Auge um Auge
Von Otto W. Bringer
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Otto W. Bringer
Otto W. Bringer, 89, vielseitig begabter Autor. Malt, bildhauert, fotografiert, spielt Klavier und schreibt, schreibt. War im Brotberuf Inhaber einer Agentur für Kommunikation. Dozierte an der Akademie für Marketing-Kommunikation in Köln. Freie Stunden genutzt, das Leben in Verse zu gießen. Mit 80 pensioniert und begonnen, Prosa zu schreiben. Sein Schreibstil ist narrativ, "ich erzähle", sagt er. Seine Themen sind die Liebe, alles Schöne dieser Welt. Aber auch der Tod seiner Frau. Bruderkrieg in Palästina. Werteverfall in der Gesellschaft. Die Vergänglichkeit aller Dinge, die wir lieben. Die zwei Seelen in seiner Brust.
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Buchvorschau
Auge um Auge - Otto W. Bringer
Anne hat neunzehn Jahre ihrer Ehe hinter sich. Hineingesprungen wie in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Sie war einundzwanzig Jahre jung damals. Schön im klassischen Sinne. Römisches Profil, dazu ausersehen, sich mit Göttinnen zu messen. Neugierig auf Schönes in der Welt. Rolf, ihr Mann erfolgreicher Verkäufer von Edelkarossen. Hoch motiviert, gut verdientes Geld wieder auszugeben. Ein Mercedes-Cabrio zu kaufen. Für sich privat. Zu reisen, die schöne Anne an seiner Seite wie eine Trophäe. Schaut her, ich hab´s.
Kaufte ihr die teuersten Kleider, deren Glanz auf ihn abstrahlte. Fuhr mit ihr nach Paris. Promenierten die Champs-Élisées rauf und runter. Gesehen werden ist alles. Als wären sie Audry Hepburn und Gregory Peck. Auf ihren Tellern drei Sterne im Restaurant des „Plaza Athénée". Unter dem Baldachin des breiten Messingbettes königlich gefrühstückt. Serviert von einem weiß geschürzten Bubikopf. Anne sieht, wie ihm ihr Rolf zublinzelt. Denkt nichts Arges.
Jahre später in einem Rom-Urlaub ärgerte sie sich über seine provozierenden Annäherungsversuche bei jungen Frauen. Ist sie nicht mehr gut genug? Schön genug? Beginnt zu zweifeln. An seiner Liebe, seiner ehelichenTreue. Bestimmte Stadtteile scheinen nur von Frauen bewohnt zu sein. Edelnutten, wie man ihnen ansieht. Clio. Minerva, Diana, Juno und Venus aufgedonnert wie Spielzeugpuppen. Er bleibt nachts weg. Mehr als einmal. Anne fühlt sich aus siebtem Himmel gefallen. Wahrheit, die nicht mehr zu leugnen ist, schreit zum Himmel. Das Ende vom Lied?
Vom Urlaub zurück kam er oft wochenlang nicht heim. Warf ihr lässig ein paar Blaue auf den Tisch und verschwand. Kam wieder, wenn ihn die Lust juckte und machte ihr ein Kind. Charmant wie einer, der kein Gewissen hat. So täuschte sie sich lange und glaubte an die große Liebe. Eines Tages wurde ihr klar, es ist das Ende. Sann auf Revanche. Wie du mir so ich dir. Fand einen Mann für drei Wochenenden. Genoss ihre heftigen Dispute über Picassos kubistische Phase. „Les Demoiselle d´Avignon" ihr liebstes Bild. Aber Sex ohne Kitzel, von Liebe keine Spur. Auge um Auge – zahlt sich nicht aus.
Ihre Schwangerschaft beendete eine Beziehung, die keine war. Zweieinhalb Jahre Mutterglück und ihr kleiner Christian erkrankte an einer Hirnhautentzündung. Sie brachte ihn in ein Spezialheim in Bayern, besuchte ihn monatlich. Beendete ihr Studium und verdiente ihr eigenes Geld in Bedburg-Hau am Niederrhein. Als Gesprächstherapeutin.
Bis heute leidet Chris an den Folgen. Reagiert autistisch, selbstbezogen. Empfindet nur eigenes Leid, den eigenen Schmerz. Mimi, so nannte er seine Mutter, musste sich damit abfinden, dass er sie nie umarmt. Schmust wie andere Kinder. Konzentrierte sich auf ihren Beruf.
Achim hat zweiunddreißig Ehejahre glücklich unglücklich überstanden. Drei gesunde Töchter. Linda, Elke und Sofiemaus. So nannten sie die Jüngste. Alle drei in der Schule mittelmäßig, aber musisch begabt. Die Gene Achims in Kopf und Händen, die Welt künstlerisch zu verwandeln. Elke spielte Klavier schon mit fünf. Ihre Bach-Inventionen klangen geläufiger, daher schöner als bei ihrem Vater. Lernte mit achtzehn Benno kennen. Der sehr eigenwillige Bilder malte und exzellent auf der Gitarre spielte. Sie heiraten.
Sofiemaus tanzt für ihr Leben gern. Nach ihrem Studium machte sie sich als Tanzpädagogin selbstständig. Lässt Dreijährige nach Musik tanzen, klettern, Kopfstände machen. Psychomotorisch nennt sie die Methode. Kinder lernen so spielerisch ihren Körper kennen. Seine Möglichkeiten und Grenzen. Unverzichtbar für ihre Menschwerdung.
Linda, die älteste Tochter entwirft Theaterkostüme. Sie schaffte es bis NewYork an die „Opera Modern", wird ihr Superintendent. Costume-Designer der Jahre 2009 und 2012.
Emma, Achims Frau und Mutter der drei, erlebte alles mit zunehmender Sorge. Elke, die zweite Tochter anfangs bis über beide Ohren verliebt. Nach zwei Jahren von der Ehe enttäuscht. Ihr Malerfürst ein Egoist, der nur in Motiven, Keilrahmen und Farbtuben dachte. Sich nicht darum scherte wie Geld in die Haushaltkasse kommt. Alle Verantwortung lastete auf Elke. Emma, ihre Mutter, litt mit ihr, konnte ihr nicht helfen.
Linda in Amerika. Schrieb seltener als früher Briefe an ihre Mutter. Telefonieren war damals noch teuer. Ihre Themen Theater, Theater, nur noch Theater. Emma überfordert, darauf ein zugehen. Fühlte sich verlassen, ausgegrenzt von der Familie. Von niemandem verstanden.
Sofie hatte schon vor Beginn ihres Studiums eine eigene Wohnung. Wollte vom Elternhaus nichts mehr wissen. Ihre eigenen Wege gehen. Hüllte sich monatelang, ja jahrelang in Schweigen. Die Versöhnung mit ihrem Vater, achtzehn Jahre später, erlebte Emma nicht mehr. Sie verfiel Depressionen. Ihr Familienbild zerstört. Verlor das Selbstvertrauen und den Glauben an die Liebe. Alice Schwarzers „Der kleine Unterschied" kam ihr gerade recht.
Besuchte eine Psychotherapeutin in Köln ohne Erfolg. Zog sich den ganzen Tag lang in ihr Zimmer zurück. Ließ sich von Achim nicht mehr umarmen, küssen, trösten. Als wäre er ein Fremder. Achim traurig und enttäuscht verließ das Haus. „Wir brauchen beide eine Auszeit", sagte er zu Emma. In Wahrheit vermisste er die Nähe einer Frau. Suchte eine andere. Seine Sekretärin schien geneigt, mit ihm eine Liaison einzugehen.
Er rief sie an noch im Geschäft, jeden Abend, wenn sie in der Wanne lag. Plauderten über dies und das. Bemerkungen ließen ihn glauben, sie erwarte mehr von ihm. Verabredeten sich zum Essen. Achim setzte sich neben sie. So nah wie möglich, ihren Körper zu spüren. Streichelte mit der Linken ihren Nacken. Während die rechte Hand zwischen ihren Oberschenkeln immer tiefer rutschte. Sie wehrte sich zögernd. Kamen weder zum Essen noch zum Küssen. Enttäuscht fuhr er sie nachhause. Was ein Liebesabenteuer werden sollte, endete mit Scham.
Zwei Wochen später fuhr Achim wieder in sein Haus zu seiner Emma. Vergaß den Ehering wieder anzuziehen. Er hatte ihn abgenommen, bevor er auf Brautschau ging. Emma sah sofort, dass er an seinem Finger fehlte. Großes Lamento: „Jetzt auch Du noch!" Achim konnte nicht heraushören, ob es echt war. Oder nur vorgespielt, ihn auf die Knie zu zwingen. Ging und ließ sie den ganzen Tag und die folgende Nacht allein.
Am nächsten Tag gegen Mittag rief Emma ihn in seiner Agentur an. „Kannst Du mal schnell kommen? „Im Moment nicht, habe einen neuen Kunden bei mir. Den kann ich nicht allein lassen, sonst ist er weg. Was gibt es denn?
Hörte es sich an wie Schluchzen? „Ich beeile mich, komme so schnell ich kann."
Als er eine Stunde später in die Einfahrt zur Garage fuhr, sah er das Tor offen. Ihr gelber 2CV stotterte. Vom Auspuff hing ein Schlauch bis in die halboffene Fahrertür. Er hin, den Schlauch aus ihrem Mund genommen, sie selbst vom Sitz vorsichtig auf den Boden gelegt. Gehorcht. Ihr Herz schlug nicht mehr. Emma tot.
Auf dem Esstisch ein Kognakglas, eine leer getrunkene Flasche und ein Brief. Die Schrift wie unter Zwang krakelig wie in Blech geritzt. „Ihr alle habt mich verlassen. Nun werde ich euch verlassen. Und ihr könnt zusehen, wie ihr damit weiter lebt." Es folgen noch einige Sätze in verworrenem Deutsch. Unverständlich, nur zu ahnen, was diese von Zorn und Enttäuschung verwundete Seele zu dieser Verzweiflungstat trieb. Sich selbst aufzugeben und jeden Gedanken der anderen an sie mit schlechtem Gewissen zu belasten. Ein Leben lang. Auge um Auge. So sterben muss schrecklich sein.
Im voll besetzten Parkhaus von Kleve am Niederrhein stehen sie hintereinander und warten, dass Plätze frei werden. Anne will im Städtchen einkaufen. Achim ins Museum, Skulpturen von Ewald Mataré wiedersehen. Seine berühmte liegende Kuh soll hier ausgestellt sein. Aufs Minimum reduziert und doch eine Kuh. Auch in den Augen unwissender Laien. Mensch fühlt gewissermaßen Kuh. Entlang der Hörner über den satten Leib. Kunst verstehen wir emotional, nicht rational. Wie auch der Künstler von Emotionen getrieben wird, nicht vom Verstand. Ewald Mataré einer der hochbegabten Formverdichter unserer Zeit.
Jetzt stehen sie da und warten. Achim in seinem weißen Rover und Anne in ihrem bronzefarbenen 924er. Achim steigt aus: „Ich würde Sie gerne vorlassen, aber hier ist es zu eng um zu wenden. Was nun? Wir müssen warten". Zehn Minuten, fünfzehn Minuten. Die Luft im niedrigen Raum wird dicker von den laufenden Motoren. Atmen fällt schwer.
Da wird ein Platz vor ihm frei, er fährt daran vorbei, winkt ihr aus dem offenen Fenster zu. Hält. Ein Impuls lässt ihn aussteigen, an die noch geöffnete Scheibe ihres Porsche gehen. Mit ausgestrecktem Arm auf die Lücke zeigen: „Bitteschön Madame, ein Platz für Sie." Sieht sie lächeln und schiebt mutig geworden hinterher:
„Den Ärger über die Warterei sollten wir bei einem Prosecco vergessen. Kommen Sie mit? Ich schlage vor, ins Museumscafé zu gehen."
Im Kopf die Vorstellung, er könnte doch Eindruck machen mit seinen Kunstkenntnissen. Vielleicht mit ihr die Mataré-Kuh besuchen und darüber diskutieren. Endlich wieder mit einer Frau reden. Über anderes als neueste Mode, den letzten Krimi im Fernsehen. Achim war lange genug allein. Über ein Jahr. Geküsst hatte er genau so lange niemanden. Die fremde Frau in der Garage ist ihm sympathisch. Wagt nicht weiter zu denken. Fühlt nur, etwas ändert sich.
Anne parkt, er bleibt stehen, wo er steht. Will sie nicht aus den Augen verlieren bei der Platzsucherei. Da kommt sie zu ihm an den Wagen. Lacht und reicht ihm spontan die Hand: „Einverstanden. Ich kenne das Café. Es heißt „Lohengrin. Während sie warten bis ein Platz nahe bei jetzt für ihn frei wird, erzählt sie weiter. „Der Held der Sage soll hier auf einem Schwan geritten sein, seine Geliebte zu besuchen
. Originell, aber Wagner, den Kompositeur der Oper mag ich überhaupt nicht. Zu schwülstig, theatralisch aufgeblasen. Wörtlich gemeint. Zu laut, zu viel Trompeten und Posaunen. Jedenfalls das, was ich kenne.
Die Vierte von Johannes Brahms ist mir lieber. Ich hörte sie in Ravello mit dem polnischen Jugendorchster unter Lorin Maazel. Oberhalb von Amalfi auf offener Bühne hoch über dem Meer. Wunderbare Atmosphäre. Kennen Sie Amalfi?" Erwartet keine Antwort. Zu schön um wahr zu sein.
Ein Parkplatz wird frei. Welch ein Glückfall denkt er, stellt seinen Wagen ab und geht mit ihr zum Ausgang. Sie mag Musik. Klassische sogar. Ob sie auch Orgelmusik liebt? Bin neu gierig, was sie sonst noch interessiert. In Achims Kopf beginnt es zu rotieren. Neue Frau mit neuen Perspektiven. Der Himmel ist hell und alle Türen offen. Sein Mataré kann warten.
Hast du Glück heute Morgen, denkt Anne. Ein netter Kerl. Aufmerksam. Selten gewordene Eigenschaft bei Männern. Mal gespannt, ob ihn Musik wirklich interessiert. Mag er wohl Schubert oder Brahms? Es wäre zu schön.
Es ist nicht mehr herauszufinden, was plötzlich mit den beiden passiert. Auf dem Weg ins Café. Es muss Empathie sein. Die ihren kritischen Verstand ausgeschaltet hat. Von jetzt auf gleich. Die Gefühle aber im Bauch aktiv wie nie. Der Blutkreislauf beschleunigt, Optimismus und Lust zu leben gewinnen die Oberhand. Nach all den Enttäuschungen kann es nur noch schöner werden. Frühling wird, sie spüren es in allen Gliedern. Und möchten singen.
Er sieht sich schon an der Staffelei Neuland entdecken. Auf einer eigenen Orgel Bach spielen. Endlich auch Skulpturen bauen wie Freund Alois. Aus Stein und Holz. Im ganzen Haus Marmorböden verlegen für die neue Frau. Kunden für seine Agentur gewinnen. Mit dieser fremden und doch schon so vertrauten Frau wird das Leben wunderbar. Schön wär´s.
Sie sieht sich in den Armen eines Mannes, der ihr zärtliche Worte ins Ohr flüstert. Mit ihr unterwegs ist zu allem Schönen auf dieser Erde. Der bei ihr bleibt in guten und schlechten Zeiten. Weil er sie liebt. Noch weiß sie es nicht, wünscht es aber sehr. Im Café hat die Morgensonne schon Platz genommen.
„Ich heiße Anne. „Mein Name ist Achim.
Ihre Familiennamen schlabbern sie. Weil beide das Gefühl haben, sie sind entbehrlich an diesem Morgen. Aus dem Radio klingt die Ofentüre – so sagte sein Vater scherzhaft – zu Richard Wagners Oper Lohengrin. Sehr feierlich, getragen vom wändedurchdringenden Unisono der Trompeten. Und beide finden es durchaus passend in dieser Stunde. „Salute signore Achim! Ohoo, sie spricht Italienisch. „Anche per ley Signora Anne!
Overtüre zu einem neuen Leben zu zweit? Alles, was war, scheint nicht mehr zu existieren. Enttäuschung, Zorn, Trauer und Alleinsein abgetaucht im Orkus einer Vergangenheit, die anderer Leute Vergangenheit ist. Alles vergessen. Wie heute fühlten sie sich schon lange nicht mehr. Der vierundfünfzigjährige Mann und die dreiundvierzigjährige Frau. Erleichtert und wie befreit fühlt es sich an. Noch sind die Gedanken nicht gedacht, wie es weiter gehen soll. Alles ist Gegenwart. Im Gefühl alles besser zu machen als bisher. Den anderen zu lieben. Warten nicht lange mehr und lassen ihrer Lust freien Lauf.
Kein Jahr und Anne verkauft ihre Bauern-Kate, zieht in Achims Haus. Den frischen Wind vom Niederrhein im Gepäck. Sie verreisen in Sonnenländer des Südens. In anderen Sprachen unterwegs zu sein. Und zu prüfen ob ihr Verhältnis nicht nur ein Verhältnis ist, Treue kein leeres Wort. Heiraten standesamtlich.
Achim möchte gerne in Alt Sankt Martin getraut werden. Obwohl er nur noch selten in die Sonntagsmesse geht. Mit dem vom Krieg verschonten alten Bau verbinden sich viele Jugenderinnerungen. Als Messdiener schwenkte er in Hochämtern das Weihrauchfass bis es Purzelbaum schlug. Und dampfte wie eine Lokomotive. Er lacht bei dem Gedanken daran.
Eines Sonntags ersetzte er den erkrankten Organisten. Spielte das asthmatische Harmonium im Seitenschiff. Es hörte sich an als ginge ihm jeden Augenblick die Luft aus. Musik ist in katholischen Kirchen unentbehrlich. Von mächtigen Orgelklängen getragene Stimmen wunderbar. Aber singen mit einem schwächelnden Harmonium lässt musikliebende Gläubige verzweifeln. An Wochentagen besonders arg. Nur alte Frauen und Männer, der kärgliche Rest der Gemeinde. Ihre müden Stimmen enden zum Schluss eines Liedes erschöpft einen halben Ton tiefer als sie begannen. Das Harmonium kann es nicht verhindern.
Kurz vor dem Studium an der Akademie vermaß er das ganze 600 Jahre alte Gebäude und zeichnete es auf. Übungsarbeit für seinen Mentor, bei dem er ein Praktikum absolvierte. Auch er wollte Architekt werden. Grundriss innen kein Problem. Alles zu seinen Füßen. Außen schon schwieriger ohne Leiter oder Hubgerät. Ging mit dem Bandmaß herum, maß Türen, Fenster, Höhen und Längen der Seitenschiffe. Den Chor, das Gesims. Den außergewöhnlich hohen Turm zu vermessen unmöglich. Er half sich, indem er Ziegelsteinschichten pro Meter zählte. Es waren zwölf, wie er erinnert. Entfernte sich vom Turm so weit etwa, dass er den Turm in seiner ganzen Höhe gut im Blick hatte. Nahm einen Stab und zählte die Schichten. Markierte den Meter. Schob ihn höher und höher und zählte vierzehn mal zwölf Schichten gleich siebzehn Meter achtzig bis an das Dach des Turms. Auf diese Weise konnte er danach das komplette Gebäude aufzeichnen. Sein Mentor meinte, es sei schon professionell.
Ja, Alt Sankt Martin. Achim wird seltsam zumute, als er an das schöne Gebäude denkt. Weihrauchgeruch in der Nase und die Klänge des Harmoniums wie Mundharmonika im Ohr. Es wäre eine schöne Trauung geworden. Aber seine Anne ist evangelisch. Katholische Pfarrer damals trauten keine Paare, die nicht beide der katholischen Kirche angehörten. Der evangelische Pastor am Ort macht es auch nicht. Auge um Auge. Das Alte Testament im zwanzigsten Jahrhundert? Schon peinlich. Oder wird es missverstanden? Er will bleiben was er ist, katholisch. Anne sich nicht umdrehen lassen, sagt sie.
Achim rechnet es ihr hoch an. Sie hat Charakter. Auch sie besucht nicht mehr regelmäßig den Sonntags-Gottesdienst. „Solange die Pastors immer nur dieselben Phrasen dreschen, die ich kenne seit ich konfirmiert wurde, können sie mir gestohlen bleiben." So drastisch hätte