Der gute Freund: Sophienlust Extra 10 – Familienroman
Von Gert Rothberg
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Über dieses E-Book
In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg.
»Hallo, Anette, hallo, so warte doch!« Es war eine Jungenstimme, die das laut über den Hof des Gutes Dreilinden rief. Das Mädchen am Tor blieb stehen und sah zurück. Nun blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als auf den kleinen Bruder zu warten. Er kam wie die wilde Jagd über das Kopfsteinpflaster des Hofes geprescht. Hinter ihm Rolli, der mexikanische Zwergterrier. »Pass auf, dass du nicht stürzt, Friedo«, rief Anette. »Ach wo!« Der sechsjährige Friedo blieb vor seiner Schwester stehen und blies die Luft aus. Seine grauen Augen sahen sie vorwurfsvoll an. »Warum wolltest du Rolli und mich nicht mitnehmen, Anette? Du hattest mir doch versprochen, dass ich heute mit dir an den See zum Baden gehen darf.« Die zwanzigjährige Anette strich sich das braune Haar aus der Stirn. Ihre blauen Augen sahen den kleinen Bruder etwas verlegen an. »Ich gehe ja gar nicht zum Baden, Friedo. Ich will nur einen kleinen Spaziergang machen.« »Da kannst du uns auch mitnehmen.« Friedos Stimme klang trotzig. »Du bist den ganzen Tag nicht zu Hause, und wenn du endlich aus der dummen Fabrik heimkommst, kümmerst du dich nicht um mich.
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Buchvorschau
Der gute Freund - Gert Rothberg
Sophienlust Extra
– 10 –
Der gute Freund
Ein Verbrecher bedroht ihre heile Welt …
Gert Rothberg
»Hallo, Anette, hallo, so warte doch!« Es war eine Jungenstimme, die das laut über den Hof des Gutes Dreilinden rief.
Das Mädchen am Tor blieb stehen und sah zurück. Nun blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als auf den kleinen Bruder zu warten. Er kam wie die wilde Jagd über das Kopfsteinpflaster des Hofes geprescht. Hinter ihm Rolli, der mexikanische Zwergterrier.
»Pass auf, dass du nicht stürzt, Friedo«, rief Anette.
»Ach wo!« Der sechsjährige Friedo blieb vor seiner Schwester stehen und blies die Luft aus. Seine grauen Augen sahen sie vorwurfsvoll an. »Warum wolltest du Rolli und mich nicht mitnehmen, Anette? Du hattest mir doch versprochen, dass ich heute mit dir an den See zum Baden gehen darf.«
Die zwanzigjährige Anette strich sich das braune Haar aus der Stirn. Ihre blauen Augen sahen den kleinen Bruder etwas verlegen an. »Ich gehe ja gar nicht zum Baden, Friedo. Ich will nur einen kleinen Spaziergang machen.«
»Da kannst du uns auch mitnehmen.« Friedos Stimme klang trotzig. »Du bist den ganzen Tag nicht zu Hause, und wenn du endlich aus der dummen Fabrik heimkommst, kümmerst du dich nicht um mich. Es kümmert sich überhaupt niemand mehr um mich. Mutti hat auch nie Zeit.«
Anette legte den Arm um Friedos Schultern und lachte. Doch es sah ein wenig gequält aus. »Komm schon. Und von wegen dummer Fabrik. Ich muss dort ernsthaft arbeiten. Das kannst du dir wohl nicht vorstellen?«
Friedo schürzte die Lippen. »Deine Schuld, dass du in der Fabrik arbeiten musst. Du hättest ja bei uns auf Dreilinden bleiben können. Das hat Vati auch immer gesagt. Aber du wolltest che-misch-pharma-pharma …«
Anette lachte. »Chemisch-pharmazeutische Assistentin heißt das, Friedo. Du wirst es dir wohl nie merken. Ja, das wollte ich werden, weil es mir Spaß macht, Friedo. Warum soll ich keinen Beruf haben? Dreilinden wirst doch du einmal übernehmen.«
»Aber du wirst heiraten. Das sagen alle auf dem Gut, Anette.«
»Das ist möglich, Friedo. Aber bis dahin kann noch viel Zeit vergehen.« Gedankenverloren sah Anette zum Waldrand hin, auf den sie jetzt zugingen. Friedo hatte recht. Sie hätte keinen Beruf ergreifen müssen, denn auf Dreilinden gab es Arbeit genug. Aber die Eltern waren mit ihr darin einig gewesen, dass ein Mädchen heutzutage ebenfalls etwas lernen sollte, um notfalls auch auf eigenen Beinen stehen zu können. Besonders der Vater war dieser Ansicht gewesen. Er hatte sehr nüchtern gedacht. Als der Nachkömmling Friedo zur Welt gekommen war, hatte Gero von Linden zu Anette gesagt, dass der Junge eines Tages Dreilinden übernehmen solle. Doch der Vater hatte damals nicht geahnt, dass er nur kurze Zeit haben würde, seinen Sohn darauf vorbereiten zu können, einmal der Herr von Dreilinden zu sein.
Gero von Linden war vor zwei Jahren gestorben. Seitdem bewirtschaftete seine Frau, die Mutter von Anette und Friedo, das Gut.
In Anettes Gedanken hinein sagte Friedo: »Mutti wird sicher noch vor dir heiraten, Anette.«
Das Mädchen schrak zusammen. Es blieb stehen und sah den Bruder mit großen Augen an.
Der Junge zuckte die Schultern. Auf seinem Gesicht lag ein resignierter Ausdruck, der gar nicht zu seinen sechs Jahren passen wollte. »Heute war Herr Bartholdy wieder bei uns. Mutti hat danach gesagt, dass sie ihn bald heiraten werde.«
»Ich wusste es schon, Friedo«, sagte Anette leise. Unwillkürlich legte sie ihren Arm noch fester um die Schultern des kleinen Bruders.
Er sah zu ihr auf. »Aber Herr Bartholdy passt doch gar nicht zu uns, Anette. Ich mag ihn auch nicht.«
»Aber Mutti mag ihn, Friedo. Und nur das ist wichtig. Simon Bartholdy ist zwar kein Bauer, aber er kann ja alles lernen, was er auf einem Gut können muss. Du weißt auch, wie tüchtig Mutti ist. Wir sollten es ihr nicht so schwer machen. Wir haben sie doch sehr lieb, Friedo.«
Der Junge nickte. »Ja, sehr, Anette.« Er bückte sich und streichelte Rolli. »Aber Herr Bartholdy hat Rolli getreten. Ich habe es gesehen. Er mag Tiere vielleicht nicht. Doch Hanna sagt, wer Tiere nicht mag, ist kein guter Mensch.« Anette zog den Bruder hoch. Sie strich ihm über das kurz geschnittene braune Haar.
»Unsere alte Hanna ist zwar eine gescheite Frau, Friedo, aber alles solltest du auch nicht so ernst nehmen, was sie sagt. Manchmal ist sie schon ein wenig wunderlich. Vielleicht hat Herr Bartholdy Rolli nur aus Versehen getreten.«
Jetzt zog glühende Röte über Friedos Gesicht. Seine Augen blitzten. »Ich habe es doch gesehen! Er hat ihn mit Absicht getreten. Dabei ist Rolli ein so lieber Kerl. Er tut keinem etwas.«
»Das stimmt.« Anette lockte den Hund zu sich, hob einen Stein auf und warf ihn ein Stück ins Feld. Schon raste Rolli los, um den Stein zurückzuholen. Er rollte wirklich mehr, als dass er lief. Seine rotbraunen Ohren klatschten gegen das weiße Fell, die etwas vorstehenden schwarzen Augen kullerten vor Vergnügen.
Mit diesem Spiel schaffte es Anette, den kleinen Bruder von seinen Gedanken um die Mutter und deren geplante neue Ehe abzulenken.
Erst am Abend wurde Anette wieder daran erinnert, als Friedo schon im Bett lag und sie mit der Mutter in dem großen gemütlichen Wohnzimmer saß.
Immer wieder sah Anette verstohlen zu der Mutter, die mit ihren zweiundvierzig Jahren noch eine sehr schöne Frau war. Braunes volles Haar, zu einer Krone auf dem Kopf getürmt, stand in wunderbarem Kontrast zu den tiefblauen Augen. Dorothea von Linden war klein, beinahe zierlich. Wer sie nicht kannte, hätte sie niemals für die Herrin eines so großen Gutes gehalten, wie Dreilinden es war. Brauchte sie vielleicht einen männlichen Beschützer? War sie der Rolle nicht gewachsen, in die der Tod ihres Mannes sie gezwängt hatte? Gab sie sich vielleicht nur gelassen, während die Last der Verantwortung sie zu erdrücken drohte?
Diese Fragen bestürmten Anette an diesem Tag nicht zum ersten Mal. Sie war zwanzig Jahre alt und konnte nicht mehr so kindlich denken wie der kleine Friedo. Sie hatte der Mutter auch angeboten, ihren Beruf nun aufzugeben und zusammen mit ihr auf Dreilinden zu schaffen, ihr zur Seite zu stehen. Doch noch bevor eine Entscheidung getroffen worden war, war Simon Bartholdy in das Leben der Mutter getreten. Durch einen Zufall. Gut Dreilinden lag mitten im schönsten Teil des Allgäus. In der Nähe war eine Siedlung von Ferienhäusern entstanden. In einem dieser Ferienhäuser hatte der Kaufmann Simon Bartholdy seinen Urlaub verbracht. Das war vor mehreren Monaten gewesen. Seitdem war er sehr oft zu Besuch gekommen. Er lebte in Mannheim.
Dorothea von Linden hatte nun schon mehrere Male zu ihrer Tochter gesehen und einen Anlauf zum Sprechen genommen. Jetzt wagte sie es endlich, etwas zu sagen. »Du bist so nachdenklich, Anette.« Ihre Stimme klang unsicher.
Anette sah auf. Mitten hinein in die forschenden Augen der Mutter. »Du weißt, woran ich gedacht habe, Mutti«, sagte sie leise. »Er war heute wieder hier. Während meiner Dienstzeit. Warum? Will er mir nicht begegnen?«
Das Gesicht Dorotheas von Lindens rötete sich leicht. »Das war nur ein Zufall, Anette. Mein Gott, sei doch nicht so misstrauisch. Simon Bartholdy hat keinen Grund, dir aus dem Weg zu gehen.« Dorothea neigte sich vor, bis sie die Hand auf Anettes Arm legen konnte. »Oder muss ich fürchten, dass meine Tochter mir Steine in den Weg legen will, dass sie ein Glück verhindern möchte?« Ihre Stimme vibrierte.
»Wäre es dein Glück, Mutti, wieder zu heiraten?«, fragte Anette. Ihr Gesicht war sehr ernst.
Die Mutter lehnte sich zurück. Auf diese Frage schien sie gewartet zu haben. Ihre Antwort kam blitzschnell. »Ja, es wäre mein Glück.« Jetzt starrte sie auf ihre Hände. »Das erste Glück meines Lebens.«
»Mutti!« Anette war sehr erschrocken. »Und deine Ehe mit Vati?«
»Sie war kein Glück für mich. Einmal musst du es wissen, Anette. Mit Friedo kann ich darüber nicht sprechen, ohne ihm jenes Bild zu verzerren, das er von seinem Vater behalten soll. Aber du bist erwachsen, mit dir kann ich offen reden. Du hast selbst oft darüber geklagt, dass du zu deinem Vater kein besonders inniges Verhältnis finden konntest.«
»Ja, das stimmt, Mutti. Je älter ich wurde, um so mehr spürte ich, dass irgendwo zwischen Vati und mir eine Mauer stand, an der ich mich wundstieß. Mit Vati konnte man zwar immer vernünftig sprechen, denn er war klug, aber man konnte nicht mit ihm lachen und …«
»Er war zu klug. Zu geschäftstüchtig und zu stark auf Materielles ausgerichtet. Darunter habe ich gelitten. Er hat mich nur geheiratet, weil er mit meiner Mitgift das heruntergekommene Gut sanieren konnte.«
Erschrocken sah Anette die Mutter an. »Warum hast du Vati dann geheiratet, wenn du das wusstest?«
»Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich hatte ihn lieb. Sehr lieb sogar. Aber diese Liebe starb in mir, als ich immer wieder zurückgestoßen wurde. Die Liebe zu dir und Friedo, eure Liebe, das war mein einziges Glück. Mutterglück. Aber eine Frau braucht mehr, wenn ihr Leben erfüllt sein soll. Jede Frau sehnt sich danach, von einem Mann geliebt zu werden.« Dorothea von Linden stand auf. Langsam ging sie durch das Zimmer. An einem der Fenster blieb sie stehen und starrte in den Abend hinaus. »Es fällt mir schwer, dir das alles zu sagen, aber ich muss ehrlich sein. Nur dann kannst du mich verstehen. Alt genug bist du dazu bereits. Ich muss nicht mehr fürchten, mich vor dir lächerlich zu machen, wenn ich gestehe: Ich sehne mich nach Liebe. Ich möchte das nachholen, was ich versäumt habe.« Dorothea drehte sich um. Langsam kam sie zu ihrer Tochter zurück und blieb hinter ihr stehen. »Anette, Simon Bartholdy liebt mich.