Der Weltbeweger
Von Otto W. Bringer
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Über dieses E-Book
Dieses Buch definiert Gründe für die Angst vor dem Tod, ebenso die Tricks, ihm auszuweichen, ihn zu ignorieren sowie die Rolle der Religionen dabei - vom sogenannt »finsteren Mittelalter« bis in die aufgeklärte Gegenwart.
Wer es aufmerksam liest, entdeckt hinter allem Positives. Das Buch ist eine Aufklärungsschrift über die Macht des Todes, aber ebenso eine einzige Hymne an das Leben.
Die Bekenntnisse des Autors: Liebeserklärungen eines Optimisten.
Otto W. Bringer
Otto W. Bringer, 89, vielseitig begabter Autor. Malt, bildhauert, fotografiert, spielt Klavier und schreibt, schreibt. War im Brotberuf Inhaber einer Agentur für Kommunikation. Dozierte an der Akademie für Marketing-Kommunikation in Köln. Freie Stunden genutzt, das Leben in Verse zu gießen. Mit 80 pensioniert und begonnen, Prosa zu schreiben. Sein Schreibstil ist narrativ, "ich erzähle", sagt er. Seine Themen sind die Liebe, alles Schöne dieser Welt. Aber auch der Tod seiner Frau. Bruderkrieg in Palästina. Werteverfall in der Gesellschaft. Die Vergänglichkeit aller Dinge, die wir lieben. Die zwei Seelen in seiner Brust.
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Buchvorschau
Der Weltbeweger - Otto W. Bringer
Nichts bewegt uns so sehr
Schon früh musste ich erfahren, dass Tod ein Verlust ist. Mit sechs verlor ich meine Mutter, die ich ein Jahr später erst richtig vermisste. Liebe brauchte und von der zweiten Frau meines Vaters Pflichten bekam. Mit neunzehn meinen besten Freund. Er starb an Atemversagen, als Folge seiner Kinderlähmung. Wir hatten Großes vor nach dem Studium als Architekten-Duo. Als man seinen Leichnam im offenen Sarg in die Kapelle fuhr, legten alle eine Blume hinein. Den Eimer mit Tulpen sah ich nicht. Starrte nur wie abwesend auf sein wachsbleiches Gesicht. Warum er? Überraschend verlor ich meine erste Frau, die ihrem Leben selbst ein Ende setzte. Verstört von dem Gedanken, niemand brauche sie mehr. Tagelang konnte ich nicht aufhören zu weinen. Acht Jahre später starb eine meiner Töchter in Afrika an Malaria. Mir war, als hätte der Tod sich bei mir häuslich niedergelassen. Meine Lieblingstante starb, und nicht lange danach meine zweite Frau, die große Liebe meines Lebens. Nun war ich allein. Alleiner konnte niemand sein. Und überall sah ich Tote.
Zeitungsanzeigen sprangen mir ins Gesicht, Sterben war allgegenwärtig. Schwarz geränderte Umschläge im Briefkasten alle Nase lang, so kam es mir vor. Wenn einer gestorben war, den ich kannte. Ein Nachbar, ein ehemaliger Lehrer. Öfter als sonst in Radio und Fernsehen Todesfälle verkündet. Gerühmt, bedauert, wenn einer das Zeitliche gesegnet, der in der Gesellschaft eine Rolle spielte.
Die zeitliche Distanz zwischen den Sterbefällen schien geschrumpft zu sein, eine geballte Ladung Lebensfeindlichkeit. Hätte man mich gefragt, ich hätte den Tod abschaffen wollen. Wäre es möglich gewesen. Ich wollte es wissen. Begann die Bibel gründlicher zu lesen als in der Schule und hoffte, eine irdische Version des ewigen Lebens im Himmel zu entdecken. Mich selbst zu beruhigen, vielleicht auch den ein oder anderen, mit dem ich über das Thema sprach. Abraham interessierte mich und Methusalem, weil sie uralt wurden. Der Tod schien im Alten Testament weit weg zu sein. Noah rettete sein Volk aus tobender Sintflut.
Bevor ich eine befriedigende Antwort fand, faszinierte mich Farbe. Nichts anderes als Farbe. Lenkte mich ab, erfasste mein ganzes Sinnen und Streben. Denn Farbe ist Leben. Und das wollte ich in Bildern ausdrücken und feiern. Ganze Serien entstanden, auf Ausstellungen gelobt. Der Tod keine Thema mehr.
Erst Jahrzehnte später erinnerte mich der Appell Bazon Brocks, eines der wortgewaltigsten und gleichzeitig umstrittensten deutschen Professoren erneut daran: «Der Tod muss abgeschafft werden». Diese radikale Forderung motivierte mich, erneut über Sterben und Tod nachzudenken. Weiter zu forschen, Beispiele für den Umgang der Menschen mit dem Problem Tod zu sammeln, um sie aufzuschreiben in diesem Buch.
Ob Brock weiß, wie man es löst? Sein Thema schien viele Aspekte zu haben. Je mehr ich mich damit beschäftigte, umso mehr entdeckte ich. Es reizte mich, Tore zu Himmel und Hölle aufzureißen. Recherchierte in Geschichtsbüchern, in digitalen Quellen. Fand im Europa der letzten tausend Jahre mehr Beispiele als ich erwartet hatte. Ansichten, Glaubenssätze, Praktiken, Leben und Sterben. Auch Bilder in Dokumenten und Büchern. Bilder, die ihre Zeit oft besser charakterisieren, als es noch so einfühlsam gewählte Worte vermögen.
Ich muss zugeben, immer mehr interessierte mich das Thema, mehr als ich anfangs dachte. Weil Tod das Ende von allem ist. Das Versprechen der Kirchen, danach ist Himmel, tröstete mich nicht. Vorerst nur den Wunsch im Kopf, sehr alt zu werden. Bin jetzt bereits älter als mein Vater, als er starb. Versuche nun, den offensichtlichen Gegensatz von Anfang und Ende eines Lebens miteinander zu versöhnen. Die Geburt mit dem Tod. Beide bedingen einander. Ein Ende ohne Anfang gibt es nicht, so wenig etwas anfangen kann ohne zu enden. Wer den Tod abschaffen will, muss folglich auch die Geburt abschaffen. Noch aber sind beide ein Fakt. Grund genug, die Logik des Werdens und Vergehens menschlichen Lebens nachzuvollziehen. Sie zu akzeptieren letzten Endes. Und einen «Modus vivendi» zu finden.
Die Natur lebt es uns vor mit ihren Jahreszeiten. Dieses Wachsen, Blühen, Welken und Sterben ist in allen. Fragt man mich, möchte ich zweihundert werden. Mit Optimismus und Kreativität noch viele Jahreszeiten überleben. Und versuchen, die Unbegreiflichkeiten dieser Welt zu verstehen und in Büchern zu thematisieren. Denke ich an den quälend langen Prozess des Sterbens meiner zweiten Frau, fürchte ich mich vor dem Tod. Könnte durchaus verstehen, dass sie sich zuletzt danach sehnte, erlöst zu werden. Wissen kann ich es bis heute nicht. Anfangen ist schön, das Ende bleibt offen.
Nun zum Grundsätzlichen: Wer möchte nicht den Augenblick verlängern, ewig leben, wenn er verliebt ist. Den Höhepunkt beim Liebessakt ausdehnen bis ultimo. Genug Geld beieinander, um sich den Himmel auf Erden leisten zu können. Gesund ist und das Gefühl, alt zu werden wie Methusalem. Gipfel erstürmen und den Rest der Menschheit unter sich lassen. Den Geschwindigkeitsrausch von 300 km/h auskosten im Schalensitz eines Porsche 911 bis an die Grenze des Sichtbaren. Johann Sebastian Bachs Sonate für Cembalo und Flöte hören oder Beatles all you need is love. Und immer weiter nur hören, hören, hören. Hummer in Vanillesoße auf der Zunge als Geschmackserlebnis konservieren. «Dem Augenblicke Dauer verleihen» - wie Goethe schreibt, der Alleswisser.
Sozialpsychologe Sheldon Solomon definierte eine zeitgemäße Ursache für den Wunsch, nichts möge ein Ende haben. Die in Wohlstandsländern weit verbreitete Kauflust, immer mehr Zeug zu besitzen als man braucht, gibt Kaufenden das Gefühl, so ginge es weiter bis in alle Ewigkeit.
Angst und Furcht vor dem Sterben ist genauso existentiell wie die Sehnsucht ewig zu leben. Derselbe Solomon bezeichnet die Angst vor dem «Nicht mehr sein» als Wurm in unserem Herzen. Der nagt und nagt und lässt keine Ruhe. Bewusst oder nicht. Doch davon später. Der Tod war immer schon allgegenwärtig. Nicht nur am Bett von Alten und Kranken. Im rasenden Verkehr der Städte, gefährlichen Kletterpartien im Hochgebirge oder leichtfertigem Drogenkonsum. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Toten.
Erinnern wir uns an den Geschichtsunterricht: Auf ihren Feldzügen haben eroberungssüchtige Herrscher schon seit Jahrtausenden ungezählte Gegner niedergemetzelt. Eigene Kämpfer geopfert. Xerxes, Attila, Hannibal, Napoleon, Hitler. Aktuell der IS, ermordete 2014 im Irak Hundertausende Jesiden, weil sie anderen Glaubens sind. Tod in Zeiten von Pest und Cholera. In denen Hunderttausende hingerafft wurden. Religionskriege und Hungersnöte im dreißigjährigen Krieg kosteten 20% der Bevölkerung das Leben.
An die beiden Weltkriege erinnern sich viele noch. Alle beteiligten Völker wollten diese Katastrophe überleben. Egal auf welcher Seite der Tod wütete. Soldaten gezwungen an den Fronten ihr Leben zu riskieren. In Deutschlands Luftschutzkellern zitterten Menschen um ihr Leben. Häuser und ganze Straßenzüge zerbombt, in Schutt und Asche gelegt. Abertausende Zivilisten kamen dabei um.
Auf der Flucht vor Stalins Armee flohen Millionen Deutsche aus den Ostländern gen Westen. Verhungerten, starben.
Zehntausend allein kamen auf der «Wilhelm Gustlow» ums Leben. Einem Schiff, das sie retten sollte. Von Torpedos getroffen, in der eiskalten Ostsee versank, mitsamt den Flüchtlingen. Die Naziherrschaft und der fast sechs Jahre dauernde Krieg haben ganze Generationen gelehrt, sich mit dem Tod zu arrangieren. Aber auch das Leben zu lieben.
Sogar die sechs Millionen Juden und andere Inhaftierte in den Konzentrationslagern hofften auf ein Wunder. Dem brutalen Personal, der erniedrigenden, menschenunwürdigen Behandlung letztendlich zu entkommen. Hätten sie es sonst ertragen können? Hofften und beteten, sogar auf dem Weg in die Gaskammer noch. In der sie innert weniger Sekunden ihr Leben verloren.
„Ich will leben, nichts anderes als leben und aufschreiben, was ich sehe, fühle, mir wünsche. Vielleicht wird ein Buch daraus.
schrieb Anne Frank, ein 14-jähriges jüdisches Mädchen in ihr Tagebuch. Hoffte und hoffte bis zuletzt. 1945 im KZ Auschwitz vergast. Ihr Leben verfilmt, ihr Tagebuch ein Bestseller bis heute. Anne Frank lebt weiter im Gedächtnis der Menschen. Erschütternd die Erkenntnis einer Vierzehnjährigen. Mit ihren Eltern von Freunden versteckt im Hinterhof der Prinsengracht 263, Amsterdam, bis ein Nachbar sie verriet. Anne registrierte aufmerksam alles Geschehen, von dem sie hörte oder in Zeitungen las:
«Im Menschen ist nun mal ein Drang zur Vernichtung. Ein Drang tot zu schlagen, zum Morden und Wüten. Und solange die ganze Menschheit ohne Ausnahme keine Metamorphose durchläuft, wird Krieg wüten, wird alles, was gebaut, gepflegt und gewachsen ist, wieder abgeschnitten und vernichtet. Und alles fängt wieder von vorne an.»
Auch heute sterben täglich ungezählte Menschen überall in der Welt durch Terror und Gegenterror, Eingriffe westlicher Staaten, Demokratie zu erzwingen. Bürgerkriege. Tägliche Berichte in Fernsehen und Zeitschriften sprengen die Programme, stumpfen ab, weil es immer dasselbe scheint. Was geht es mich an? Das Fußballspiel auf dem anderen Sender ist spannender. Der anschließende Krimi noch aufregender, beide lenken von der Wirklichkeit ab. Von dem, was Nachdenken verlangt und Stellungnahme, weiß Gott.
Oder weiß er es nicht?
Sterben die Eltern, der Partner, ein Kind, geht es jedem nahe.
Rührt zu Tränen, die nicht dem Toten gelten, sondern dem eigenen Ich. Das jetzt allein ist. Das gewohnte Leben wird jetzt ein anderes werden. Der Tod hat eine Lücke gerissen. Ob sie sich jemals wieder schließt? Je nach Bindung, kurzer oder längerer Trauer folgt der Alltag mit allem, was man kennt. Erledigt oder liegen lässt. Es lebt sich eine Zeit lang wie von selbst. Ein Blick auf das Foto auf dem Schreibtisch. Anfangs jede freie Minute und eine Träne verdrückt. Nach und nach seltener. Denkt: „Schön war ’s meistens mit dir, all die Jahre".
Tod ist im Allgemeinverständnis ein Feind des Lebens. Der zuschlägt, wann und wo er will. Versteckt sich in einer tödlichen Krankheit. Zerstört mit Krebs die Körperzellen, mit einem Emphysem die Lunge, sodass nicht genug Sauerstoff ins Blut gelangt, um weiter zu leben. Ein plötzlicher Herzinfarkt. Ein Unfall im Straßenverkehr. Stürzt das Haus über uns zusammen bei einem Erdbeben, kentert das Boot auf hoher See, haben wir Angst. Weil wir nichts tun können. Furcht vor dem Tod aber ist latent in uns. Wir wissen, dass wir sterben müssen. Suchen bewusst oder unbewusst nach Möglichkeiten, es zu verhindern. Oder hinauszuschieben. Fühlt sich der Mensch nicht gesund, sucht er die besten Ärzte auf, kauft die teuersten Medikamente. Vom Alter gebeugte absolvieren öfter als einmal eine Kur im italienischen Abano. Die lädierte Wirbelsäule zu stabilisieren. Um zwei Treppenstufen auf einmal nehmen zu können wie ein Junger.
Andere erhoffen sich von Nordic-Walking gute Gesundheit.
Stelzen mit Stöcken stundenlang unter Bäumen im Westerwald, über sandige Wege in der Lüneburger Heide. Entlang des Rheins bei Düsseldorf von Zons im Süden bis Kaiserswerth im Norden. Schwimmen oder fahren mit dem Velo zur Arbeit statt mit Auto, Bus oder Tram. Viel zu viele rennen in Apotheken, die Werbung vom Vorabend noch im Kopf. Kaufen Pillen und Säfte und schlucken sie. Crèmes, die Haut zu verjüngen. Bilden sich ein, es hilft. Schlankheitsmittel sind derzeit en vogue. Ob sie helfen, muss jede oder jeder selber glauben. Man glaubt nicht, was Glauben in Sachen Gesundheit bewirkt. «Placebos» werden neuerdings sogar von Ärzten bewusst verordnet. Medizinisch wertlos, aber die Psyche ihr wirkungsvoller Helfer. Eine Zeitlang wenigstens.
Was widersinnig scheint, ist Realität: Der Tod motiviert uns, das Leben zu lieben. Als wollte er sich selbst ad absurdum führen. Wir aber ignorieren was Fakt ist. Klammern uns an das, was wir kennen. Erfinden die unglaublichsten Dinge, am Leben zu bleiben. Es auszunutzen, zu genießen bis zur letzten Sekunde. Weil wir uns nicht vorstellen können, danach weiter zu existieren wie gewohnt. Auf welch vielfältige Weise Menschen mit dieser Tatsache umgehen, lesen Sie in diesem Buch. Kaum etwas anderes hat so viele Aspekte wie der Tod. Zu allen Zeiten bewegte er die Menschen, ihr Leben zu genießen und das anderer auszulöschen. Was beweist, Tod ist der große Motivator - so oder so.
KZ-Häftling Johannes verlor trotz der vielen Toten im Lager den Glauben an das Leben nicht. Versenkte im Gemüsefeld der Lagerküche in Dachau ein paar Apfelkerne. Die er behielt vom kargen Mittagessen. Sorgsam pflegte er sie. Begoss sie täglich und wartete, dass sie sprießen eines Tages. Es wurde Winter, dann Frühling und Gräser sprossen überall. Johannes schon ganz ungeduldig, da keimte es. Wuchs größer und größer. Ein dünner Stamm war zu sehen mit Zweigen und Blättern und ersten Blüten. Im zweiten Jahr kleine Knoten, die nach der Blüte sich rundeten. Grün, nicht größer als ein Tischtennisball. Erst, als im Mai des Folgejahres 1945 Amerikaner das Lager befreiten, hingen richtige Äpfel mit roten Wangen an den Zweigen des kleinen Bäumchens.
Johannes pflanzte ihn aus und nahm ihn nach seiner Entlassung mit zu sich nachhause. „Good luck" rief ihm der Sergeant nach. Grub ein tiefes Loch in seinem Garten, setzte das Bäumchen hinein. Ein Jahr danach erntete er bereits drei Kilo der schönen, saftigen Frucht. Dann waren es sechs. Nannte die Sorte «KZ 1» und bot sie auf dem Markt zum Verkauf an. Keiner griff zu, der Name schien die Leute zu erinnern. Kurz entschlossen taufte er ihn im folgenden Jahr um und nannte den Apfel «Obele». Ließ ein Flugblatt drucken: «Gezüchtet unter widrigsten Umständen und alles Grauen überlebt. Wohlschmeckend und bekömmlich für alle, die das Leben lieben». Johannes starb 1987, sein Obele vermehrt im Garten eines Obstbauern, schmeckt immer mehr Menschen, ob sie seine Geschichte kennen oder nicht.
Der Tod gehört abgeschafft
«Bazon Brock», deutscher Professor für nicht normative Ästhetik provozierte die Öffentlichkeit in Berlin mit einem ungewöhnlichen Appell. Auf einem gelben Emaille-Schild, wie sie als Warnung unter Hochspannungsleitungen angebracht sind. Schwarz die Schrift, von hinten geprägt, aufdringlich in jeder Hinsicht:
Man kann sie als Quintessens einer Laudatio verstehen, die er auf Siegfried Kracauer hielt. Einen jüdischen Journalisten, Soziologen und Geschichtsphilosophen, dessen Großvater von den Nazis ermordet wurde. Nach dem Reichstagsbrand 1933 verließ er Deutschland. Schrieb in den USA eine scharfsinnige Analyse des Nazi-Regimes. Klagte an die Mörder von sechs Millionen Juden. Die niemand mehr ins Leben zurückholen kann. «Das größte Unrecht aller Zeiten», schrieb er. Von den zweiunddreißig Millionen Chinesen, die Mao Tse Dung ermorden ließ, wird er nichts gewusst haben. Seine Meinung aber hätte es wohl kaum geändert. Brüder und Schwestern des eigenen Volkes sind jedem näher.
Bazon Brock zog die Konsequenz aus Kracauers Urteil. Machte es zum Programm einer Kampagne. Verteidigte wortreich das Leben gegen jede Art von Tod. Das leichtfertig aufs Spiel gesetzte von Soldaten, die für ihre Regierung in fremden Ländern Ressourcen erobern oder sichern sollen. Solche, die von Tyrannen gezwungen werden, Verwandte ihres Stammes umzubringen. Tausende sterben als Folge von Unachtsamkeit im Verkehr. Morde aus Eifersucht oder Geldgier. Bei Zuhörern und Lesern entstand der Eindruck: Ja, er hat Recht. Der Tod gehört abgeschafft. Im Hinterkopf: schön, wenn ’s klappte.
Zweifler kontern: Hätte es geklappt, den Tod abzuschaffen, wäre den Mördern im Nazireich anderes eingefallen. Folter zum Beispiel, bewährte Methode, Menschen zu ängstigen, sich gefügig zu machen. Millionen hätten zugeschaut und geschwiegen wie bei den Morden, die tatsächlich passierten. «Die Mörder sind unter uns» der erste Nachkriegsfilm 1946 thematisiert diese Schuld allzu vieler.
Ich weiß nicht, was Brook dazu bewogen hat, seinen Appell so unmissverständlich zu formulieren. Ob er wusste, auf welche Weise man den Tod abschaffen kann? Seinem Einfallsreichtum wäre zumindest theoretisch eine schlüssige Methode zuzutrauen.
Eher aber ist anzunehmen, er wollte Menschen veranlassen nachzudenken. Über scheinbare Selbstverständlichkeiten. Alles zu hinterfragen, was so daher kommt, sich wichtig nimmt, an das man sich gewöhnt hat. Wahrzunehmen, was ist und nicht scheint. Töten ist Leben vernichten. Kein Befehl, kein Argument, kein Honorar, keine Religion kann Töten rechtfertigen. Wehrt euch entschieden gegen alle, die Menschen für Objekte halten. Nicht Subjekte, die sie sind. Frei, zu tun oder zu lassen, was sie wollen. Bazon Brock ab da bekannt als der Provokateur. Bei Studenten, Professoren und allen, die seine Vorträge hören. Gefragt gab er zu, in diesem speziellen Fall vom Tod motiviert worden zu sein. Nichts sei undenkbar. Francis Picabia zitierend: «Der Kopf ist rund, damit man in alle Richtungen denken kann».
Ich hatte Gelegenheit, mit ihm eine Klee-Ausstellung zu besuchen. Brock stand vor einem Gemälde, dessen Titel und Motiv ich vergessen habe. Eine Gemeinde von zehn, zwölf Besuchern um ihn herum. Brook interpretierte die These des Malers und Professors an den Akademien in Weimar und Düsseldorf: «Kunst zeigt nicht das Sichtbare, sondern macht sichtbar». Mit verständlichen Worten beschrieb er zuerst das, was jeder sah. Farben, Kombinationen konträrer Töne. Ihre Beziehung zueinander, ihre Intensität. Gestenreich leitete er über in das, was man nicht sehen konnte, weil es nur in seiner Vorstellung existierte. Der Fantasie eines, der sich in Unsagbarkeiten verlor wie kaum ein anderer.
Nach einer Viertelstunde wollte ich gehen, dachte: Ich weiß, was ich sehe und habe mir eine Meinung gebildet. Blieb aber dann doch noch fast eine halbe Stunde vor dem Bild. Weil ich neugierig von Natur bin. Ein einziger Begriff mich fesselte: «Neuronale Ästhetik». Folgte ihm aufmerksamer als vorher auf dem Weg zu unerhörten Einsichten. Formen und Farben reizten Neuronen, die Nerven im Gehirn. Gewännen Bedeutung bei der Betrachtung von Kunst - auch ohne Fachkenntnisse. Zuordnungen offenbarten gesellschaftliche Rituale oder subjektive Befindlichkeiten. Beziehungen, Absichten. Exzesse künstlerischer Freiheit sah ich nun mit anderen Augen.
Mittlerweile weiß ich, Brock stellt alles in Frage, kombiniert Bekanntes mit Neuem. Protestiert gegen alles Gängige. Reißt Türen auf, dahinter sehen zu lassen. Schlägt sie wieder zu, ist er der Meinung: jetzt ist es genug. Analysiert und formuliert neu. Überraschend neu und andersartig. Was wiederum Protest herausfordert. Und den Kniefall seiner zahlreichen Jüngerinnen und Jünger.
Höchst präsent bei seinen Lesungen und Vorträgen an Universitäten und in öffentlichen Räumen. In der von ihm mit Peter Sloterdijk und Peter Weibel