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Gefährliche Illusionen
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eBook929 Seiten11 Stunden

Gefährliche Illusionen

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Über dieses E-Book

Trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse und technologischem Fortschritt riskiert die Weltgemeinschaft gerade eine völlige Umkehr, die unsere säkularen Werte und die Errungenschaften der Aufklärung ausmerzen und uns wieder zurückwerfen kann.

Wer wird die Zukunft regieren? Vernunft oder Chimären? Wissen oder Glaube? Glück oder Leid?

In aufklärerischer Tradition ruft Vitaly Malkin in diesem Buch dazu auf, die Fesseln zu sprengen, das Leben mit den scharfen Klingen der Vernunft freizuschneiden und nicht auf ferne Hoffnungen zu vertrauen. Der russische Autor und Philanthrop begibt sich dafür auf philosophische Spurensuche in die Katakomben der europäischen Kultur: als kühner Rationalist recherchiert er nach subtilen Einschränkungen, psychologischen Machtsystemen und täuschenden Chimären, die er in der abendländischen Geschichte und in den monotheistischen Religionen in Bildern und Texten ausfindig macht.
In seinem kontroversen und polemischen Essay plädiert Vitaly Malkin für ein Leben als freier Geist. Er verteidigt die Vernunft und ruft seinen Lesern zu: „Denkt!“
SpracheDeutsch
HerausgeberWolff Verlag
Erscheinungsdatum27. Aug. 2018
ISBN9783941461260
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    Buchvorschau

    Gefährliche Illusionen - Vitaly Malkin

    © Wolff Verlag, Kulmbacher Str. 15, Berlin, 2018

    ISBN: 978-3-941461-26-0

    Alle Rechte vorbehalten

    Ce document numérique a été réalisé par Nord Compo.

    Vorwort

    Mein französischer Verleger sagt, dass dieses Buch nicht wie die anderen, sondern geradezu ein Schlachtruf, eine Kriegserklärung sei. Grundsätzlich bin ich mit seiner Einschätzung der Hauptbotschaft meines Buches einverstanden: Heute sind die Hirngespinste in unser Leben zurückgekehrt, sie sind besser gesagt eingedrungen – und kampflos werden wir das nicht überleben. Als Hirngespinste bezeichne ich all jene Ideologien, Traditionen und Bräuche, die nicht unserem Bewusstsein, unserer individuellen Erfahrung oder der Überlebensnotwendigkeit in einer modernen Gesellschaft entspringen, sondern all das, was unserem Wesen, unserem Verstand, unserer Freiheit und dem irdischen Glück schadet. Es ist schon verblüffend, dass innerhalb der vergangenen zehn bis zwanzig Jahren unsere Zivilisation und unser Verstand eine phänomenale Entwicklung zurückgelegt haben, unter anderem in Form von mächtigen sozialen Netzwerken, künstlicher Intelligenz und künftigen Reisen auf den Mars. Und gleichzeitig fällt dem Menschen das Leben auf der Erde in dieser Zeit schwerer; es ist gefährlicher, während sein Verstand zunehmend dem Druck dunkler Kräfte erliegt – dem Druck von Hirngespinsten, die uns zurückdrängen in Barbarei und Wildnis. Früher träumten wir davon, „zurück in die Zukunft zu reisen, heute fürchten wir uns davor, „zurück zum Hirngespinst zu kommen.

    Ich bin in den Krieg gegen die Chimären gezogen, auch wenn ich sehr wohl begreife, dass aus mir kein guter Feldherr wird. Es gibt um uns herum so viele und so mächtige Chimären, dass es für einen Sieg schon einer ganzen Armee von Politiken, Philosophen, Historikern und gemeinen Freiwilligen bedürfte, die ich aber nicht habe. Alles, was ich tun kann, ist, die Dinge beim Namen zu nennen und die Menschen dazu aufzurufen, alles Mögliche dafür zu tun, sich von solchen Hirngespinsten abzuschirmen. Wobei ich meinen eigenen, ganz persönlichen, wenn auch sehr kleinen Krieg führe: Meine Wohltätigkeitsstiftung „Espoir („Hoffnung) kämpft unter UNESCO-Schirmherrschaft massiv und durchaus erfolgreich gegen Extremformen weiblicher Beschneidung in Äthiopien, Somalia und Afar (Eritrea). Vor zehn Jahren wurde ich durch Zufall mit dieser verbrecherischen Abscheulichkeit konfrontiert, die weiterhin auf unserem Planeten gedeiht, und kann mich noch immer nicht von dem Schock erholen, den diese Begegnung auslöste. Seitdem sinniere ich ernsthaft über das menschliche Wesen und den Einfluss von heidnischem Glauben, kulturellen Traditionen und Religion auf die menschliche Zivilisation.

    Ich betrachte dieses Buch als einen vergeblichen Versuch Luft zum Atmen zu finden, als „gestohlene Luft. Ein Ausdruck, den ich mir bei Ossip Mandelstam ausgeborgt habe, einem bedeutenden russischen Schriftsteller, der Zeuge der schrecklichen Hungersnot und des Kannibalismus von 1921-23 auf der Krim wurde, die damals größtenteils von Tataren besiedelt war. Er schrieb 1933 ein Gedicht über Stalin, das zu einem der bekanntesten Gedichte des 20. Jahrhunderts wurde: „Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr.

    Mandelstam sagte, dass freie Meinungsäußerung in einem unfreien Land „gestohlener Luft gleichkäme, die ich in der „freien Sowjetunion zur Genüge geschnuppert habe. Was er schrieb und sprach, kostete ihm das Leben – er starb 1938 im Gulag. Und so kam mir das heiße, nicht unterdrückbare Verlangen ein Buch zu schreiben, als ich spürte, dass mir die Luft zum Atmen fehlte. Dass ich, wenn ich nicht irgendetwas unternehmen würde, mein inneres Gleichgewicht endgültig verlieren würde und nicht mehr die Chimären, sondern mich selbst hassen würde.

    Heute, fünf Jahre nachdem ich aus Russland wegzog und in Europa lebe, beschleicht mich zunehmend das Gefühl, dass mir diese sprichwörtliche „gestohlene Luft" hinterhergezogen ist, und so wollte ich versuchen zu verstehen, wie ich diese Luft hier atmen soll. Oder sollte ich es vorziehen, gar nicht mehr zu atmen, und mich in einem Elfenbeinturm verstecken? Sehen Sie sich einmal um. Sehen Sie etwa nicht, wie unwiderruflich sich die Situation in unserer Welt innerhalb kürzester Zeit verändert hat und wie todgefährlich sie für uns geworden ist?

    Das mächtige Licht der Aufklärung ist heute nichts weiter als eine schwach lodernde Flamme, die für eine welke, säkulare Welt sowie für die gleichzeitige radikale Stärkung der dogmatischen und religiösen Welt steht. Der religiöse Obskurantismus hat sich, vor allem in Russland, erneut um uns herum angesiedelt und wird nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch die Zukunft unserer Kinder mit Vergnügen zerstören, wenn wir nichts unternehmen.

    Unsere bürgerliche Gesellschaft hat sich von den Chimären kleinmachen lassen, sie ist sehr schwach geworden und hat sich gespalten, wobei diese Spaltung mit jedem Tag weiter und tiefer geht. Wir unterscheiden einander erschreckend schnell in unterschiedliche Völker, die sich jeweils um ihren eigenen Gott herum bilden. Die Multikulti-Politik ist kläglich gescheitert, während eine prächtige, ja die beste Kultur der Welt, nämlich die europäische, in sinnlosen Debatten verblasst. Die Lektüre von aufklärerischen Texten führt zwangsläufig dazu, dass man den gesunden Menschenverstand der Diskutierenden, aber auch seinen eigenen, infragestellt.

    Die totalitäre political correctness hat das Lieblingskind der Französischen Revolution umgebracht, nämlich die großartige kritische Tradition des Freisinns, die sich an der „Lebensfreude zwischen theoretischer Analyse und Spott erfreut. Gedanken- und Meinungsfreiheit sind auf die Größe eines Blumentopfes auf dem Balkon geschrumpft, während widerliche Heuchelei unsere Existenz von oben bis unten zerrüttet. Nichtsdestotrotz werden wir, anstatt zum erlösenden Ausruf „Zermalmt das Niederträchtige! zurückzukehren, auf jede Art und Weise zu Konformismus und grenzenlosem Respekt gegenüber uns fremden Idealen aufgefordert.

    Hätte man sich so etwas vor nur einigen Jahrzehnten vorstellen können? Wie hätte ich auf den Versuch verzichten sollen, den Verstand mit allen meinen schwachen Kräften zu verteidigen? Ich konnte eben nicht darauf verzichten, und so habe ich alles hingeschmissen und diesem Buch einige Jahre meines Lebens gewidmet, auch wenn es auf den ersten Blick in keinerlei Verhältnis zu meinen bisherigen Tätigkeiten stehen mag.

    *

    *     *

    Dieses Buch begann mit einem Zufall. Viele wichtige und unwichtige Ereignisse beginnen mit der Zufälligkeit, die plötzlich eine längst auf Verwirklichung träumende Notwendigkeit wahr werden lässt.

    Eine zufällige Schwangerschaft führt zur Geburt eines neuen Menschen und zum ungeplanten Familienleben. Wegen einer zufällig umgestürzten Petroleumlampe begann der große Brand von Chicago, der weite Teile der Innenstadt zerstörte. Ein zufälliger Fehler eines Fahrers verursachte den Tod des österreichischen Erzherzogs und den Ausbruch des ersten Weltkrieges. Ein zufälliger Streit eines kleinen Gemüsehändlers mit einem Wirtschaftsprüfer in Tunesien verursachte eine blutige Revolution in vier Ländern mit 120 Millionen Menschen Bevölkerung.

    Zufälligerweise, wegen des Regens, gelangte ich an einen populären Hollywoodfilm über die sehnlichste Familienliebe. Ich habe großen Respekt vor der Liebe: Es gibt kein natürlicheres und wertvolleres Gefühl. Mich begeisterte schon immer jene Liebe, die die Schwere der langjährigen Ehe überleben kann. Aber dieser Film war bloß eine ekelerregende Lüge. Er zwang dem Zuschauer so aggressiv übertrieben märchenhafte Familienwerte auf, dass ich im Kinosaal beinahe erstickt wäre. Die Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit der Beziehungen zwischen Mann und Frau wurde auf ein abgeschmacktes, heuchlerisches, romantisches Ideal reduziert. Ich habe das Wort „abgeschmackt" hier ganz bewusst verwendet, denn primitive Idealisierung des menschlichen Lebens entwertet und verdirbt die natürlichen Werte. Nach dem Film hatte ich den großen Wunsch zu verstehen, wie die Anderen in solchen Situationen leben und atmen können. Was denken sie übereinander? Und wie leben sie zusammen (nach bestem Wissen und Gewissen oder in einer Lüge)?

    Bei den rund dreißig mir bekannten Ehepaaren habe ich keine Leichtigkeit und keine Familienwerte gefunden. Höchstwahrscheinlich konnte ich diese hinter den Bergen der Probleme und der gegenseitigen Gereiztheit bloß nicht erkennen. Dagegen habe ich sofort die erstaunliche Nichtübereinstimmung zwischen den aufgezwungenen Idealen und dem realen Leben entdeckt. Das Märchen über die Treue bis zum Tod, an das man im Standesamt und in der Kirche glaubte, wurde unerbittlich zur verhassten Realität, die aus herzbrechender Heuchelei, aus ständiger Untreue und aus erschöpfenden Streiten besteht. Prinz und Prinzessin wollen in Realität gar nicht lange und glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage leben, damit ihr dankbarer Nachkomme ihnen günstig einen gemeinsamen Grabstein kaufen könnte. Das Merkwürdigste dabei ist, dass keiner der Ehepartner an den Konflikten schuld war. Dagegen lag es an dem ehelichen Königreich als solchem. Im Eifer des Gefechts wollte ich den Ehepartnern helfen, das echte Hollywood-Glück zu erreichen. Also machte ich mich auf die Suche nach der Quelle der menschlichen Monogamie, um die Institution der Ehe unvoreingenommen zu untersuchen. Reine Wissenschaft nimmt keine Rücksicht auf die Vergangenheit. Sie ist pietätlos, traditionslos, emotionslos. Sollte sich ein echter Gelehrter denn nicht genau so verhalten, wenn er den Fortpflanzungsvorgang von Pantoffeltierchen unter dem Mikroskop, die familiären Beziehungen von Kaninchen in der Steppe, oder das Paarungsleben afrikanischer Gorillas untersucht?

    Nachdem ich mich mit den Grundlagen der Eheforschung vertraut gemacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass sie mich genauso befriedigten, wie ein Sexleben nach dreißig Jahren Ehe. Die Ehe an sich ist von der Wissenschaft völlig unberührt geblieben, daher stürzte ich mich begeistert in die Arbeit. Mein Enthusiasmus hielt jedoch nur ein paar Monate lang an, nachdem ich verstand, dass mein Vorhaben völlig in die Hose gegangen war. Anerkannte Wissenschaftler haben sich keinesfalls aus strafbarer Nachlässigkeit nicht mit Eheproblemen beschäftigt, sondern weil sie begriffen, dass die Ehe per se keinen eigenständigen akademischen Gegenstand darstellt: Alle mit ihr verbundenen Probleme sind unausweichlich und für die Gesamtheit der menschlichen Bevölkerung völlig unbedeutend, wenngleich die Ehe lebenswichtig für jeden einzelnen Menschen ist. Es ist durchaus möglich, dass genau das der Grund ist, dass dieses heikle Thema von den antiken Philosophen fast völlig unbeachtet blieb. Der große Sokrates hat sich, wie fast immer, von allen am besten zu diesem Thema ausgesprochen: Als er gefragt wurde, ob man heiraten solle oder nicht, gab er eine schnelle und geniale Antwort: Beide Varianten seien in ihren Konsequenzen gleichwertig, weil man in jedem Fall bereue.

    Im Endeffekt verlor das Problem der Ehe in meinen Augen völlig an Bedeutung, und so wurde sie aus einem Forschungsthema von höchster Priorität schnell zu einer äußerst sekundären Angelegenheit. Mir wurde klar, dass nicht das Paar, sondern der einzelne Mensch der Institution der Ehe zugrunde liegt, sodass man woanders ansetzen muss, nämlich bei der Einsamkeit des Menschen, bei der religiösen und weltlichen Gemeinschaft, sozialen Normen und der Universalmoral. Um mit Recht über die Institution der Ehe diskutieren zu können, ist es nötig, Studien aus allen Gesellschaftswissenschaften anzuführen. Und wenn man sich wirklich mit diesem Thema beschäftigt, dann reicht es locker für mehrere Menschenleben und dutzende Dissertationen.

    Ich war lange Zeit unschlüssig, ob ich dieses Buch weiterschreiben will, ob ich genug Kraft und Geduld für ein so umfangreiches Projekt habe, ob ich die Welt nicht durch die Linse großartiger Ideen, sondern mit meinen eigenen Augen sehen will. Würde es mir gelingen, kurz und bündig von fundamentalen philosophischen, historischen, religiösen und gesellschaftlichen Phänomenen zu berichten, ohne dabei all ihren inhaltlichen Reichtum zu verlieren? Oder wäre es vielleicht besser, diese Fantasie für immer zu verwerfen und jeden Tag an den Strand zu gehen, vor allem, weil ich wirklich unweit vom Meer wohne?

    Und doch erlaubte es die mir seit meiner Kindheit nicht auszutreibende Sturheit nicht, einen Rückzieher zu machen. Wenn es Andere schafften, wieso sollte ich scheitern? Es gibt doch überaus erfolgreiche und gefragte Bücher mit ernsten Sujets – man nehme allein die Bibel! So begann ich nach und nach Material zu unterschiedlichen und auf den ersten Blick völlig zusammenhangslosen Themen zu sammeln, denen einzig und allein mein ständig wechselndes Interesse, meine Intuition und zuweilen auch meine Launen gemein waren – ohne jegliche konkrete Arbeitspläne oder wenigstens einen ungefähren, klaren Gedanken darüber, wie ich weiter vorgehen werde, wovon mein Buch handeln soll und ob es überhaupt ein Buch geben wird. Dann kam aber der Moment, an dem sich das Papierchaos um mich herum unerwartet verflüchtigte und ich von dem klaren, scharfen, fast philosophischen Gefühl erfasst wurde, dass mein Buch insgesamt fertiggestellt war und nur noch geschrieben werden musste. Mein Gefühl hat mich nicht betrogen: Ich habe das Buch geschrieben.

    Nun kam jedoch ein weiteres Hindernis dazu: Selbst eine oberflächliche, fast schon thesenhafte Darlegung aller gesammelten Materialien, passte unter Biegen und Brechen nicht in ein einziges Buch, aber einen Teil des Inhalts zu kürzen, kam für mich lange nicht infrage – das fühlte sich an, als würde ich mir den eigenen Arm abhacken. So ein Buch hätte wahrscheinlich, selbst wenn jemand bereit gewesen wäre, es herauszugeben, ein Bücherregal gesprengt, und auch der Transport aus dem Buchladen nach Hause wäre sicher beschwerlich geworden. Sein einziger Vorteil wäre wahrscheinlich gewesen, dass es im Falle eines Terroranschlags kugelsicher wäre. Ich musste es also schweren Herzens in drei Teile aufteilen, von denen Sie den ersten Teil in den Händen halten. Die Titelwahl beschäftigte mich am meisten. Denn der Titel war der Beginn von allem, er war die erste Radumdrehung eines Zuges bei seiner Abfahrt: Kaum abgefahren, waren die aufgeregten Rufe der Abholer am Ziel schon klar und deutlich zu hören. Der große Pythagoras fand, dass der Anfang schon die Hälfte aller Dinge sei, der nicht minder große Aristoteles hingegen war der Meinung, dass der Anfang mehr wiege als die Hälfte. Nicht umsonst streitet ein professioneller Verleger mit dem Autor um den Titel, bis er heiser wird, weil er darin 50 Prozent Erfolg oder 75 Prozent Niederlage sieht. Und tatsächlich spiegelt der Titel den Denkstil und den Geschmack des Autors am besten wider, oder, wie so oft, das Fehlen beider. Manche Titel sind so erfolgreich gewählt, dass sie mit dem Inhalt gleichauf stehen.

    Gabriel García Márquez nannte seinen berühmten Roman „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt. Dieser kunstlose Name gab den Grundgedanken des Autors und das Wesen der lateinamerikanischen Seele so genial wieder, dass man ihn auch ohne nachfolgende Texte für den Literaturnobelpreis hätte nominieren können. Die 18-jährige Françoise Sagan betitelte ihren ersten Roman „Bonjour Tristesse („Hallo, Kummer") und verwandelte sich im Nu von einem unbekannten, randalierenden Mädchen zu einem weltweit anerkannten Literaturklassiker.

    Ich besitze kein solch ausgeprägtes Talent, weshalb ich nach langem und mühseligem Suchen nach einem passenden Titel schließlich zum Plagiat tendierte und mein Buch nach einem bekannten spanischen Sprichwort benennen wollte: „El sueño de la razón produce monstruos – „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, welches schon Francisco de Goya zu seiner wohl bekanntesten Radierung inspirierte. Ich mag die Bildlichkeit spanischer Sprichwörter, daher finden Sie im Epilog der wichtigsten Kapitel noch einige weitere davon. Mir schien, dass dieses Sprichwort den Hauptgedanken dieses Buches knapp und deutlich wiedergibt: Der Schlaf der Vernunft – also die Verweigerung, die Welt um sich herum so zu sehen, wie sie ist – kommt dem Menschen teuer zu stehen: Er sucht den allmächtigen und allwissenden Lehrer außerhalb und will sich auf eine Illusion stützen, findet stattdessen aber nur Ungeheuer, Hirngespinste, die sein Leben von innen und außen zerfressen. Die Vernunft allein, die sich nie von ihrem treuen Freund und Knappen, dem gesunden Menschenverstand, loslöst, ist in der Lage, die uns umgebende Realität zu beurteilen und uns zu unserem Glück zu verhelfen. Doch dann habe ich mich für das Plagiat – wahrlich ein Zeichen für fehlendes Talent – geschämt und mir einen eigenen Namen für dieses Buch überlegt: „Gefährliche Illusionen". Über Ehe und Familienleben gibt es in diesem Buch jedoch nichts zu lesen. Dieses süße Thema habe ich für das nächste Buch behalten.

    Beim Schreiben dieses Buches habe ich mir mehrmals die Frage gestellt: Darf ich ohne ordentliche geisteswissenschaftliche Ausbildung die komplizierten Themen der Philosophie, Geschichte, Anthropologie und Soziologie diskutieren? Um Theologie geht es dabei nicht, denn sie halte ich nicht für eine Wissenschaft.

    Ich habe schließlich doch noch eine Rechtfertigung für meine literarische Unverschämtheit gefunden: Sie begründet sich durch das seit meiner Kindheit beständige und stetig wachsende Interesse für Humanwissenschaften sowie die in den sieben Jahren Arbeit an diesem Buch gelesenen, mehreren Tausenden Büchern, Artikel und Publikationen. Aus all diesen Quellen habe ich etwa achttausend Seiten Material zu konkreten Themen ausgewählt, sie ausgewertet und für die Kapitel dieses Buches verwendet. In der Bibliografie findet sich nur ein kleiner Bruchteil.

    Ich habe mich dagegen entschieden meine Darlegungen akademisch auszurichten, und dabei trotzdem einen wissenschaftlichen Ansatz und eine gründliche Recherche- und Schreibmethode beibehalten. Jedoch wollte ich kein wissenschaftliches Buch schreiben, das von hunderten Fußnoten erdrückt wird und kühl bleibt. Ich wollte auf Basis meiner Gedanken und viel Lektüre meine Sicht auf die Dinge und die Welt wiedergeben. Ich fühlte mich dabei manchmal wie ein Ketzer, der seine erste Gotteslästerung vor den Stufen einer Kathedrale ausspricht, oder mal wie ein Freiheitskämpfer, der in einem totalitären Staat auf dem Hauptplatz leidenschaftlich an das Volk appelliert. Ich habe keinen Zweifel daran, dass dieser Ansatz zum gegebenen Material vertretbar und begründet ist: Es gibt inzwischen so viele Publikationen, dass man zu jedem Thema schnell einhundert überzeugende Positionen „pro und einhundert genauso überzeugende Meinungen „kontra findet (ich kann mit Leichtigkeit selbst den Advocatus Diaboli spielen und unzählige Argumente gegen meine eigenen Thesen anführen).

    Diese Situation ist für viele bekannte Autoren unheimlich günstig, wenn sie den Mangel an eigenen Denkansätzen durch endlose Analysen der Gedanken anderer kaschieren und so längst zum Phantom geworden sind, das große Ähnlichkeit hat mit der Grinsekatze aus „Alice im Wunderland. Allerdings ist sie für den Leser äußerst ungünstig: Zwischen all den aus ihrem Kontext gerissenen und einander widersprechenden Meinungen großer Denker, versteht er einfach nicht, mit wem und worüber er diskutieren soll, sodass er sich schließlich zugunsten einer anderen Meinung von seiner eigenen lossagt – und somit vor dem Nichts kapituliert. In meinem Fall ist es anders: Ich kenne die bestehende Meinungsvielfalt zu allen tangierten Themen sehr gut und bin der Vereinfachung von Problemen gänzlich abgeneigt; und doch bin ich die endlosen Gegenüberstellungen à la „einerseits – andererseits leid. Ich will mich nicht hinter den Meinungen anderer verstecken.

    Ein weiteres Argument gegen Diskussionen und Verweise auf andere ist der Kampf um das Lesen: Früher buhlten Autoren um die Aufmerksamkeit des Lesers, heute geht es um die Lektüre selbst. Jeder Mensch bekommt allein über das Internet eine so ungeheure Menge an Informationen, dass er das Recht hat, in jeder Frage ohne weitere Buchlektüre eine eigene Meinung zu entwickeln. Es ist also per se erstaunlich, dass manche Menschen weiterhin Bücher lesen, denn heute ist es gar nicht mehr notwendig – es ist nichts weiter, als eine altmodische Extravaganz.

    Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass die Entscheidung, nicht mit anderen Autoren zu diskutieren, mir den Schreibprozess erleichtert hätte. Es kam eher umgekehrt: Ich war gezwungen, die dicke Schutzschicht von fremden Meinungen abzulegen, und erlegte mir die große Verantwortung für den Inhalt meiner Texte persönlich auf. Kurzum: Ich bleibe völlig nackt vor meinem intelligenten und peniblen Leser.

    Zum Thema Redseligkeit: Mich verwunderte schon immer die Tatsache, dass es selbst in den besten philosophischen Texten viele Definitionen der Definitionen und sehr lange Satzgefüge gibt. In exakten Wissenschaften schreibt man nicht so (sonst wird man ausgelacht). Dies bedeutet jedoch nicht, dass ich absichtlich die Inhalte vereinfacht habe, denn ich habe eine schwierige Verantwortung für die Bewahrung des intellektuellen Gepäcks der vorigen Generationen auf meine Schultern genommen. Aber man darf doch dieses Gepäck deutlich zusammenfassen, oder?

    Im alten Rom bezeichnete man diesen Stil als „lapidar" und nutzte ihn zur Beschriftung von Fassaden an Regierungsgebäuden und Denkmälern. Die Verfasser der Beschriftungen mussten sich für jedes Wort vor dem Volk verantworten, denn aus Stein lässt sich kein Wort mehr ausradieren. Leider ging diese vorzügliche Tradition der Gedanken- und Wortersparnis bis zur Zeit des Buchdrucks fast vollständig verloren: Die Römer gaben ihr Wissen nicht an die heutigen Schriftsteller und Verleger weiter. Deren Redseligkeit ist verständlich: Sie werden nach der Anzahl bedruckter Seiten bezahlt. Mir persönlich zahlt niemand etwas für die Anzahl bedruckter Seiten, ich hatte also keinen Grund, den Text aufzubauschen – ich habe es einfach so getan.

    Zu den pseudowissenschaftlichen Worten: Viele Autoren benutzen sie, um ihre intellektuelle Überlegenheit zur Schau zu stellen, wodurch sie beim Leser konsequent das Gefühl der eigenen Ungebildetheit und Minderwertigkeit hervorrufen. Andere Schriftsteller verstehen selbst nicht, was sie eigentlich sagen wollen, und verstecken ihre Unfähigkeit, das Material klar und deutlich zu präsentieren, hinter dem Schild im Alltag selten gebrauchter Worte, deren genaue Bedeutung selbst in renommierten Wörterbüchern schwer zu finden ist. Ich bin mir sicher, dass jeder intellektuelle Begriff aus den Geisteswissenschaften mit einfachen Worten verständlich erklärt werden kann, die im Alltag häufig gebraucht werden und jedem Realschüler ein Begriff sind. Den Kreuzzug gegen unangemessenen Szientismus habe ich bei mir selbst begonnen.

    Zum Thema Sarkasmus: Für mich gibt es keine „Tabu-Themen, denn, um es in den Worten des großen russischen Schriftstellers Fjodor M. Dostojewski zu sagen, „wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt. Ein freier Mensch hat das Recht, offen zu jedem Thema zu diskutieren und seine Meinung so zu äußern, wie er es für richtig hält. Im entgegengesetzten Fall sind jegliche liberalen und demokratischen Prinzipien nichts wert – dabei sind sie uns doch alle so teuer zu stehen gekommen. Sarkasmus legt besser als jedes andere Stilmittel den Kern einer Frage offen, er drückt die Position des Sprechers klar aus und ist ein unterhaltender literarischer Stil. Er wurde im politischen Leben der Antike oft verwendet und war das Aushängeschild der besten Redner und Denker aller Zeiten: Demosthenes und Cicero sprachen sarkastisch, Voltaire und Rabelais griffen in ihrem Kampf gegen die Theologie und ihre Lieblingstochter, die Scholastik, auf den Sarkasmus zurück, und auch der große Einstein sagte einst: „Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher." Was den Sarkasmus angeht, bin ich also lediglich ein dankbarer Schüler. Sie werden in diesem Werk auf eine Menge Sarkasmus gegenüber weit verbreiteten Dogmen, Idealen und Ritualen stoßen. Mir ist bewusst, dass so ein Stil Empörung oder sogar Vorwürfe der Verleumdung auslösen kann, doch ich bin bereit, jede begründete Herausforderung anzunehmen. Mein Sarkasmus hat nämlich nicht Spott und Zerstörung zum Ziel, sondern Bereinigung und Schöpfung: Indem ich an den Leser appelliere, helfe ich ihm dabei, seine Ideale und seinen Glauben zu stärken, d. h. besser zu verstehen, woran er glaubt, aber auch, wofür er diesen Glauben braucht und was man von ihm erwarten soll.

    Als ich dieses Buch schrieb, versuchte ich verzweifelt, alles auf den gesunden Menschenverstand zurückzuführen – ich kenne nichts Anderes, auf das man sich verlassen könnte. Um die Hauptgedanken besser hervorzuheben, führe ich meine Behauptungen oft bis an den Rand des Absurden aus, aber ich schäme mich überhaupt nicht für die subjektiven Übertreibungen, denn Subjektivität ist die einzige Möglichkeit, die uns umgebende Welt wahrzunehmen. Sie ist unumgänglich. Alle Bücher dieser Welt, sogar heilige Schriften, sind völlig subjektiv und stützen sich auf die eine oder andere Ideologie oder religiöse Glaubensrichtung. Es ist durchaus möglich, dass ich an mancher Stelle die Logik meiner Darstellungen eingebüßt oder an anderer Stelle etwas vergessen oder nicht zu Ende gedacht habe – ich bin genauso Mensch wie Sie, und auch ich habe das Recht auf Fehler. Genauso wie der Leser das Recht hat, ein Urteil über die Aussagekraft meiner Thesen zu fällen und mich zu kritisieren. Ich biete dem Leser meine eigene, klare und eindeutige Meinung, ich lade ihn ein, bis zum Umfallen mit mir zu diskutieren und nehme jegliche Bewertung von seiner Seite dankbar an, sei es Begeisterung oder Gehässigkeit. Es wäre sogar unangenehm für mich, wenn die Kritik gänzlich ausbliebe – das wäre ja ein klares Anzeichen für völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Gelesenen.

    Jedoch wünsche ich mir, dass diese Kritik sachlich und begründet sei! Dies ist aber erst nach dem vorausgehenden Durchlesen, zumindest eines kleinen Teils der in der Bibliographie angegebenen Texte, oder anderer Bücher zu dem kritisierten Thema, möglich. Dies ist notwendig, um die von Sigmund Freud klar in Worte gefasste Situation zu vermeiden: „[…] die Schwäche meiner Position bedeutet keine Stärkung der Ihrigen".

    Ich glaube, das Buch ist für den Leser nützlich. Erstens, kann es wertvolle Zeit sparen, denn fast jeder von uns sucht hartnäckig nach dem Sinn seiner kurzen Existenz, oder nach den unwiderlegbaren Beweisen ihrer Sinnlosigkeit. Dafür raubt man sich die Zeit, schränkt seine Lieblingsbeschäftigungen und natürliche Vergnügungen ein. Ich habe einige Jahre meines Lebens für das Durchlesen der tausenden Texte und für die Erarbeitung und Verschriftlichung eines nachvollziehbaren Konzeptes geopfert. Der Leser dagegen braucht nur einige Tage, um dieses Buch zu lesen. Dadurch tauscht man ein paar Tage gegen ein paar Jahre. Ist dies etwa nicht ein lohnendes Geschäft?

    Es kann ebenso gut passieren, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches zu dem Schluss kommen, dass es oberflächlich und voller haltloser Argumente ist, offensichtliche Irrtümer birgt und Heiligtümer diffamiert. In diesem Fall werden Sie der Versuchung nie wieder nachgeben, solch skandalöse Bücher zu lesen, die Sie vom rechten Weg abbringen. Darüber hinaus werden Sie diesen rechten Weg viel klarer sehen und voller Freude in Ihr rechtes Leben zurückkehren, das nun nie wieder von irgendwelchen neuen Ideen bedroht sein wird. Sollten Sie meine Argumentation nun positiv auffassen, wird Ihnen das helfen, sich endgültig und unwiderruflich von der Rechtmäßigkeit Ihrer bisherigen Lebensanschauung zu überzeugen, die dadurch leichter und sorgloser und Ihnen viel mehr Freude bereiten wird.

    Ich bin absolut überzeugt, dass sich alles, was wirklich existiert, vor unseren Augen befindet und von allen Menschen ausnahmslos begriffen werden kann. Ideelles gibt es in der Natur einfach nicht. Zu meinem großen Bedauern, dies muss ich eingestehen, teilt ein Großteil der Menschheit meine Überzeugung nicht. In mehreren tausend Jahren Zivilisation hat sich eine Unzahl von Chimären angesammelt, von primitiven Mythen und Glaubensvorstellungen, über Verbote und Tabus, bis hin zu monumentalen und bis ins Detail ausgearbeiteten Weltreligionen. Auch wenn ich die Hirngespinste an den Pranger stelle, so muss ich doch meinen unverfälschten Respekt gegenüber ihrer Lebensfähigkeit und ihrem Starrsinn aussprechen: Obwohl sich die meisten von ihnen sehr ähneln und nichts mit den Naturgesetzen oder dem Wesen des Menschen gemein haben, vermochten sie es, unzählige Anhänger nicht nur von ihrer realen Existenz, sondern auch von ihrer Einzigartigkeit zu überzeugen. Jedes Hirngespinst behauptet, es sei das einmalige, unnachahmliche und einzig würdige Ziel der menschlichen Existenz, während die restlichen Chimären gefährlicher Irrglaube seien.

    Alle Hirngespinste kämpfen gegen den menschlichen Verstand an, der ihr natürlicher Feind ist – schließlich besteht seine wichtigste Funktion darin, sich bestehende Werte kreativ anzueignen und neue zu schaffen, während Chimären entweder auf ihrem übermenschlichen Ursprung und der Unabänderlichkeit ihrer Positionen beharren, oder sich zur, zwar von Menschenhand geschaffenen, aber unbeugsamen Wahrheit in letzter Instanz erklären. Aus der Perspektive der Hirngespinste sei der Sinn aller Dinge ausnahmslos und auf ewig durch Gott oder den jeweiligen Führer geschaffen, weshalb es keinerlei Wissenschaft oder Kultur bedürfe, denn alle Erklärungen lägen schon in den Siegerideologien sowie in den heiligen Schriften vor, an denen kein Zweifel auszusetzen sei, die keiner Veränderung und keines Zusatzes bedürfen.

    Chimären leugnen die natürliche Evolution des Menschen und der Gesellschaft, schweigen die Vergangenheit tot oder „passen sie an sich an" und negieren die Gegenwart als etwas, was ihrem chimärischen Ideal nicht entspricht. Sie bläuen dem Menschen ein, dass er nicht in der Lage ist, selbstständig, ohne stetige Kontrolle durch das allmächtige, allwissende und allsehende, höchste Wesen zu überleben: Ohne Aufsicht begibt sich der verwaiste Mensch sogleich in das Königreich des Lasters und Verfalls und mutiert wohl oder übel zum wilden Tier. Dabei wird die Tatsache völlig außen vor gelassen, dass der Mensch noch vor der Zeit des einen Gottes und sozialer Utopien wunderbar überlebte und dass er, mehr noch, wahrhaft erhabene antike Zivilisationen zu errichten vermochte.

    Hirngespinste stellen im Menschen immer das niedere Körperliche dem erhabenen Seelischen gegenüber, als wäre nicht von einem Wesen die Rede, sondern von zwei verschiedenen und miteinander unvereinbaren. Sie begünstigen auf künstliche Art einen Zustand von Exaltiertheit und Nervosität im Menschen, um ihn der Möglichkeit zu berauben, sich wie eine harmonische und ausgeglichene Persönlichkeit zu fühlen, die in der Lage ist, ihre Umwelt zu analysieren. Und sie haben allen Grund zur Furcht. Wenn der Mensch seinen Schleier von den Augen nimmt, wird er die Chimäre nicht als mächtig und unbesiegbar wahrnehmen, wie sie gerne scheinen würde, sondern so, wie sie ist: als eine Fantasie, als einen machtlosen Koloss auf lehmigen Beinen, als ein morsches Schloss auf Treibsand. Das geschah ja oft mit den Chimären religiöser Glaubensrichtungen und sozialer Utopien. Wozu sind sie dann gut?

    Hirngespinste kämpfen vehement gegen die Versuche an, ihre Lehren einer objektiven Analyse und einer wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen, und in diesem Kampf sind ihnen alle Mittel recht, darunter auch tägliche Gehirnwäsche und unverhohlene Nötigung. Als Belohnung für gedankenlose Treue versprechen sie ein märchenhaftes ewiges Leben im Paradies oder eine helle Zukunft.

    *

    *     *

    Chimären sind äußerst eifersüchtig auf die physischen Bedürfnisse des Menschen und kämpfen in der Regel aktiv gegen seine natürlichen Instinkte und Begierden, die dem Wesen des Menschen organisch entspringen. Der Mensch ist verpflichtet, um der zukünftigen Glückseligkeit willen, gegen die heutigen Versuchungen anzukämpfen.

    Kein ernstzunehmendes Werk zu einem geisteswissenschaftlichen Thema kommt an der Religion vorbei. Sie hat unsere Kultur maßgeblich geprägt, indem sie in ihrer Entwicklung die Ratio anzugreifen pflegte, und übt noch heute einen aktiven Einfluss auf unsere Zivilisation aus. Ich bin jedes Mal aufs Neue fasziniert von der Tatsache, dass die Menschheit Trillionen Stunden ihrer Zeit, hunderte Millionen Menschenleben und ungeheure materielle Ressourcen für religiöse Kulte aufgewendet hat. Ein solcher Berg von Hoffnungen und Emotionen, von Anbetung, die gleichzeitig den Gipfel der Sinnlosigkeit bilden – so ein Einsatz darf einfach nicht unbemerkt bleiben. Deshalb war es mein erklärtes Ziel zu beurteilen, was die Menschheit an diesen Riten gefunden hat und ob dieser Fund so immense Investitionen und Verluste wert war. Daher möchte ich nun die Weltsichten gegenüberstellen:

    Die eine Weltanschauung sieht die Welt als solche, wie sie ist, und beansprucht das Primat menschlicher Werte über allen anderen. Das bedeutet, dass der Mensch allein in der Lage ist, sich eine praktische Moral zu schaffen und in seinem privaten wie sozialen Leben zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Der Hedonismus beruht auf den natürlichen Ausdrucksformen des Menschen – Körperlichkeit, Gefühl und Genuss – und gilt somit zweifellos als unerlässlich für sozialen Fortschritt. Er kennt nur eine Grenze: den Respekt gegenüber den Interessen anderer.

    Die andere Weltanschauung erkennt die natürlichen, dem rationalen Denken und den Gefühlsorganen offensichtlichen Werte des Menschen nicht an, sie stützt sich auf Ideale und Offenbarungen außerhalb des Menschen, stellt den Hedonismus als schlimmsten Feind einer religiösen Gemeinde bloß und führt künstlich neue Lebensregeln ein, die auf Gottes Geboten und deren absoluten Werten von Gut und Böse beruhen.

    Ich habe nicht vor Ihnen zu beweisen, wer hier warum im Recht ist; dieser Versuch wäre zum Scheitern verurteilt, noch bevor er überhaupt unternommen würde. Es war mir wichtig selbst zu verstehen, welches dieser beiden Wertesysteme den Menschen stärker und glücklicher macht, welches in diesem Leben (be)folgenswert ist und welches nicht. Dieses Ziel lässt sich nicht innerhalb einer einzigen geisteswissenschaftlichen Disziplin erreichen; selbst die höchst respektable Disziplin der Philosophie reicht hier nicht aus. Was man hier braucht, ist eine Symbiose aller Wissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, das, womit sich die culture générale („Allgemeine Kulturgeschichte) beschäftigt. Sie unterteilt die Welt nicht in Unterbereiche und stützt sich auch nicht auf „grundlegende Ideen: In der Welt um uns herum gibt es zu viele Ideen, die zudem alle miteinander vermischt sind. Deshalb wollte ich die Kapitel in diesem Buch nicht erzwungenermaßen nach einer strengen Kausalfolge gliedern, um darin ein und dieselben Thesen in verschiedenen Variationen durchzukauen. Das Buch hat in keiner Weise darunter gelitten, denn seine Hauptaufgabe bestand darin, den ersten Teil einiger besonders weitverbreiteter parasitischer Hirngespinste konsequent aufzudecken, die die Menschheit nun schon mehrere tausend Jahre lang plagen. Mit dem zweiten Teil möchte ich mich in einem anderen Buch beschäftigen.

    Ich kann nur meinen eigenen Standpunkt vertreten: Es ist nicht weit von den Postulaten monotheistischer Religionen und Anschuldigungen gegenüber dem Hedonismus zur Selbstzerfleischung, Selbstanklage oder sogar zum Selbsthass, ganz zu schweigen vom Hass gegenüber anderen Menschen und Andersgläubigen.

    Diese Situation ist durchaus vorhersehbar: Das Ideal ist grundsätzlich unerreichbar, und ebendiese grundsätzliche Unerreichbarkeit wurde in der Geschichte der Menschheit zum Ursprung aller möglichen Illusionen und zur treibenden Kraft aller begangenen Missetaten. Unmenschliches, das sich auf unergründliche Gebote (des einen Herrn und Hüters oder Führers) stützt, stellt sich unerreichbare, völlig realitätsferne Ziele und zerstört dann wütend alles Menschliche, es erstickt jedwedes gesunde Streben im Keim, ein natürliches Leben führen und die eigene Umwelt ein wenig besser machen zu wollen. Damit haben wir alle Grund genug, uns selbst die Frage nach Sinn und Zweck von Religion zu stellen.

    Meine Überzeugungen bringen mir keine Freude. Gäbe es den allmächtigen, allsehenden und allwissenden Gott, so würde er sicherlich über das Irdische regieren und unser Leben viel besser machen. Aber es gibt ihn nicht unter uns. Deshalb soll man zugeben, dass nur der Mensch an dem ganzen Übel schuld ist. Also gibt es fast keine Hoffnung auf Verbesserung.

    Ein großer Dank gilt allen Menschen, die mir bei Recherchen geholfen haben, die mit mir das Material diskutiert haben, den Text redigiert haben und die große technische Arbeit geleistet haben. Ein besonderer Dank soll dem Team meiner Redakteure gelten.

    Großer Dank gilt meinen Verlegern. So oft haben sie mit mir gekämpft – und gewonnen, denn dieses Buch ist besser geworden.

    Auch bei meinem werten Leser möchte ich mich für die Unterstützung bedanken! Ich hoffe sehr, dass dieses Buch einen angemessenen Platz in Ihrem Bücherregal findet. Es gibt nichts Wertvolleres, das all die Mühe und Zeit wert wäre. Dem Buch wird es bei Ihnen sehr gut gehen, ist es doch als eine Hymne an den irdischen Menschen – den Herrscher aller Dinge – gedacht und nicht mit Gift, sondern mit Glauben und Hoffnung geschrieben; in dem Glauben an den Menschen und der Hoffnung auf sein gegenwärtiges Glück.

    Ein besonderer Dank soll der französischen Kultur im Allgemeinen gelten. Besser als alle anderen vermag sie es, strenge Wissenschaft und Lebensfreude in der allseits bekannten joie de vivre zu vereinen. Ihre typische kämpferische Unabhängigkeit, wenige Tabuisierungen, die gesunde Beziehung der Geschlechter, ebenso wie die wunderschöne Sprache, haben der französischen Kultur mit Recht jahrhundertelang auf den weltweit ersten Platz verholfen. Zweihundert Jahre Aufklärung und von Napoleon gesetzlich verankertes rationales Denken machten es dann ihrerseits möglich, klares Urteilsvermögen bis in die heutige, für die Meinungsfreiheit so schwierige Zeit zu bewahren.

    Auch den deutschen Geisteswissenschaften bin ich sehr verbunden, allen voran der Philosophie, und zwar der klassischen sowie der weniger klassischen, aber auch der allgegenwärtigen Psychoanalyse, dank der mir das ideelle Wesen sowie die Ursprünge monotheistischer Religionen zugänglicher wurden. Ebenso danke ich den gleichzeitig sublimen wie pedantischen Disziplinen der Anthropologie und Soziologie, ohne die die Zeiten unmerklich aufeinander folgen und ohne die wir das Spiegelbild unserer eigenen Instinkte nicht im zotteligen Antlitz des Höhlenmenschen erkennen würden.

    KAPITEL I

    Vernunft

    oder Chimären

    Cría cuervos, y te sacarán los ojos.

    Züchte Raben, und sie werden dir die Augen auskratzen.

    (Spanisches Sprichwort)

    „Chimäre" ist ein altgriechisches Wort; in der griechischen Mythologie meinte es ein schreckliches Ungeheuer, man assoziierte sie mit einem unerträglichen Alptraum. Die erste Erwähnung einer Chimäre ist bei Homer zu finden: dort wird sie als löwenköpfiges und feuerspuckendes Monster im Ziegenkörper und mit einem Drachenschwanz beschrieben. Der Philosoph Hesiod erzählte, dass der vordere Löwenteil der Chimäre so groß wie ein Pferd sei und der hintere Ziegenteil einen Kopf in der Mitte habe. Der Schwanz wurde durch eine Schlange ersetzt. Alle drei Köpfe waren feuerspeiend. Auch der lateinischer Dichter Vergil hatte keinen Zweifel daran, dass die Chimäre ein unsinniges und aggressives Ungeheuer mit drei Köpfen auf einem Körper war.

    Die Chimäre versetzte die Alten in Angst und Abscheu, weil sie unvereinbare Elemente in sich vereinbarte, die Rückkehr zum ursprünglichen Chaos bedeutete, das Zerfallen der natürlichen Harmonie und das Aufhören des rationalen Denkens symbolisierte. All das sind jedoch ganz und gar unzulässige Beispiele für die antike Denkweise. Die antike Vernunft war selbstsicher und dachte, dass alles, was nicht zur Vernunft gehöre, eine Chimäre sei.

    Dies Kapitel ist jenen Chimären gewidmet, die das Leben des Menschen vergällen und sich trotzdem immer noch vermehren. Wir züchten die Chimären, bis es zu spät ist und sie uns unsere Augen auskratzen. Sie greifen unsere Vernunft seit Kindheit und bis zum Tod an. Jede Geburt trägt den unvermeidbaren Tod bereits in sich. Gleichermaßen schärfen uns die Eltern und Versicherungsgesellschaften von der Wiege an ein, uns aufs Altern vorzubereiten und für die eigene Beerdigung zu sparen. Dabei haben wir noch gar nicht gelebt!

    Chimäre von Arezzo, 5. Jh v. Chr.

    Erste Begegnung mit Chimären

    Vor einigen Jahren reiste ich mit unserem Sohn und seiner Freundin durch Marokko. Das Königreich Marokko erwies sich als ein sehr interessanter Ort, der es vermag, das sonst so schläfrige Gehirn eines Touristen anzuregen. Insbesondere dadurch, dass der Islam, der in Marokko als Gesellschaftsordnung omnipräsent ist, hier auf eine wundersame Weise mit den freien europäischen Moralvorstellungen vereinbar ist. Es dauerte zwar ein wenig, aber nach einer Weile wunderten wir uns nicht mehr über das friedliche Zusammenleben der schwarze Niqabs tragenden Frauen und der bunt und knapp bekleideten Damen mit offenen Haaren.

    Danach besuchten wir das wunderschöne Fès – das Zentrum der unberührten frühen islamischen Kultur; das moderne, lebhafte und geschäftige Rabat und Casablanca; Marrakesch, welches für seine Gärten und die prächtigen Hotels bekannt ist, und die touristische Stadt Agadir. Die zwei letzten Nächte verbrachten wir in der Sahara, in einem winzig kleinen, aus vier Zelten bestehenden Hotel.

    Der Fahrer, der uns am letzten Tag unserer Reise mit einem Jeep zum Flughafen brachte, war ein von der starken Sonne schwarz gewordener Beduine. Wir fuhren sehr lange, etwa zweieinhalb Stunden, direkt durch die Wüste. Unser Beduine war schweigsam, das machte uns aber nichts aus, wir redeten fröhlich miteinander und diskutierten über unsere schlichten marokkanischen Abenteuer. Plötzlich zeigte er mit der Hand nach vorne und sagte: „Schauen Sie!" Ganz in der Nähe, etwa hundert Meter vor uns, lag das Meer. Und was für ein Meer – fast real, azurblau und unter der heißen Wüstensonne liegend! Es hatte ein ordentliches Sandufer, sogar der Wasserspiegel kräuselte sich. Das Meer wollte uns jedoch nicht kennenlernen. Als wir ihm näherkamen, lief es langsam von uns weg. Es hielt uns auf sicherer Distanz.

    Wir alle hatten über solche optischen Täuschungen schon einmal gelesen und wussten zudem ja ganz genau, dass es an diesem Ort, im Zentrum der Wüste, kein Meer geben konnte und es auch niemals eines geben würde. Dennoch war es unglaublich schwierig, sich von dieser Halluzination zu befreien. Wir alle fünf hatten das Gleiche gesehen. Diese Tatsache machte unser „gemeinsames" Meer außerordentlich glaubhaft (später gab unser Sohn zu, dass er damals instinktiv nach über dem Wasserspiegel schwebenden Möwen gesucht hatte). Die Vernunft verlies uns also für einige Zeit; wir waren bereit, an alles Beliebige zu glauben: an Gespenster, Teufel und Aliens.

    Die ganze Halluzination dauerte nicht lange, nach etwa fünfzehn Minuten bog der Weg auf eine unbefestigte Landstraße neben einem Dorf ab und die Sanddünen mit dem himmelblauen Meer lösten sich in der trockenen heißen Luft auf. So begegneten wir zum ersten Mal der für den Menschen gefahrlosen und primitivsten Chimäre: einer Luftspiegelung. Wir haben uns mühelos und ohne jegliches Bedauern gleich wieder von ihr verabschiedet. Man kann sich also vorstellen, wie schwierig es vor vielen Jahrtausenden für einen ungebildeten Nomaden gewesen sein musste, von solch einem Blendwerk loszukommen.

    Diese erste Begegnung mit einer Chimäre spielte eine große Rolle in unserem Leben, brachte sie uns doch zum langen Nachdenken über die Zerbrechlichkeit der menschlichen Vernunft. Noch am selben Abend begann ich, über die Vernunft zu recherchieren.

    Vernunft oder Glaube?

    Enzyklopädien und philosophische Wörterbücher erklären mir geduldig, dass die Vernunft der einzige Weg zur Erkenntnis der Welt sei. Mithilfe der Vernunft kann der Mensch abstrakte Begriffe benutzen, kritisch denken, logische Zusammenhänge zwischen den Dingen und Erscheinungen erkennen und dadurch auch allgemeine Gesetze, Prinzipien der Weltordnung und eigene moralische Vorschriften formulieren.

    Aber wenn Vernunft der höchste Punkt der Erkenntnis und das Reich der Logik ist, warum ist sie dann so zerbrechlich und schwach? Warum kommt sie so einfach abhanden? Warum ist selbst das zarteste und kurzzeitigste Nebelbild imstande, uns die Fähigkeit der kritischen Analyse der Wirklichkeit zu rauben?

    Um die Antwort auf diese Frage zu finden, muss noch eine andere gestellt werden: Was ist das Gegenteil von Vernunft? Erstes kommt der Gedanke in den Sinn, dass dies wohl die Dummheit sei. Diese Antwort ist aber falsch, denn das Gegenteil von Dummheit heißt nicht Vernunft, sondern Weisheit.

    Das Gegenteil von Vernunft ist Glaube. Das ist kein Fehler – der Glaube ist der Antipode der Vernunft. Vernunft und Glaube gehören eng zueinander, aber sie neigen dazu, sich gegenseitig auszuschließen. Sobald die Vernunft schwächer wird, wird der Glaube sofort stärker und erhebt sein Haupt, oder eben umgekehrt.

    Glaube ist ein besonderer psychischer Zustand, zudem die Bereitschaft gehört, eine gewisse These als eine wahre anzuerkennen, ohne jegliche Beweise, basierend auf großem Vertrauen. Oder sogar noch schlimmer: Als Wahrheit wird das angenommen, was prinzipiell unbeweisbar ist. Glaube will also keine Beweislast tragen. In der Regel nimmt Glaube eine ungerechtfertigte These als eine wahre an und würdigt sie sogar als solche.

    Die stärkste Form des Glaubens ist der religiöse Glaube, denn er behauptet die Existenz überirdischer Mächte, die durch Vernunft nicht zu erklären sind. Religiöser Glaube ist also eine Art der Verleugnung des Gemeinsinnes und der menschlichen Erfahrung. Der Gemeinsinn und die Erfahrung werden dabei durch die Illusion der Existenz des höchsten Wesens (des Symbols der Wahrheit und des Vertrauens), eine Urteilsquelle über gut und böse, ersetzt. Ein Großteil der Menschen lebt lieber in einer riesigen Illusion, als in der greifbaren Realität, die vor Augen liegt.

    Der französische Anthropologe und Begründer der Massenpsychologie, Gustave Le Bon, schrieb dazu in „Psychologie der Massen":

    „Seit der Morgenröte der Kultur sind die Völker immer dem Einfluss von Täuschungen ausgesetzt gewesen. Den Schöpfern von Täuschungen haben sie die meisten Tempel, Bildwerke und Altäre errichtet. Früher waren es religiöse, heute sind es philosophische Täuschungen – aber immer findet man diese furchtbaren Herrscherinnen an der Spitze aller Kulturen, die nacheinander auf unsere Planeten blühten. In ihrem Namen stiegen die Tempel Chaldäas und Ägyptens, die Kirchenbauten des Mittelalters empor, in ihrem Namen wurde ganz Europa vor einem Jahrhundert umgewälzt. Es gibt nicht eine einzige unserer künstlerischen, politischen oder sozialen Anschauungen, die nicht ihren mächtigen Stempel trüge. Oft schüttelt sie der Mensch um den Preis furchtbarer Umwälzungen ab, aber er scheint dazu verdammt zu sein, sie immer wieder aufzurichten. Ohne sie hätte er die primitive Barbarei nicht hinter sich lassen können, und ohne sie würde er ihr bald wieder verfallen. Zweifellos sind es leere Schatten, aber diese Töchter unserer Träume haben die Völker gezwungen, all das zu schaffen, was den Glanz der Künste und die Größe der Kultur ausmacht."

    Sein Zeitgenosse Sigmund Freud meinte, dass die Menschen mit aller Kraft versuchten, ihre Illusionen insbesondere die religiösen, zu schützen. Sie hätten Angst davor, dass anderenfalls ihre Welt untergehen könne und sie gezwungen würden, an all dem zu zweifeln.

    Es ist also kein Wunder, dass ich mich dazu entschieden habe, die mir fremde Welt der Illusionen besser kennenzulernen: Ich wollte schon längst verstehen, worauf sie basiert und die Stärke unserer Abwehrfähigkeit erforschen. Demzufolge beginne ich mit der Vernunft; denn ohne klares Verstehen dessen, was Vernunft ausmacht, ist es unmöglich, den Begriff der Chimäre zu bestimmen.

    Die antike Vernunft als Vorbild

    „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, die er ist, der nichtseienden, die er nicht ist."

    Protagoras

    Die antike Kultur kann zurecht als Zivilisation der menschlichen Vernunft bezeichnet werden. Der Kult der Vernunft ist die Hauptleistung und der größte Stolz der antiken Welt. Das Primat der Rationalität ist das grundlegende Prinzip des alltäglichen Lebens. Selbst heute ist ein Großteil der Menschen, welcher seit frühester Kindheit Chimären annahm, nicht rationaler als die Altgriechen. Und dies aller Vorteile der modernen Zivilisation zum Trotz, wie zum Beispiel Flugzeuge, Autos, Netzwerke und iPhones.

    Die Vernunft erschuf die reiche antike Kultur, deren Früchte wir immer noch genießen. Der wichtigste Erfolg dieser Kultur ist wahrlich die große Philosophie, die ihrerseits die allgemeinen Gesetze der gegenständlichen Welt ableitete und ein System der Begründungen und Beweise für diese Gesetze erarbeitete. Die Hervorhebung der Vernunft in der antiken Kultur erscheint als logische Folge ihres Anthropozentrismus’. Gerade Vernunft ist dem Menschen eigen, sie macht ihn aus und lässt ihn die Welt erkennen.

    Es ist sehr wichtig zu betonen, dass der antike „Kult der Vernunft" mit dem Denken der Alten in Verbindung steht. Da die Philosophen sich ihre Theorien nicht durch ungerechtfertigte irrationale Konzeptionen verwässern lassen wollten, überließen sie den ganzen mythischen Glauben und das Pantheon voller Götter dem niederen Volk. Die Griechen waren sich sicher, dass die menschliche Vernunft der Wahrheit näherstehe und dass sie viel spiritueller sei, als jede Religion.

    Im Laufe von achthundert (!) Jahren der vollentwickelten griechisch-römischen Zivilisation hat sich die Idee der Existenz des einen Gottes nicht durchgesetzt.

    Dafür aber entstand in der Antike der Kult der Vernunft. Der große Epikur erklärte dies in seiner Schrift „Brief an Menoikeus wie folgt: „Daher ist die Einsicht sogar wertvoller als die Philosophie: ihr entstammen alle übrigen Tugenden […].

    Ein anderer, nicht weniger bekannter römischer Philosoph, Lucius Annaeus Seneca, der bereits den Anfang der christlichen Epoche miterlebte, behauptete in den „Briefen über Ethik an Lucilius" Folgendes:

    „Wenn du alles regieren möchtest, lass die Vernunft über dich regieren".

    Anderthalb Jahrhunderte später formulierte das Marcus Aurelius ähnlich:

    „Du hast aber auch vergessen, dass der denkende Geist eines jeden gleichsam ein Gott und ein Ausfluss der Gottheit ist […]" (Selbstbetrachtungen, Abschnitt XII).

    Die Abwesenheit der Götter brachte die antiken Denker nicht davon ab, etwas zu erschaffen. Der Philosoph Anaximander aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. hat die Grundideen einiger Wissenschaften vorweggenommen: von der Kosmologie, indem er behauptete, dass das Weltall wächst und stirbt; von der Physik, indem er den Erhaltungssatz der Materie ableitete von der Philosophie, indem er die Idee wechselseitiger Wirkkräfte ablöste. Das klingt nach Dialektik; der Anfang des Weges zum „Gesetz von der Einheit und vom Kampf der Gegensätze". Die vormonotheistische Weltanschauung war in Wirklichkeit dialektisch; laut ihr ist das Sein eine Gesamtheit von zwei gegensätzlichen Tendenzen (der Ordnung und dem Chaos), deren richtige Bilanz den Kreislauf des Lebens zur Welt brachte.

    Dabei stimmt es gar nicht, dass die alten Griechen und Römer die Vernunft „aus Liebe zur Kunst" hervorgebracht haben. Sie taten dies aus einer ganz klaren egoistischen Idee heraus, die jeder normale Mensch nachempfinden kann. Sie glaubten hoch und heilig daran, dass nur Vernunft dem Menschen helfen kann, am Leben zu bleiben und zum Glück zu gelangen. Glück sei das Ergebnis des rationalen Umganges mit der Welt.

    Die Tatsache, dass es keine Zufälle gibt, braucht nicht erklärt zu werden. Doch was hat denn letztendlich die antike Vernunft zum Superstar gemacht? Die Antwort auf diese Frage ist nicht nur für das Verstehen der antiken Vernunft wichtig, sondern auch für weitere Gegenüberstellungen zur Kultur des Monotheismus, insbesondere der christlichen Kultur. Aus heutiger Sicht ist das, was folgen wird, gar nicht originell und braucht kaum Kommentare und Beweise. Damals jedoch war es sogar revolutionär und wurde später durch die christliche Zivilisation völlig verworfen.

    – Im Altertum regierte die Irrationalität: Phänomene und Erscheinungen wurden nicht nach objektiven und logischen Gesetzen, sondern nach dem Willen der zahlreichen mythologischen Götter und des Menschen selbst eingeordnet. Ein hoher Ernteertrag, eine erfolgreiche Jagd und selbst der Tod, wurden durch das Befolgen des Rituals und plötzliche Ereignisse (durch solche wie Zerbrechen eines Topfes oder Herunterfallen des Butterbrots auf die Butterseite) erklärt. Der französische Ethnologe und Soziologe Lucien Lévy-Bruhl sprach vom „Prinzip der Teilhabe". 

    Im Laufe von etwa vier bis fünf Jahrhunderten (vom 8.-7. und 4.-3. Jh. v. Chr.) ging die griechische Zivilisation vom irrationalen mythologischen Denken zum objektiven und rationalen Denken über. Die Rituale wurden durch eine rationale Umgangsweise mit der Lebenswelt und der Suche nach objektiven Gesetzmäßigkeiten des Seins ersetzt. Die philosophische Grundidee war: alle Gegenstände der Umwelt sind miteinander durch natürliche Gesetze kausaler Wirkungszusammenhänge verbunden, die für den menschlichen Verstand begreifbar sind. Solche Annahmen gaben dem Menschen den Anstoß zum systematischen Nachdenken über die allgemeine Weltordnung und den Sinn der Existenz. Mythen und der Wille der Götter wurden als unnötig wahrgenommen und beiseitegelassen.

    Die Ergebnisse ließen nicht lange auf sich warten. In der Antike entstanden abstraktes Denken und jene Begriffe, die das menschliche Denken radikal veränderten. Darunter: Logos, Sein, Substanz, Ethik.

    – Die Effektivität der antiken Vernunft basiert darauf, dass sie von keinen religiösen Dogmen und keinen allumfassenden, unverzichtbaren Gotteswahrheiten gefesselt war. Die antike Philosophie wollte die rationalen Erklärungen für alles ohne Hilfe der Religion finden und eine rein menschliche Moral erschaffen. Eben kein Glaube, sondern die autonome eigenständige Vernunft war damals die Hauptarbitrage beim Treffen von Entscheidungen.

    Die Hauptwissenschaft der Antike war nicht die Theologie, sondern die Philosophie. Dies hat sich in den nächsten Epochen bestätigt. Dabei beginnt die Philosophie immer auf einer grünen Wiese: Sie bezweifelt absolut alles.

    – Die absolute Mehrheit der Strömungen der antiken Philosophie war der Meinung, dass nur die Vernunft die Menschen mit Erkenntnis – das heißt mit dem praktischen Sinn einer glücklichen irdischen Existenz – beschenken kann. Diese Erkenntnis galt als die für alle streitigen Fragen verantwortliche, höchste Instanz. Die Vernunft wurde in der Antike als etwas Leibhaftiges dargestellt: Der Körper und die Vernunft seien untrennbar, sie entwickelten sich und stürben gleichzeitig. Die Vernunft sei im Leib zuhause – kämpfe deshalb nie gegen den Körper und dessen Instinkte oder Bedürfnisse.

    – Die Blütezeit der antiken Kultur und unter anderem der Philosophie, zeigt sich im Allgemeinen durch ihre totale Toleranz gegenüber dem Fremden und Andersartigen; seien es neue Konzepte des höchsten Ursprungs und des Seins der Welt, Religionen, Götter, oder auch einfach eine andere Einstellung. Philosophen der Antike meinten, das individuelle menschliche Bewusstsein sei der Träger der höchsten Vernunft, der Grund jedes Urteils und das Kriterium der Wahrheit. Demzufolge müsse man dem Individuum Denk- und Äußerungsfreiheit garantieren. Im Dialog „Theaitetos schreibt Platon dem Protagoras folgende Aussagen zu: „Es gibt über jede Sache zwei einander entgegengesetzte Aussagen und „Wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir." (Aufrichtig gesagt, waren nicht alle gebildeten Griechen mit dem Relativismus der Sophisten einverstanden. Die Sophisten wurden ja oft für ihre Gesinnungslosigkeit und die Fähigkeit, alles Beliebige zu beweisen, kritisiert).

    – Die Kultur der griechischen Antike basierte auf dem Prinzip des Wettkampfes. Dabei hatten nicht nur Sportler bei den Olympischen Spielen, sondern auch philosophische Konzepte über Dasein und Kosmos im Allgemeinen gewetteifert. Der Wettkampf der Ideen stand nie still. Alte Ideen wurden stets aus Sicht der neuen Ideen, die ein tatsächlich anderes Bild der Welt darstellten, kritisiert. Dabei wurde solche Kritik nicht als eine Bedrohung für den Grundpfeiler der Gesellschaftsordnung, sondern als ein absolut notwendiges Mittel der Entwicklung der Gesellschaft verstanden.

    – In der Antike stand Vernunft über Ethik, denn sie war selbst die Quelle der moralischen Gesetze Vernunft war also „höchster Richter für jeden einzelnen Menschen, der ihm dabei half, sein eigenes System der Werte und der Moralität zu erschaffen (Ich muss jetzt aber diejenigen, die beim Lesen dieser Zeilen aus Angst ihre Augen geschlossen haben, weil sie sich ein kriminelles Bacchanal auf den Straßen des alten Athens und Roms vorgestellt haben, enttäuschen: Zu diesen Gesellschaften gehörten auch ein hohes Ordnungsbewusstsein und eine niedrige Kriminalitätsrate.). Sokrates meinte, Moral gehöre zum Bereich der menschlichen Erfahrung und müsse rational untersucht werden. Nur Wissen gelte als Grund für die Wahl zwischen den unterschiedlichen Arten der Vergnügung oder zwischen der Vergnügung und dem Leiden. Dies bedeute, dass die Moral der Vernunft untergeordnet sei. Klug sein und moralisch sein ist dasselbe, denn die moralische Entscheidung stimmt mit dem rational begründeten Beschluss überein. Seneca vertrat eine noch radikalere Meinung zum Thema, denn er betont den Individualismus der Vernunft und kommt somit der anstehenden Diskussion der Christen und der Heiden zuvor. In den „Briefen über Ethik an Lucilius und „Vom glücklichen Leben schreibt er: „Nur die Vernunft kann über Leben, Tugend, Ehrlichkeit und damit auch über Gut und Böse entscheiden und „nur derjenige ist glücklich, der den Befehlen der Vernunft folgt."

    Seneca behauptet weiter: „Nur wenn wir unseren Herdentrieb niederringen, können wir uns in Sicherheit bringen."

    Demzufolge hat in der Antike die Vernunft gegen die Moral im wichtigsten Wettkampf um den ersten Platz im menschlichen Wertesystem gewonnen. Jede Moral braucht eine ganz normale Begründung und jede Begründung ist ein rationales Verfahren. Alles, vor allem die Moral, muss vor der Vernunft gerechtfertigt werden. Das freie Denken der griechischen und römischen Philosophen, welches durch nichts gefesselt wurde, förderte das Fortkommen der menschlichen Zivilisation. Da sie sich nur auf ihre Vernunft verließen, schafften sie es, die menschliche Intelligenz zu stärken und den Prozess des Überganges vom homo sapiens zum Homo superstitiosus (also vom Halbaffen zum erhabenen vernünftig denkenden Wesen) abzuschließen.

    Ich bin davon überzeugt, dass nach der Antike jedoch ein unaufhörlicher Verfall begann, der Jahrhunderte und sogar Jahrtausende andauerte. Dieser Verfall wurde erst in der Renaissance langsamer und hörte erst in der Epoche der Aufklärung und der liberalen Werte auf. Pythagoras sagte: „Wo es keine Zahl und kein rationales Maß gibt, dort herrschen Chaos und Chimären".

    Chimären sind auch für unser Wertesystem inakzeptabel. Wenn der Mensch von Chimären besessen wird, kehrt er zur primitiven Wildheit zurück und beginnt seine Vernunft zu unterdrücken. Man kann das besonders anschaulich und in vollem Umfang bei religiösen Chimären betrachten. Für die von den religiösen Chimären besessenen Menschen haben wir einen speziellen Begriff erfunden: religiosus.

    Dieses Kapitel versucht also die folgende Frage zu beantworten: Wie konnte aus einer wertschöpfenden und vernünftigen Person ein religiöser Mensch werden? Warum wurde der homo sapiens zum homo religiosus in meinem Sinne des Wortes?

    Die Regierung des Homo religiosus

    oder die kurze Geschichte

    der Verarmung der Vernunft

    Jahwe kennt die Gedanken der Menschen, denn sie sind ein bloßer Hauch.

    (Buch der Psalmen 93:11)

    Der Begriff Homo religiosus, also der religiöse Mensch, entstand gleichzeitig mit der Antike und fasste zuerst Fuß im Judentum. Seine volle Macht erhielt er jedoch erst im Christentum und im Islam.

    Auf den ersten Blick scheint die Idee des einen Gottes ziemlich progressiv, positiv und nützlich zu sein. Anstatt eines ganzen Pantheons, voll mit den sich stets untereinander streitenden und amoralisch-heidnischen Göttern, wurde den Gläubigen die Idee eines einzigen Gottes präsentiert, der eine abstrakte Ordnung und eine Einheit aller Seienden personifiziert. Dieser eine Gott repräsentiert die absolute Moral und das Gesetz, welche beide die Menschheit um gemeinsamer irdischer Werte und um fröhlicher Zukunft (nach dem Tod) willen vereinigen können. Geht man nun tiefer, so stellt sich heraus, dass die Situation keineswegs so problemlos ist, wie sie erscheint. Zu meinem großen Bedauern erzielt die überwiegende Mehrheit der progressiven, positiven und nützlichen Ideen schlechte Ergebnisse: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Die vornehme und erhabene Idee des einen Gottes hatte nicht den erwarteten Aufschwung der Vernunft zur Folge, sondern deren Verdrängung. Das hat eine ganz klare Ursache, denn die alleinige Annahme der übermenschlichen Herkunft der Offenbarung macht den Glauben an den einen Gott und die menschliche Vernunft völlig unvereinbar.

    Um dies besser zu verstehen, sollten wir das Verhältnis von Vernunft und Glaube in der Epoche des Monotheismus betrachten. Im Abschnitt „Vernunft in der Antike habe ich die folgende Frage formuliert: „Was hat letztendlich die antike Vernunft zum Vorbild für alle kommenden Zeiten gemacht? Jetzt formuliere ich eine weitere Frage: „Wie ist es dazu gekommen, dass in der Epoche des Monotheismus die Vernunft ihren exponierten Status verloren hat?"

    – Die griechische Zivilisation hat den Übergang vom irrationalen mythologischen Denken zum rationalen Denken vollzogen. Die Philosophie der griechischen Antike wurde jedoch durch ein streng universales Gesetz in Schriftform ersetzt. Der irrationale Wille Gottes wurde zur Ursache alles Seienden; das kennzeichnete einen radikalen Unterschied des Monotheismus zur alten mythologischen Denkweise, welche Entscheidungen mit Rücksicht auf die menschliche Natur und individuelle Wünsche der Person traf. Die Postulate des Glaubens sind übervernünftig, weswegen man die Gesetze des rationalen Denkens auf den Glauben nicht anwenden kann. Das Irrationale steht über dem Rationalen, und das Religiöse und das Geistliche stehen über dem Weltlichen und dem Stofflichen. Der Glaube steht über der Vernunft und wollte prinzipiell keine seiner Grundsätze beweisen. Er stützt sich ausschließlich auf die Autorität der Tradition und das Wunder.

    Für die fortgeschrittene antike Vernunft war es schwierig, mit der Offenbarung und der Tradition zurechtzukommen. Nachdem sie jahrhundertelang mit dem strengen und anspruchsvollen Logos zusammengelebt hatte, war sie nicht imstande, die Existenz der übernatürlichen Ereignisse, die der logischen gewöhnlichen Weltordnung völlig widersprachen, anzunehmen. Im Endeffekt wurde die antike Vernunft schwer krank und verlor ziemlich schnell ihre Stärke. Keiner heilte sie, denn die menschliche Vernunft war für die Epoche des Monotheismus, welche die Antike abgelöst hat, nicht besonders viel wert. Die Vernunft wurde auch durch die Tatsache geschwächt, dass zu den monotheistischen Religionen die leibliche Askese gehört. Ohne die antike Harmonie des Leiblichen und des Seelischen kann kein Mensch normal denken. Knechtet man den Körper, so knechtet man damit auch die Gedanken.

    – Die eindeutigen Erfolge der antiken Vernunft sind durch ihre absolute Freiheit zu erklären. In der Antike konnte die Vernunft ihr Objekt der Untersuchung frei wählen, wurde intellektuell nicht unterdrückt.

    Die Entstehung des Glaubens an den einen Gott und an die Offenbarung hatte automatisch den Verlust der Denkfreiheit zur Folge. Je stärker eine Religion ist, desto seltener erlaubt sie individuelles Denken. Selbst der Glaube hat einen streng vorgegebenen Rahmen: Das einzige Zentrum und die alleinige Quelle der Macht ist Gott; es gibt nur eine unveränderbare Heilige Schrift und nur eine einzige Weltanschauung. Der Mensch war nicht mehr der Richter der Welt und die Quelle der Vernunft. Damals wurde Gott zum einzigen Zentrum der Welt, zur universalen Quelle der Vernunft und zur anerkannten Autorität. Deshalb war die Bestrebung der Religion, die antike Tradition der Denkfreiheit zu schwächen, eine logische Konsequenz. Die Verdrängung der Vernunft erschien absolut natürlich – die Annahme der Postulate einer anderen Vernunft verursacht immer die Abschwächung der eigenen.

    Jedoch ist es nicht möglich, die Vernunft völlig zu entschärfen. Die einzige Möglichkeit, die der Religion übrigblieb, war die Beschränkung des Geltungsbereiches der Vernunft. Wie, wenn der Jäger bei der Wolfsjagd eine Schnur mit roten Fähnchen spannt, so wurde das Leben der Vernunft auf ähnliche Weise ungemütlich. Vernunft durfte legal nur zum Zweck des Dienstes an Gott und zum Zweck eines „spirituellen Zustands" benutzt werden. Die Höchststufe der intellektuellen Entwicklung bestand in der tiefen Untersuchung des gründlichen Verstehens und der aufmerksamen Auslegung der Wahrheiten der Offenbarung.

    – In der Antike benutzte die Vernunft erhaltenes Wissen für die Verbesserung der Lebensqualität und für die Hervorbringung neuer Werte. Die Vernunft orientierte sich also auf die reale Welt, sie neigte zur selbständigen Erkenntnis, sie forderte für alles Beweise und lehnte mystische Erfahrungen, dunkle Traditionen und Wunder ab.

    Religion orientiert sich – im Gegensatz zur Vernunft – nicht an der realen Welt, sondern an jener Blindgläubigkeit, die von der Heiligen Schrift diktiert wird. Für einen solchen Glauben reicht

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