Alle Liebe für ein fremdes Kind: Mami 2036 – Familienroman
Von Lisa Simon
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Über dieses E-Book
Mit einem zärtlichen Lächeln blickte Rudolf Wagner seinem Enkel Tobias nach, wie er davoneilte, um den Mann mit dem Eiswagen an der Straße noch zu erwischen. Der sechsjährige Tobi hatte viel von seiner Mutter Geli geerbt, das feine blonde Haar, die helle Haut und die strahlend blauen Augen. Auch jetzt noch, über ein Jahr nach Gelis schrecklichem Unfall, trauerte Rudolf um seine einzige Tochter. Natürlich linderte der kleine Tobi mit seiner Anwesenheit den Schmerz, und Rudolf war dankbar, daß das Jugendamt bisher keine Einwände dagegen hatte, daß der Junge bei ihm aufwuchs. Immerhin war Rudolf fast siebzig Jahre alt. »Opa!« rief der Kleine wenig später aufgeregt und zeigte Rudolf seine Eistüte. »Der Mann hat mir eine Kugel extra gegeben, weil ich ihn so nett begrüßt habe.« Rudolf lachte. »Na, da hast du ihm aber bestimmt geschmeichelt.« »Nö, ich habe nur noch gesagt, daß sein Eis das beste in der ganzen Stadt ist.« Sein Großvater wandte sich schmunzelnd ab. Ja, Tobi brachte es immer wieder fertig, die Leute um den kleinen Finger zu wickeln, wenn er etwas haben wollte – er selbst mußte es schließlich am besten wissen, denn es verging kaum ein Tag, an dem Tobi nicht irgendeine Bitte erfüllt haben wollte. Es handelte sich stets nur um Kleinigkeiten, aber Rudolf wußte genau, daß es gar nicht so gut war, wenn der Junge immer seinen Willen bekam. »Hoffentlich hast du noch Appetit aufs Abendbrot«, sagte Rudolf und setzte Teewasser auf. Bei schönem Wetter, wie an diesem Tage, nahmen Opa und Enkel die Mahlzeiten meistens auf dem kleinen Balkon der Dreizimmerwohnung ein. Hilde, Rudolfs verstorbene Frau, die zum Glück Gelis Tod nicht mehr erleben mußte, hatte die Balkonkästen immer liebevoll mit violetten Petunien oder leuchtendroten Geranien bepflanzt. Diese Mühe machte sich Rudolf nicht; er kaufte im Frühjahr ein Tütchen Wiesenblumen-Samen und verteilte sie in die Kästen. Hilde hätte vermutlich entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, aber Rudolf und Tobi gefiel die kunterbunte Unordnung.
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Buchvorschau
Alle Liebe für ein fremdes Kind - Lisa Simon
Mami
– 2036 –
Alle Liebe für ein fremdes Kind
Warum hatte sich Martin nicht zu seinem Sohn bekannt?
Lisa Simon
Mit einem zärtlichen Lächeln blickte Rudolf Wagner seinem Enkel Tobias nach, wie er davoneilte, um den Mann mit dem Eiswagen an der Straße noch zu erwischen.
Der sechsjährige Tobi hatte viel von seiner Mutter Geli geerbt, das feine blonde Haar, die helle Haut und die strahlend blauen Augen. Auch jetzt noch, über ein Jahr nach Gelis schrecklichem Unfall, trauerte Rudolf um seine einzige Tochter.
Natürlich linderte der kleine Tobi mit seiner Anwesenheit den Schmerz, und Rudolf war dankbar, daß das Jugendamt bisher keine Einwände dagegen hatte, daß der Junge bei ihm aufwuchs. Immerhin war Rudolf fast siebzig Jahre alt.
»Opa!« rief der Kleine wenig später aufgeregt und zeigte Rudolf seine Eistüte. »Der Mann hat mir eine Kugel extra gegeben, weil ich ihn so nett begrüßt habe.«
Rudolf lachte. »Na, da hast du ihm aber bestimmt geschmeichelt.«
»Nö, ich habe nur noch gesagt, daß sein Eis das beste in der ganzen Stadt ist.«
Sein Großvater wandte sich schmunzelnd ab. Ja, Tobi brachte es immer wieder fertig, die Leute um den kleinen Finger zu wickeln, wenn er etwas haben wollte – er selbst mußte es schließlich am besten wissen, denn es verging kaum ein Tag, an dem Tobi nicht irgendeine Bitte erfüllt haben wollte. Es handelte sich stets nur um Kleinigkeiten, aber Rudolf wußte genau, daß es gar nicht so gut war, wenn der Junge immer seinen Willen bekam.
»Hoffentlich hast du noch Appetit aufs Abendbrot«, sagte Rudolf und setzte Teewasser auf. Bei schönem Wetter, wie an diesem Tage, nahmen Opa und Enkel die Mahlzeiten meistens auf dem kleinen Balkon der Dreizimmerwohnung ein. Hilde, Rudolfs verstorbene Frau, die zum Glück Gelis Tod nicht mehr erleben mußte, hatte die Balkonkästen immer liebevoll mit violetten Petunien oder leuchtendroten Geranien bepflanzt. Diese Mühe machte sich Rudolf nicht; er kaufte im Frühjahr ein Tütchen Wiesenblumen-Samen und verteilte sie in die Kästen. Hilde hätte vermutlich entsetzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, aber Rudolf und Tobi gefiel die kunterbunte Unordnung.
»Opa?« Tobi hatte sein Eis aufgeschleckt und biß nun genüßlich in die Waffel. »Kommt morgen wieder diese schreckliche Tante vom Jugendamt?«
Rudolf seufzte. »Ich finde Frau Sachs auch nicht besonders sympathisch – aber ich zeige es ihr wenigstens nicht. Wir müssen immer sehr nett zu ihr sein, weißt du? Sie hat nämlich mit entschieden, daß du bei mir aufwachsen darfst – und wenn du frech zu ihr bist, kann sie ebenso schnell bestimmen, daß du woanders hinkommst. Hast du mich verstanden?«
Tobi nickte ernst. Er wollte natürlich unter keinen Umständen riskieren, daß Frau Sachs ihn fortbrachte, und würde alle Fragen brav beantworten, auch wenn sie ihm noch so albern erschienen.
»So, jetzt gehst du dir die Hände waschen, und dann kannst du schon mal den Tisch auf dem Balkon decken«, sagte Rudolf und nahm den Wasserkessel von der Herdplatte. Er war immer froh, wenn Frau Sachs wieder weg war. Einmal im Monat machte sie ihren Besuch im Hause Wagner, um nach dem Rechten zu sehen. Rudolf wußte allerdings genau, daß die Beamtin mit Argusaugen darauf achtete, wie sauber Tobis Kleidung war, ob seine Fingernägel geschnitten und die Wohnung aufgeräumt war.
Er hatte nach Gelis Tod lange kämpfen müssen, bis man ihn als Vormund für seinen Enkel anerkannt hatte. Geli hatte nie verraten, wer Tobias Vater war, hatte ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Und so war Rudolf der einzige lebende Verwandte des Jungen – dagegen konnte noch nicht einmal das Jugendamt argumentieren.
*
»Da, das schenk’ ich dir.« Stolz überreichte Tobi seinem Großvater das Bild, das er im Kindergarten gemalt hatte. Wie jeden Mittag holte Rudolf den Kleinen von der Tagesstätte ab, die nur einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt lag.
Er strich Tobi liebevoll durch das blonde Haar. »Das hast du sehr schön gemalt. Dies hier ist ein Engel, nicht wahr? Weihnachten ist doch erst in einem halben Jahr.«
»Aber Opa!« Tobi kicherte. »Das ist doch kein Weihnachtsengel, sondern Mama, kannst du es denn nicht erkennen? Sie sitzt auf einer Wolke und sieht auf die Erde herunter. Und da unten stehen wir beide.«
»Tatsächlich.« Rudolf beugte seinen Kopf dicht über das Papier, er wollte seine Rührung nicht offen vor dem Jungen zeigen. Seine Mutter würde Tobi niemals vergessen – selbst wenn er nicht mehr jeden Samstag mit seinem Großvater zum Friedhof gehen würde, um das Grab zu pflegen.
Auf dem kurzen Heimweg plapperte Tobi munter vor sich hin, erzählte lachend, daß eines der Kinder mit dem Gesicht in den Sandkasten gefallen war und ein anderes sich versehentlich im Waschraum eingesperrt hatte.
Rudolf hörte nur mit halbem Ohr hin – nicht, weil ihn die lustigen Begebenheiten im Kindergarten nicht interessierten, sondern weil er mit seinen Gedanken bereits bei Frau Sachs war, die am frühen Nachmittag ihren Besuch angekündigt hatte.
Ein ungeduldiges Zupfen an seinem Hemdsärmel ließ Rudolf erschrocken herabsehen.
»Opa, du hörst mir ja gar nicht zu!« beschwerte sich Tobi laut-stark. »Findest du es denn nicht witzig, daß Marcel sich eingeschlossen hat und ihn der Hausmeister befreien mußte?«
»Doch, doch«, beeilte sich Rudolf zu sagen. »Ich finde die Geschichte sehr lustig, aber ich überlege, was wir noch zum Mittagessen brauchen.«
Auf halbem Weg zur Wohnung lag ein Supermarkt, in dem Rudolf meistens einkaufte, wenn er Tobi abgeholt hatte. An diesem Vormittag entschieden sie sich kurzfristig für Milchreis mit Zucker und Zimt, weil das schnell-ging und gut schmeckte.
Rudolf Wagner war kein begnadeter Koch. Früher hatte Hilde in der Küche das Zepter geschwungen, und nach ihrem Tod hatte er sich zumeist von Fertiggerichten ernährt. Das hatte sich allerdings schlagartig geändert, nachdem Tobi zu ihm gezogen war. Inzwischen konnte er für sich und seinen Enkel eine Vielzahl einfacher Gerichte zubereiten, er wusch Wäsche und hatte sogar gelernt, die Kleidung des Jungen zu bügeln und zu flicken.
Immer wieder redete er sich ein, daß Frau Sachs eigentlich keinen Grund zur Beanstandung haben konnte, und doch ließ ihn das Gefühl nicht los, daß die Tage mit seinem Enkel gezählt waren.
Frau Sachs kam überpünktlich um zehn vor zwei. Tobi saß mit sauberen Fingernägeln und brav gescheiteltem Haar auf der Couch im Wohnzimmer und lächelte der Beamtin unsicher entgegen.
»Nun?« Frau Sachs reichte dem Jungen die Hand. »Wie geht es dir? Dein Großvater erzählte mir, du hast heute ein feines Bild im Kindergarten gemalt. Darf ich es mal sehen?«
Zögernd nickte Tobi, rutschte dann von der Couch und brachte der Frau das Gemälde. »Warum ist Opa immer in der Küche, wenn Sie hier sind?«
Frau Sachs schmunzelte. »Ganz einfach, ich möchte mich mit dir alleine unterhalten. Oh, das ist aber wirklich ein sehr hübsches Bild. Dieser Engel da…«
»… ist meine Mama. Sie paßt auf mich und Opa auf«, ergänzte der Kleine ernst.
»Natürlich.« Langsam legte Frau Sachs das Bild beiseite. »Du vermißt deine Mama sehr, nicht wahr?«
Tobis Blick war skeptisch, als er zaghaft erwiderte: »Schon, aber bei