboren, und an diesem Zustand hatte sich bis heute nichts geändert. Er war sechsundzwanzig Jahre alt. Alle anderen Anwesenden hatten zutiefst geseufzt, als das Licht ausging. Wilma, die Hausherrin, saß an ihrem Schreibtisch und entwarf einen schwierigen Brief an ihren zweiten Sohn, den Studenten Alf. Burkhard, der Hausherr, überprüfte die Bilanz eines seiner Unternehmen und fluchte leise, als seine Lampe verlosch. Sabine, die einzige Tochter des Ehepaares, sowie Aliza von Korte, seit einem Jahr Haustochter in Vogelsang, schimpften ausgiebig, denn sie wollten ein bißchen lesen. Nun, etwa zehn Minuten später ging das Licht wieder an, um nach einer weiteren Stunde abermals zu verlöschen. Diesmal wurde Wilma unruhig. »Ich habe ein seltsames Gefühl«, vertraute sie ihrem Mann an. Burkhard Brügge, ein großer, schmaler Endfünfziger mit einem Gelehrtengesicht und randloser Brille, lächelte ein wenig amüsiert. »Aber, Wilma.« »Kinder, es wird sicher gleich wieder hell. Fürchtet ihr euch etwa?« Ein herzliches Lachen war die Antwort. Es brach jedoch abrupt ab, denn Wolf, der Schäferhund, begann plötzlich wie toll zu bellen.
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Buchvorschau
Sie wollte ein Kind um jeden Preis - Carmen von Lindenau
Mami
– 2069 –
Sie wollte ein Kind um jeden Preis
Der letzte Schritt einer verzweifelten Frau
Carmen von Lindenau
Es geschah am Abend des 16. November. Zweimal fiel der Strom aus, was alle erheblich störte, außer Siegbert Brügge, denn für ihn gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, Licht und Dunkel!
Siegbert, ältester Sohn des Industriellen Burkhard Brügge, Besitzer einer papierverarbeitenden Fabrik, einer Klischeeanstalt und mehrerer Druckereien, Siegbert hatte nie das Tageslicht erblicken können. Er war blind geboren, und an diesem Zustand hatte sich bis heute nichts geändert. Er war sechsundzwanzig Jahre alt.
Alle anderen Anwesenden hatten zutiefst geseufzt, als das Licht ausging. Wilma, die Hausherrin, saß an ihrem Schreibtisch und entwarf einen schwierigen Brief an ihren zweiten Sohn, den Studenten Alf. Burkhard, der Hausherr, überprüfte die Bilanz eines seiner Unternehmen und fluchte leise, als seine Lampe verlosch.
Sabine, die einzige Tochter des Ehepaares, sowie Aliza von Korte, seit einem Jahr Haustochter in Vogelsang, schimpften ausgiebig, denn sie wollten ein bißchen lesen.
Nun, etwa zehn Minuten später ging das Licht wieder an, um nach einer weiteren Stunde abermals zu verlöschen. Diesmal wurde Wilma unruhig.
»Ich habe ein seltsames Gefühl«, vertraute sie ihrem Mann an.
Burkhard Brügge, ein großer, schmaler Endfünfziger mit einem Gelehrtengesicht und randloser Brille, lächelte ein wenig amüsiert.
»Aber, Wilma.«
Wilma steckte eine Kerze an und rief über den Flur:
»Kinder, es wird sicher gleich wieder hell. Fürchtet ihr euch etwa?«
Ein herzliches Lachen war die Antwort.
Es brach jedoch abrupt ab, denn Wolf, der Schäferhund, begann plötzlich wie toll zu bellen. Gleichzeitig hörte man ein Auto anfahren. Das Geräusch verlor sich jedoch bald darauf in der Ferne.
Es war gegen zehn Uhr abends, als das Licht wieder anging.
»Gott sei Dank!« murmelte Wilma und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch.
Burkhard sah sie fragend an.
»An wen schreibst du denn?«
»An Alf. Wegen dieses Mädchens.«
»Darf ich mal lesen?«
»Natürlich.«
Burkhard ließ sich in einen Sessel sinken, nahm den Briefbogen zur Hand und las:
Mein lieber Junge. Immer wieder habe ich es aufgeschoben, Deine letzten, überraschenden Zeilen zu beantworten.
Es fällt mir schwer, die passenden Worte zu finden, in dieser komplizierten, um nicht zu sagen delikaten Angelegenheit.
Du bist nun vierundzwanzig, lieber Alf, und ich glaube nicht, daß man mit vierundzwanzig reife Entschlüsse betreffend Zukunft und gemeinsamen Leben fassen kann. Aus diesen und anderen Gründen rate ich Dir: Überlege und warte ab!
Das Mädchen, von dem Du mir schreibst, mag, rein äußerlich betrachtet, attraktiv sein. Es mag Herzensbildung und menschliche Qualitäten aufweisen. Das alles glaube ich Dir gern.
Aber ganz abgesehen davon, lieber Alf, überlege Dir, ob sie den Pflichten gewachsen sein würde, die auf sie zukämen, sobald sie Dich geheiratet hat. Ich weiß, was alles von Deiner künftigen Frau erwartet wird, denn ich habe das gleiche an der Seite Deines Vaters ja selbst exerziert.
Glaube nur ja nicht, daß ein hübsches Gesicht und eine niedliche Figur ausreichen, um Haus Vogelsang mitsamt den Verpflichtungen, die daran geknüpft sind, zu übernehmen.
Wäre Siegbert gesund, sähe alles anders aus. So aber wird die ganze Last der Verantwortung auf Deinen Schultern ruhen, was automatisch Deine Frau einbezieht. Sie muß repräsentieren können, sie muß gut aussehen. Sie muß alles gelernt haben, was man als Hausherrin auf Vogelsang braucht, und ich kann Dir aus eigener, bitterer Erfahrung sagen, daß das nicht wenig ist. Es gehört Organisationstalent und Selbstlosigkeit dazu, Ausdauer und Geduld.
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß ein Mädchen, das in der Welt des Theaters zu Hause ist, dies alles mitbringt. Im Gegenteil. Du würdest sie mit einer Heirat früher oder später sehr unglücklich machen und Dich selbst ebenfalls. Aus diesem Grunde, lieber Alf, kann ich Deinem Entschluß nicht zustimmen.
Es tut mir überaus leid, Dir das sagen zu müssen, aber so, wie die Dinge stehen, sehe ich keine Möglichkeit, das Mädchen hier aufzunehmen. Es würde ihr auch gar nicht gefallen, und von beruflicher Weiterarbeit könnte nicht die Rede, sein. Erstens können wir uns das nicht leisten, zweitens wäre der Beruf einer Schauspielerin das letzte, was zu einer Frau Brügge paßt.
Bis dahin hatte Wilma geschrieben. Burkhard legte den Bogen wieder auf den Schreibtisch seiner Frau.
»Ich finde, daß du dich sehr gut und sehr warmherzig ausgedrückt hast, in Anbetracht der Tatsache, daß die Sache einfach indiskutabel ist. Ich hätte wahrscheinlich härter geschrieben.«
Hastig drehte Wilma den Briefbogen um, als sie Schritte hörte. Aliza von Korte trat ein und fragte:
»Störe ich?«
»Aber keineswegs, mein Kind.«
»Ich wollte gerade runtergehen und die Lichter in der Halle löschen. Wenn ihr Appetit auf eine kleine Erfrischung habt, bringe ich sie gern mit herauf. Sabine und ich trinken noch eine Limonade.«
»Selterswasser«, sagte Burkhard Brügge sofort.
»Wie immer, Aliza.«
»Und für mich auch eine Limonade. Was ist mit Siegbert?«
»Er möchte einen Kaffee und ein paar von Malwines leckeren Rosinenplätzchen.
Summend stieg Aliza die geschwungene Treppe hinunter. Wilma hörte sie die Tür zum Wirtschaftstrakt öffnen, hörte sie mit Geschirr hantieren und endlich die Tür wieder schließen. Und sie hörte den Aufschrei: »Mein Gott! Oh, mein Gott!«
In diesem Moment war Wilma Brügge auf den Beinen. Sabine, atemlos, lief hinter der Mutter her die Treppe hinunter.
Burkhard Brügge folgte.
Aber als er unten In der Halle stand, fand auch er keine anderen Worte als: »Mein Gott, oh, mein Gott!« Denn neben dem Schirmständer stand eine Tragetasche. Und in der ruhte ein winziges Baby.
»Wo um Himmels willen kommt das Kind her?« murmelte Burkhard fassungslos, während seine Frau sich bereits über das Baby beugte. Aber nichts deutete auf die Herkunft hin.
»Alsdann«, sagte Wilma Brügge aufatmend, »ich nehme das Kind, und du, Sabine, läufst schnell hinüber zu Großjohanns Frau, bittest sie um eine Dose Pelargon sowie um eine Flasche und Schnuller. Es ist zehn Uhr am Abend – das Kind wird daran gewöhnt sein, um diese Zeit zu trinken.«
»Eine Dose – was?« erkundigte sich Sabine, die sprachlos war.
»Pe-lar-gon«, buchstabierte ihre Mutter ungeduldig. »Großjohanns Jüngstes wird damit gefüttert. Wo immer das Kind herkommt – in jedem Fall werde ich es nicht verhungern lassen.«
»Wie alt schätzt du den Wurm?« fragte Burkhard, der mitleidig das winzige Gesicht betrachtet hatte.
»Ein Neugeborenes, nicht wahr?« hauchte Aliza.
»Etwa zwei Wochen alt«, sagte Wilma abschätzend, »höchstens drei. Unverantwortlich, ein so kleines Kind einfach hier abzustellen wie ein Paket!«
Als Sabine mit der Milchpulverdose, einem Packen Windeln, Windelhöschen und weiteren Kleinigkeiten anrückte, die von der fürsorglichen Chauffeursfrau gestiftet worden waren, lag der kleine Besuch nackt und strampelnd auf einer Decke auf dem runden Eßtisch.
»Schnell, schnell!« kommandierte Wilma Brügge. »Es darf keinesfalls frieren.«
Wilma Brügge nahm das Kind hoch und schaute es an. »Na, eins wissen wir immerhin jetzt. Es ist ein Mädchen.«
Sie wickelte das Kind, und gab ihm zu trinken. Der kleine Gast, entweder ausgehungert oder ein unverhältnismäßig guter Esser, leerte die Flasche bis auf den letzten Tropfen.
Nachdem das Baby vorschriftsmäßig aufgestoßen hatte, betteten sie es in einen Wäschekorb, und Aliza trug mit Sabine das Körbchen ins Schlafzimmer der Eltern.
Wilma Brügge nahm die Tragetasche und hob die