Corinna und ihr Findling: Sophienlust Extra 114 – Familienroman
Von Gert Rothberg
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Über dieses E-Book
In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg.
Wer an dem großen Landhaus am Stadtrand von Crailsheim vorbeiging, der war überzeugt, dass darin eine glückliche Familie wohne. So war es aber nicht. Der vierzigjährige Fabrikant Richard Bosch hatte vor vier Jahren seine Frau verloren. Seitdem war es in diesem Haus still geworden – es sei denn, dass die Erzieherin laut wurde, weil sie mit der sechsjährigen Corinna nicht zurechtkam. Das mit Liebe nicht verwöhnte Kind war aufsässig. Niemand verstand, dass es sich damit das erzwingen wollte, was man ihm vorenthielt. Die kleine Corinna gehörte zu jenen Kindern wohlhabender Eltern, die aus Zeitmangel und Verständnislosigkeit vernachlässigt wurden. Die meiste Zeit war sie auf fremde Hilfe angewiesen. Das Personal und besonders die Erzieherinnen wechselten oft, obwohl Richard Bosch gute Gehälter zahlte. Corinnas Vater war den ganzen Tag in seinem Werk. Oft versprach er seinem Töchterchen, früher nach Hause zu kommen, aber ein solches Versprechen konnte er nur selten halten. Nicht weit von dem Landhaus entfernt stand ein großer alter Bau, das Waisenhaus der Stadt. Dorthin schlich sich Corinna oft. Seit über einem Jahr war sie mit dem neunjährigen Detlef Werner befreundet. Der Junge war Vollwaise und konnte sich nicht erinnern, jemals in einer Familie gelebt zu haben. Das Waisenhaus war sein Zuhause. Corinna fand nicht, dass ihr Freund Detlef ärmer sei als sie. Er hatte wenigstens Spielgefährten und brauchte nicht allein zu sein. Zu Beginn der Freundschaft der beiden hatte Detlef die kleine Corinna beneidet. Für ihn war es wie ein Märchen, dass sie ein eigenes Zimmer hatte, viele Spielsachen besaß und wenigstens einen Vater hatte.
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Buchvorschau
Corinna und ihr Findling - Gert Rothberg
Sophienlust Extra
– 114 –
Corinna und ihr Findling
Unveröffentlichter Roman
Gert Rothberg
Wer an dem großen Landhaus am Stadtrand von Crailsheim vorbeiging, der war überzeugt, dass darin eine glückliche Familie wohne.
So war es aber nicht. Der vierzigjährige Fabrikant Richard Bosch hatte vor vier Jahren seine Frau verloren. Seitdem war es in diesem Haus still geworden – es sei denn, dass die Erzieherin laut wurde, weil sie mit der sechsjährigen Corinna nicht zurechtkam. Das mit Liebe nicht verwöhnte Kind war aufsässig. Niemand verstand, dass es sich damit das erzwingen wollte, was man ihm vorenthielt.
Die kleine Corinna gehörte zu jenen Kindern wohlhabender Eltern, die aus Zeitmangel und Verständnislosigkeit vernachlässigt wurden. Die meiste Zeit war sie auf fremde Hilfe angewiesen. Das Personal und besonders die Erzieherinnen wechselten oft, obwohl Richard Bosch gute Gehälter zahlte.
Corinnas Vater war den ganzen Tag in seinem Werk. Oft versprach er seinem Töchterchen, früher nach Hause zu kommen, aber ein solches Versprechen konnte er nur selten halten.
Nicht weit von dem Landhaus entfernt stand ein großer alter Bau, das Waisenhaus der Stadt. Dorthin schlich sich Corinna oft. Seit über einem Jahr war sie mit dem neunjährigen Detlef Werner befreundet. Der Junge war Vollwaise und konnte sich nicht erinnern, jemals in einer Familie gelebt zu haben. Das Waisenhaus war sein Zuhause.
Corinna fand nicht, dass ihr Freund Detlef ärmer sei als sie. Er hatte wenigstens Spielgefährten und brauchte nicht allein zu sein.
Zu Beginn der Freundschaft der beiden hatte Detlef die kleine Corinna beneidet. Für ihn war es wie ein Märchen, dass sie ein eigenes Zimmer hatte, viele Spielsachen besaß und wenigstens einen Vater hatte. Bald aber hatte er gemerkt, dass Corinna nicht zu beneiden war. Mit seinen neun Jahren hatte Detlef schon erkannt, wie vereinsamt sie war. Er wusste, was es für sie bedeutete, wenn er von der Leitung des Waisenhauses die Erlaubnis bekam, sie zu besuchen. Bei diesen Besuchen hatte er allerdings von Corinnas jeweiligen Erzieherinnen meistens Demütigungen einstecken müssen. Sie hatten ihn stets von oben herab behandelt und ihn spüren lassen, dass er als Waisenjunge nicht in das vornehme Haus des Fabrikanten Bosch passte. Meistens hatte sich Detlef für diese Behandlung gerächt, indem er Corinnas Komplice geworden war, wenn sie wieder einmal eine Erzieherin hatte hinausekeln wollen.
Auch jetzt war es wieder so weit. Die achtunddreißigjährige Erzieherin Alice Schöner hatte bis jetzt nur eines im Sinn gehabt, Frau Bosch zu werden. Um Corinna kümmerte sie sich kaum. Wichtiger war ihr, am Abend, wenn Richard Bosch nach Hause kam, besonders herausgeputzt zu sein. Sie sorgte stets dafür, dass Corinna dann schon im Bett war, sodass diese ihren Vati kaum noch sah. Am Morgen frühstückte er allein und fuhr dann gleich zum Werk.
Das alles klagte Corinna ihrem Freund Detlef.
Der blonde sommersprossige und etwas untersetzte Junge war der Typ eines guten Kumpels. Er konnte Corinna nicht leiden sehen und schmiedete mit ihr schon Pläne, wie Alice Schöner zu vertreiben sei. Alle Praktiken, mit denen die Kinder bisher gute Erfahrungen gemacht hatten, waren bei dieser Erzieherin fehlgeschlagen. Sie schien bessere Nerven zu haben als ihre Vorgängerinnen.
Detlef ahnte, weshalb Alice Schöner ein solches Ausharrungsvermögen besaß. Er hatte gelegentlich spitze Reden des Personals aufgefangen, dass es der Erzieherin wohl doch glücken würde, Richard Bosch für sich zu gewinnen.
Als er Corinna das nun sagte, sah sie ihn entsetzt an. »Frau Schöner soll meine Mutti werden? Die mag ich nicht.«
»Ich möchte sie auch nicht als Mutti haben, Corinna. Ich sage dir, wenn dein Vati Frau Schöner heiratet, dann wird es dir erst richtig schlecht gehen.«
»Fällt dir denn nichts ein, womit wir sie vertreiben können, Detlef?« Corinna sah ihren Freund hilfeflehend an. Dass er einmal keinen Rat wusste, das kannte sie nicht.
Es ging gegen seinen Stolz, dass ihm diesmal keine gute Idee kam. Deshalb vertröstete er Corinna, mit der er sich an der Hecke des Waisenhauses getroffen hatte. »Lass mich nur nachdenken«, bat er. »Über Nacht wird mir schon etwas einfallen. Morgen nach der Schule komme ich zu dir.«
»Aber Frau Schöner hat doch verboten, dass du mich besuchst.«
»Diese Gewitterziege«, erwiderte Detlef ingrimmig. »Geh nach dem Mittagessen in den Park. Ich komme zu der Trauerweide. Dort können wir uns in den Sträuchern verstecken und beraten.«
Damit war Corinna einverstanden. Vorsichtshalber fragte sie jedoch noch: »Wird dir bestimmt bis morgen etwas einfallen?«
»Ganz bestimmt«, versprach Detlef.
Corinna lief in den Park zurück. Sie hatte sich heimlich fortgeschlichen und wollte jetzt von ihrer Erzieherin nicht erwischt werden.
Doch kaum war sie durch eine Lücke in der Hecke geschlüpft, hörte sie die schrille Stimme von Alice Schöner. »Corinna! So antworte doch! Komm sofort ins Haus!«
Die Kleine strich sich das etwas wirre braune Haar aus der Stirn. In ihren dunklen Augen stand die Schadenfreude darüber, dass die Erzieherin vielleicht schon längere Zeit nach ihr rief. Corinna hatte nicht vor, sich jetzt zu melden.
Da rief Alice Schöner von Neuem. Sie musste auf der Terrasse stehen.
Plötzlich horchte Corinna auf. Was hatte Frau Schöner eben von ihrem Vater gesagt? War er heute vielleicht doch einmal früher nach Hause gekommen?
Diese Aussicht verlockte Corinna dazu, gegen ihren Vorsatz doch auf das Haus zuzugehen.
Ja, die Erzieherin stand auf der Terrasse. Jetzt rief sie: »Endlich! Wo treibst du dich nur herum? Komm sofort ins Haus. Ich muss zum Krankenhaus fahren. Dein Vater ist schwer verunglückt.«
Corinna blieb stehen. Sie wurde blass und begann zu zittern. Obwohl sie gewöhnt war, dass man sehr rücksichtslos mit ihr umging, war sie jetzt vor Schreck wie erstarrt. Sie liebte ihren Vater, auch wenn er so wenig Zeit für sie hatte.
Das etwas fahle Gesicht der Erzieherin war gerötet. »Was trödelst du denn?«, rief sie vorwurfsvoll.
Plötzlich begann Corinna zu laufen, bis sie auf der Terrasse war. »Was ist meinem Vati passiert?«, fragte sie mit hoher Stimme. Um ihren Mund zuckte es, als wolle sie gleich in Tränen ausbrechen.
»Was weiß ich? Meinst du, das sagt man mir am Telefon?« Alice Schöner lief schon in das Terrassenzimmer. »Sicher ist es sehr schlimm. Das Auto soll nicht mehr zu gebrauchen sein. Der schöne Wagen! Dein Vater hat ihn erst vor vierzehn Tagen gekauft.«
Corinna hielt die Erzieherin am Arm fest. »Muss mein Vati sterben?«, fragte sie. Jetzt liefen die Tränen über ihr Gesicht.
»Stell dich nicht so an.« Alice Schöner schüttelte Corinnas Hand ab. »Geh in dein Zimmer, und bleibe dort, bis ich zurückkomme. Ich habe ein Taxi bestellt.«
»Ich will mit zu meinem Vati fahren.« Das war nicht Corinnas Eigensinn, wie er so oft zu hören war, sondern ein einziges Bitten.
Alice Schöner schob das Mädchen auf den Flur. »Unsinn! Du wirst im Krankenhaus nicht gebraucht.«
Corinna blieb stehen. Nun stieg in ihren Augen Trotz auf. »Sie auch nicht. Sie überhaupt nicht«, sagte sie mit böser Stimme. »Mein Vati braucht Sie überhaupt nicht. Auch dann nicht, wenn er sehr krank ist. Bestimmt will er nicht, dass Sie zu ihm kommen, aber auf mich wird er warten.«
Alice Schöner atmete schwer. Es war ihr anzumerken, dass sie am liebsten zugeschlagen hätte. Nur die Erinnerung daran, dass Richard Bosch ihr das verboten hatte, hielt sie davon ab. »Diese Frechheiten werde ich dir noch austreiben. Glaube nur nicht, dass ich mir das ein zweites Mal bieten lasse. Los, geh in dein Zimmer.« Sie stieß Corinna weiter und trieb sie so die Treppe hinauf, bis sie in ihrem Zimmer war. Dort schloss sie das Kind ein.
Corinna stand am Fenster, als das Taxi kam und Alice Schöner wegfuhr. Wieder einmal war die Kinderseele zutiefst verletzt worden. Es war für die Kleine unbegreiflich, dass eine fremde Frau zu ihrem verunglückten Vater fahren durfte, während sie wie ein lästiges Möbelstück beiseitegeschoben wurde. Sie hatte nur den einen Wunsch, zu Detlef zu dürfen. Er würde sicher dafür sorgen, dass sie ebenfalls zu ihrem Vater fahren durfte.
Detlef war für die kleine Corinna der Retter aus der Not. Sie traute ihm wesentlich mehr zu, als er bewältigen konnte. Schon begann sie mit dem Gedanken zu spielen, den Weg in die Freiheit durch