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All Those Ugly Lies
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eBook376 Seiten5 Stunden

All Those Ugly Lies

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Über dieses E-Book

Brave Mädchen sind bloß böse Mädchen, die noch nicht erwischt wurden.

Eigentlich wollte ich mich von meinem Verlobten trennen, stattdessen habe ich ihn mit 37 Messerstichen getötet. Auf den ersten Blick mag die blutige Klinge in meiner Hand ein schlechtes Licht auf mich werfen, aber ich schwöre, dass ich einen wirklich guten Grund hatte – wahrscheinlich sollte ich den Rest der Geschichte erzählen.
Doch ich habe ein dringenderes Problem: einen Zeugen. Es ist ausgerechnet der Mann, der dafür bezahlt wurde, meine Leiche verschwinden zu lassen …
"All Those Ugly Lies" erschien zuerst Ende 2017 als Blogroman auf Mias Homepage. Für die Buch-Ausgabe wurde die Story um zwei Bonus-Geschichten ergänzt. Insgesamt 360 Taschenbuch-Seiten.

Dark Romance. Düstere Themen. Eindeutige Szenen. Deutliche Sprache. In sich abgeschlossen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Mai 2019
ISBN9783963704673

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    Buchvorschau

    All Those Ugly Lies - Mia Kingsley

    TEIL I

    ALL THOSE UGLY LIES

    KAPITEL 1

    SADIE

    Er hob die Hände, als ich begann, heftiger an den Fesseln zu zerren. »Ich glaube, es reicht jetzt.«

    »Schlag mich noch mal!«

    »Du blutest schon. Das ist genug. Wirklich.«

    Zwischen den Zähnen presste ich hervor: »Noch mal! Verdammt, Palmer, jetzt stell dich nicht so an.«

    Er wich vor mir zurück. »Hast du eine Ahnung, wie schwer das für mich ist?«

    »Sonst hast du doch auch keine Hemmungen.«

    »Sag mal, spinnst du? Dir den Arsch beim Sex zu versohlen ist wohl kaum das Gleiche, wie dir mit der Faust ins Gesicht zu schlagen.«

    »Okay, du hast recht. Sorry. Mach mich los.«

    Die Erleichterung zeichnete sich in seiner Miene ab. Er kniete sich vor mich und löste die Knoten in den schwarzen Seilen. »Das sieht übel aus. Bist du sicher, dass du keine Salbe willst?«

    Ich rollte mit den Augen. »Mein Entführer würde sich wohl kaum die Zeit nehmen, mich ordentlich zu versorgen, oder?«

    Palmer zuckte mit den Achseln, und ich stand auf. Langsam drehte ich den Kopf. Während ich mein Spiegelbild begutachtete, prickelte die Aufregung in meiner Magengegend.

    »Es ist nicht überzeugend«, sagte ich und drehte mich um. Mit den Händen umklammerte ich den Rand des Waschbeckens hinter meinem Rücken. »Du musst mich noch einmal schlagen.«

    »Du übertreibst.« Palmer verschränkte die Arme, als hätte er Angst, mich unfreiwillig zu attackieren, wenn er seine Fäuste nicht verbarg.

    »Bitte«, flehte ich und stieß mich vom Waschtisch ab. Ich streichelte seine Wange, fühlte das Kratzen der dunklen Barthaare in meiner Handfläche. »Bitte. Mein Leben hängt davon ab. Wenn sie es mir nicht abkaufen …«

    Palmer wandte sich ab und verließ das Badezimmer. Ich lief ihm hinterher, packte seinen Arm und wollte zu betteln beginnen. Bevor ich es kommen sah, schlug er mir ins Gesicht.

    Ich strauchelte und sackte kurz weg. »Autsch.«

    Er umfasst meine Schultern und stützte mich. »Ist es sehr schlimm?« Die Qual in seiner Stimme war kaum zu überhören. »Es tut mir so leid.«

    »Alles gut. Eine Warnung wäre nur schön gewesen.«

    »Ich konnte einfach nicht, während du mich so angestarrt hast. Willst du dich nicht wenigstens revanchieren?«

    »Nein. Du brauchst keine Absolution von mir, Palmer. Du hast gemacht, worum ich dich gebeten habe. Keine Sorge.«

    Er setzte sich auf das Sofa und stützte den Kopf in beide Hände. »Mir gefällt das nicht.«

    Vorsichtig ließ ich mich vor ihm auf die Knie nieder und drückte seinen Oberschenkel. »Ich muss die Wahrheit wissen. Es würde mich sonst auffressen.«

    »Und wenn dir was passiert?«

    »Mir wird nichts passieren. Ich bin nicht dumm, und in spätestens vier oder fünf Tagen bist du bei mir. Alles wird gut.«

    Er strich über mein Haar, beugte sich vor und küsste meinen Scheitel. »Du bist verrückt.«

    »Ich weiß.« Mit diesen Worten erhob ich mich wieder und nahm den Stapel Klamotten vom Tisch. Es waren die Sachen, die ich bei meiner Ankunft getragen hatte. Da sie blutig und verdreckt waren, verspürte ich nicht die geringste Lust, sie anzuziehen, doch es musste sein.

    Palmer ließ mich nicht aus den Augen, als ich mich auszog und in meine alte Kleidung schlüpfte. Er schüttelte den Kopf. »Du siehst grauenvoll aus.«

    »Danke.« Ich versuchte, ihn anzulächeln, aber mein Gesicht schmerzte inzwischen zu sehr. Unsicher sah ich an mir hinunter. »Ist es überzeugend?«

    »Ich hasse mich, weil ich dafür verantwortlich bin, obwohl ich die Gründe kenne. Ja, es ist definitiv überzeugend genug.«

    »Dann lass uns fahren.«

    Mit einem letzten Blick auf mich erhob er sich und nahm die Schlüssel von dem kleinen Brett neben der Eingangstür. »Mir ist nicht wohl dabei.«

    »Ich kann auch laufen.«

    Er gab ein leises Knurren von sich. »Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe.«

    »Lass es uns einfach hinter uns bringen. Ich lechze schon jetzt nach einer Schmerztablette – oder besser einer ganzen Packung.«

    Wir schwiegen, als wir ins Auto stiegen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und Palmer schien zu angespannt zu sein.

    »Danke«, sagte ich nach einer Weile.

    »Nicht«, bat er. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, weil er das Lenkrad umklammerte. »Das lässt es so endgültig klingen. Bisher habe ich nicht viel für dich getan, und es ist noch nicht vorbei. Bedank dich, wenn du weißt, was du wissen wolltest.«

    »Einverstanden.«

    Mein Magen krampfte sich zusammen, da das Valley langsam in Sicht kam. »Bieg hier rechts ab. In den kleinen Waldweg.«

    »Sicher?«

    »Ich kenne das Gebiet besser als das Innere meines Kleiderschranks. Ganz sicher. Wenn ich direkt geradeaus hinunterlaufe, bin ich in weniger als dreißig Sekunden auf dem Grundstück meiner Familie. Irgendjemand wird mich finden.«

    »Zum letzten Mal möchte ich meinen Protest ausdrücken, Sadie.« Er wollte nach mir greifen, doch seine Hände verharrten in der Luft. Mein Gesicht war blutig und zugeschwollen, die Kleidung zerrissen und starr vor Schmutz und Blut.

    »Und ich nehme ihn zur Kenntnis. Versprich mir, dass du mich rettest.«

    »Natürlich. Fünf Tage – genau wie wir es abgesprochen haben.«

    »Ich würde dich gern küssen«, sagte ich.

    »Aber deine Lippe«, erwiderte er.

    »Meinst du, es muss genäht werden?«

    »Um Himmels willen. Ich hoffe nicht. Wie soll ich heute Nacht eigentlich schlafen?«

    »Mach’s dir selbst und denk an mich.«

    Er grinste. »Du bist unmöglich.«

    »Ich weiß. Bis später, Palmer.«

    »Bis später, Sadie. Du weißt, wo du mich findest, wenn irgendwas ist.«

    Ich nickte, kletterte aus dem Wagen und lief in den Wald. Ohne darauf zu achten, wo ich hintrat, rannte ich los. Bewusst sah ich nicht auf den Boden, sodass es nur wenige Augenblicke dauerte, bis ich mit dem Fuß in einer Wurzel oder ähnlichem hängen blieb und der Länge nach auf den Waldboden krachte.

    Ich schmeckte Erde im Mund, spürte Dreck unter meinen Fingern und das Brennen auf meiner Stirn, wo ich mir den Kopf angeschlagen hatte.

    Perfekt, dachte ich. Jetzt wirkte ich wirklich wie ein Opfer auf der Flucht. Ich rappelte mich hoch und machte keine Anstalten, den Schmutz abzuklopfen. Stattdessen schaute ich in den Himmel, um mich zu orientieren.

    Am Stand der Sonne konnte ich ablesen, in welche Richtung ich gehen musste. Das war es, was mich am wütendsten machte. Ich war immer zurechtgekommen und nie schwach oder gutgläubig gewesen. Insgeheim hatte ich mich für stark, klug und selbstbewusst gehalten. Niemals für das Opfer. Deshalb war mir nach wie vor nicht klar, wie ich in diese Situation geraten war. Ich vertraute niemandem leichtfertig und hatte stets alles im Blick – oder zumindest hatte ich es gedacht.

    Bald erreichte ich den Rand des Waldstücks, vor mir erstreckte sich das Valley. Sehnsucht durchfuhr mich. Mein Zuhause.

    Ein leichtes Lüftchen wehte, und es war nicht zu warm. Durch die diversen Risse in meinem Shirt spürte ich den Wind auf meiner Haut und erschauerte trotz der frühlingshaften Temperaturen.

    Mein Herz begann schneller zu klopfen. Jetzt oder nie.

    Ein weiteres Mal rannte ich los, das Ziel klar vor Augen. »Hilfe«, brüllte ich. »Hilfe!« Meine Lunge brannte vom Rennen und dem lauten Kreischen.

    Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung. Haar, so dunkelblond wie meins, darunter befanden sich Augen, grün wie meine.

    Meine Mutter ließ fallen, was immer sie in den Händen gehabt hatte, sprintete los und rief den Namen meines Vaters: »Jason!« Ihre Stimme bewegte sich zwischen Panik und Euphorie. »Jason! Sadie ist hier. Sadie ist hier!«

    Es krachte laut, als die Tür zum Keller aufflog und mein Vater ins Freie trat. Schwarze Haare, graue Schläfen und ein zynisches Lächeln um die Lippen, so hatte ich ihn in Erinnerung – nur dass er gerade nicht lächelte, sondern vollkommen fassungslos aussah.

    Plagte ihn ein schlechtes Gewissen?

    Wusste er, wo ich eigentlich hätte sein sollen?

    Abrupt blieb ich stehen und hob die Arme. »Nicht anfassen.«

    »Liebling«, keuchte meine Mum außer Atem. »Liebling. Geht es dir gut?«

    Sie kam auf mich zu, und ich wich zurück. »Nicht anfassen. Wer sind Sie?«

    Ihre Miene gefror. »Sadie, Liebling, ich bin deine Mutter.«

    »Carol? Carol, was ist?«, wollte Dad wissen. Er war noch ein Stück entfernt.

    Ich schüttelte den Kopf und trat zwei weitere Schritte zurück. »Nein. Ich … Ich kenne Sie nicht«, stotterte ich. Egal was es mich kostete, ich musste überzeugend sein.

    Mein Dad kam knapp einen Meter vor mir zum Stehen. »Großer Gott! Sadie, du bist zurück.« Er wollte die Hand ausstrecken, doch ich täuschte vor zusammenzuzucken, und er ließ sie sinken. »Was ist passiert?«

    Ich riss die Augen auf, bis ich Tränen spürte. »Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.«

    Meine Eltern tauschten einen Blick.

    »Sadie«, fragte meine Mutter sanft. »An was kannst du dich erinnern?«

    Ich reagierte nicht, bis sie meinen Namen erneut sagte. Überrascht hob ich den Blick, als wäre mir nicht klar, wer Sadie war.

    »Carol, ich glaube, sie hat ihr Gedächtnis verloren.« Mein Vater berührte meine Mutter am Arm. Sie sahen sich an, und ich hätte zu gern gewusst, was in ihren Köpfen vorging.

    »Wo kommst du her?«, wollte Mum wissen.

    Ich deutete über meine Schulter in den Wald.

    Sie runzelte die Stirn. »Aber da kannst du nicht die ganze Zeit gewesen sein.«

    Die erste Träne lief über meine Wange, und ich zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht.«

    »Carol, ruf einen Krankenwagen. Wir müssen sie ins Haus bringen. Selbst wenn sie sich jetzt nicht erinnert, ist sie wenigstens wieder hier. Alles andere wird sich schon finden.«

    Ohne sich um meinen verhaltenen Protest zu kümmern, legte mein Vater einen Arm um mich und führte mich durch die lange Reihe Weinreben. Ich wäre fast geneigt gewesen, ihm den fürsorglichen Dad abzukaufen.

    »War ich weg?«, fragte ich.

    Meine Mutter schlug die Hand vor den Mund und schluckte ein paar Mal, bevor sie mir antworten konnte. »Oh, Sadie, du bist vor drei Monaten entführt worden.«

    »Das kann nicht sein«, gab ich zurück. »Daran könnte ich mich doch erinnern. Oder nicht?« Ich achtete darauf, am Ende des Satzes flehend zu klingen.

    Mum presste kurz die Augen zusammen, während Dad seine Schritte beschleunigte. »Kannst du dich an gar nichts erinnern, Sadie?«

    »Nein. Ich bin im Wald gestürzt.«

    Er musterte mich. »Und was hast du im Wald gemacht?«

    Ich sah nach unten auf meine verschmutzten Hände und murmelte: »Das weiß ich nicht.«

    »Jetzt verhör sie nicht so, Jason. Siehst du nicht, wie durcheinander sie ist? Wir rufen einen Arzt und den Detective an. Wenn sie sich gesammelt hat, wird sie sich schon erinnern.« Dazu lächelte sie mich aufmunternd an.

    Obwohl es mir schwerfiel, hob ich meine Mundwinkel, als würde ich ihr Lächeln erwidern wollen. Ich nahm zur Kenntnis, dass die Reben wunderbar aussahen, äußerte mich aber nicht dazu, um mich nicht zu verraten.

    Das Wohnhaus kam in Sicht, und mein Herz schlug unwillkürlich schneller. Etwas mehr als drei Monate war es her, dass ich zum letzten Mal hier gewesen war. Das dunkel gedeckte Dach und die hell gestrichenen Außenwände hatten sich selbstverständlich nicht verändert. Der Rasen war akkurat gemäht worden und die Blumen gegossen. Bisher gab es noch keine Prognosen für eine Dürre in diesem Jahr. Das war ungewöhnlich, allerdings hatte ich im Moment ganz andere Sorgen.

    Ich folgte meiner Mum in die Küche, ging allerdings viel langsamer als sie. Immerhin versuchte ich vorzugeben, mich an nichts erinnern zu können. Woher sollte ich also wissen, wo ich hin musste? Meine Eltern sahen sich an, als ich über die kleine Erhebung am Fuß der Treppe stolperte, die nach oben ins Haus führte.

    Es roch wie immer. Bevor ich Zeit hatte, die Umgebung auf mich wirken zu lassen, fluchte mein Vater leise. Er schaute zur Wand, und ich folgte seinem Blick.

    Ein Schauer lief über meinen Rücken, weil sie eine Art Schrein für mich errichtet hatten. Jeder freie Zentimeter war mit Zeitungsausschnitten bedeckt. Jede Überschrift war reißerischer als die vorherige, und in der Mitte hing mein Foto in Schwarz-Weiß auf einer Vermisstenanzeige. Im Grunde hatte ich einen Heiligenschein aus Schlagzeilen.

    Weinberg-Erbin entführt – Verlobter ermordet


    Leiche in Hotel gefunden – Verlobte entführt


    Keine neue Spur im Fall der Vermissten Sadie Eadric


    Polizei tappt im Dunkeln – Sadie Eadric vermisst, Mathis Fournier tot


    Örtlicher Weinhändler mit 37 Messerstichen getötet

    Mein Vater griff nach meinem Arm, doch ich machte mich los und überflog ein paar der Artikel, bis ich an dem größten Ausschnitt hängen blieb. Der Text umrahmte das Verlobungsbild von Mathis und mir.

    »Was für ein ungewöhnlicher Name«, murmelte ich.

    Mum strich mir über den Rücken. »Es tut mir so leid.«

    »Was?«

    »Dass er tot ist, Liebling.«

    »Oh«, machte ich. »Ich kann mich nicht an ihn erinnern.«

    »Gar nicht?«

    Mein Vater gab ein unwilliges Geräusch von sich. »So funktioniert Amnesie nun einmal, Carol. Vielleicht ist es sogar besser, wenn sie sich nicht erinnert.«

    Ich konnte den Ton in seiner Stimme nicht genau deuten. War es sein väterlicher Instinkt, der mich vor grauenvollen Gefühlen schützen wollte – oder steckte etwas anderes dahinter? Ich sah ihn nicht an, sondern konzentrierte mich auf die Artikel. Dabei konnte ich förmlich sehen, wie Mum am Küchentisch saß und mit der großen Schere die Zeitung sorgfältig auseinanderschnitt. Dad war eher der Typ, der sich solche Informationen elektronisch in seinem Handy speicherte.

    »Ich rufe den Detective an.« Er verließ den Raum.

    Wahrscheinlich sollte ich das Gespräch nicht hören, denn er hatte sein Handy eigentlich immer in der Hosentasche, womit er keinen Grund gehabt hätte, woanders hinzugehen.

    Ich strich die Ecke eines Zeitungsartikels über Mathis glatt, damit ich ihn lesen konnte.

    Mum seufzte. »Mathis war Frankokanadier. Er hat dich sehr geliebt.«

    Nein. Hat er nicht.

    »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, gab ich zurück.

    Sie dachte nach. »Ich kann ein Fotoalbum holen. Vielleicht regt es deine Erinnerung an.«

    »Kann ich ein Glas Wasser haben? Ich glaube, ich muss mich setzen.«

    »Natürlich. Entschuldige.«

    Bevor ich an dem schweren Holztisch Platz nahm, von dem meine Oma immer gern erzählt hatte, dass mein Großvater ihn selbst gezimmert hatte, kehrte mein Vater zurück.

    »Detective Halverston sagt, dass wir sie direkt ins Krankenhaus bringen sollen. Er wird uns dort treffen. Sie müssen Sadie auf mögliche Spuren untersuchen.«

    Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

    Meine Eltern schauten mich an, als hätte ich verkündet, meine Hausaufgaben nicht machen zu wollen. Mum versuchte, meinen Rücken zu tätscheln. Ich wich ihr aus. »Kein Krankenhaus. Ich mag keine Krankenhäuser.«

    »Das stimmt nicht«, widersprach mein Vater. »Du hattest nie Angst vor Krankenhäusern und Ärzten.«

    »Ich will nicht.«

    »Vielleicht können wir noch einmal mit Detective Halverston sprechen?« Meine Mutter sah meinen Vater an.

    Dad schüttelte den Kopf. »Nein. Selbst wenn er nicht darum gebeten hätte, dass wir sie hinbringen, hätte ich darauf bestanden. Ein Arzt muss sie sich ansehen. Was ist, wenn sie eine Gehirnerschütterung hat? Außerdem sieht die Platzwunde übel aus.«

    Ehrlich gesagt fühlte sie sich auch grauenvoll an, doch das behielt ich für mich. »Mir geht es gut«, beteuerte ich.

    »Liebling, dein Vater hat recht. Wir fahren dich ins Krankenhaus. Es ist nicht weit, und du wirst sicher bevorzugt behandelt.«

    Dad legte die Hand auf meinen unteren Rücken und schob mich vorwärts. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu fügen.

    Meine Mutter überließ mir den Beifahrersitz und stieg hinten ein, während mein Vater die Fahrertür öffnete. Wir schwiegen fast die ganze Fahrt, bis ich fragte: »Wo sind wir?«

    »Im Napa Valley in Kalifornien.«

    »Welcher Tag ist heute?«

    »Dienstag«, sagte Mum.

    »Und ihr seid wirklich meine Eltern?«

    Mein Vater schnaufte. »Warum sollten wir lügen?«

    Ich schaute aus dem Fenster. Wir passierten Coben Estate, unseren größten Konkurrenten. Der Besitzer Terry blickte kurz auf, als wir vorbeifuhren, da er mit einem Paketboten vor dem Tor stand. Sein Blick glitt über mich, und ich sah deutlich, wie er die Augen aufriss.

    Ja, ich bin zurück.

    »Wer ist das?«

    »Unser Nachbar.«

    »Wie war mein Name noch gleich?«

    »Sadie.«

    »Sadie«, wiederholte ich. »Wie alt bin ich?«

    Dad presste die Lippen aufeinander, und Mum antwortete vom Rücksitz: »Du bist vor zwei Wochen 26 geworden.« Dazu drückte sie meine Schulter. »Vielleicht essen wir nachher ein bisschen Kuchen.«

    »Das klingt nett.«

    Mein Vater presste die Lippen aufeinander und schnaubte, ehe er fragte: »Nett? Wo zum Teufel warst du, Sadie? Wir haben uns Sorgen gemacht.« Ich hatte darauf gewartet, dass er aufbrauste, denn so war er nun einmal: aufbrausend, laut und herrisch – nicht direkt ein Tyrann, aber viel fehlte dazu nicht.

    »Sie kann sich nicht erinnern, Jason«, warf Mum ein. Wie immer, wenn Dad so war, benutzte sie den sanftesten Tonfall, zu dem sie fähig war.

    Er atmete durch. »Ich weiß. Es tut mir leid. Ich … Es ist nur so schwer begreiflich. Ich freue mich, dass du wieder da bist, Schatz.«

    Ich schwieg. Interessant, dass er mich in meinem ganzen Leben vorher kein einziges Mal Schatz genannt hatte.

    Seit Grandmas Tod vor sieben Jahren war ich nicht mehr im Sheffield Hospital gewesen. Als wir hielten, stieß sich ein Mann von der Wand neben dem Eingang ab und kam auf das Auto zu.

    Offensichtlich erkannte er meine Eltern. Ob es Detective Halverston war?

    Irgendwie hatte ich mir unter dem Namen einen Mann im mittleren Alter mit zurückgehendem Haaransatz und einem leichten Bierbauch vorgestellt.

    Er öffnete die Autotür und wartete, bis ich ausgestiegen war.

    Seine dunkle Stimme jagte einen Schauer über meinen Rücken. »Sadie«, sagte er und hielt mir die Hand hin. »Ich bin Detective Jack Halverston. Dein Vater berichtete mir, dass du dein Gedächtnis verloren hast.«

    Eher zögerlich nickte ich.

    »Du musst dich nicht anstrengen. Wir kennen uns nicht, du kannst dich also nicht an mich erinnern – egal wie sehr du es versuchst.«

    Ich war beruhigt, dass er meinen forschenden Blick missinterpretierte. Mir war nicht aufgefallen, wie sehr ich ihn angestarrt hatte. Äußerlich war Jack Halverston bis auf das Alter das genaue Gegenteil von Palmer, was ihn nicht weniger attraktiv machte. Ich schätzte ihn auf Anfang bis maximal Mitte dreißig. Während Palmer mit dunklen Haaren und Bartschatten punktete, war Halverston blond und glatt rasiert, was allerdings seinen kantigen Kiefer betonte.

    Palmer reichte ich bis zur Nasenspitze, Halverston überragte mich um mehr als einen Kopf. Nur dass sie beide Jeans und T-Shirt bevorzugten, schienen sie gemeinsam zu haben. Ich sah nach unten. Auch hier unterschieden sie sich. Bisher hatte ich Palmer nur in schweren Boots gesehen, Halverston trug weiße Sneakers. Und soweit ich sehen konnte, war Halverston im Gegensatz zu Palmer nicht tätowiert. Er wirkte wie Mister Saubermann in Person.

    »In Ordnung.« Ich sprach ihn nicht direkt an, sondern gab eher meine allgemeine Zustimmung. Obwohl es keine Rolle spielte, wie der Polizist aussah, den ich an der Nase herumführte, irritierte es mich, wie attraktiv ich ihn fand.

    Mum lief voraus ins Krankenhaus, und Halverston ging zu meinem Vater. Da es vermutlich nicht schaden konnte, wenn jemand sich meine Wunden ansah und nach Möglichkeit auch desinfizierte, folgte ich ihr.

    »Sadie«, rief Halverston hinter mir.

    Es war nicht leicht, gegen den Impuls anzukommen, auf ihn zu reagieren. Stattdessen ging ich weiter. Er wiederholte meinen Namen und kam näher. Ich hörte seine Schritte, blieb stehen und schaute über die Schulter. »Entschuldigung …« Meine Stimme verlor sich.

    »Kein Problem. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, zu welchem Raum du gehen musst. Meine Kollegin wartet mit einer Ärztin.«

    Jack war ein guter Lügner, aber ich durchschaute ihn. Er hatte lediglich testen wollen, ob ich auf den Namen reagierte. Ich betrachtete sein charmantes Lächeln und beschloss, dass Jack Halverston ein Problem werden würde. Ein verdammt großes Problem.

    KAPITEL 2

    PALMER

    DREI MONATE VORHER

    Ich zog frische Einweghandschuhe über, nachdem ich die blutigen aufgrund der Störung entsorgt hatte. »Das war ein Paket. Entschuldige die Unterbrechung, Nadia.«

    Sie schüttelte lediglich den Kopf. Ich hielt inne und betrachtete sie. Wie war das möglich? Eigentlich sollte sie den Kopf nicht bewegen können. Wirklich merkwürdig.

    Ich bückte mich und fand den Übeltäter unter dem Tisch. Einer der Lederriemen hatte sich gelöst. Mit festem Griff packte ich Nadias Kopf und fixierte ihn erneut. Sie heulte erbost in ihren Knebel, was mir ein leichtes Lächeln entlockte.

    »Was denn? Möchtest du nicht weitermachen? Das hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor du das Kinderheim angezündet hast.«

    Es war noch früh am Morgen und wäre die Expresssendung nicht gewesen, hätte ich Nadia längst getötet. Doch nun lag der Tag unberührt vor mir.

    Fast wie Nadia. Im hellen Tageslicht, das langsam durch die Fenster drang und den Raum nach und nach in völlig unpassenden Sonnenschein tauchte, glänzte ihr Blut gerade poetisch auf dem Edelstahltisch.

    Sie schloss die Augen und begann, eine Melodie zu summen. Durch den Knebel klang es grauenhaft und verzerrt. Ich war versucht, ihr die Zunge herauszuschneiden. Den Leuten, die sie zu mir gebracht hatten, war es ohnehin egal, was mit ihr passierte. Ob ihr die Zunge fehlte oder nicht, spielte nicht die geringste Rolle, solange ich daran dachte, ein paar Zähne zur Identifizierung übrig zu lassen.

    Das erinnerte mich daran, dass ich den wichtigsten Teil beinahe vergessen hätte. Ich nahm die Gartenschere vom Tresen und packte Nadias Hand. Sie riss die Augen wieder auf. Das Summen erstarb. Stattdessen versuchte sie, sich gegen die Lederriemen zu stemmen. Aber sie hatte keine Chance.

    Die Leute, die bei mir landeten, hatten nie eine Chance. Ihr Schicksal stand in dem Moment fest, in dem sie über meine Schwelle getragen wurden. Die wenigsten kamen freiwillig zu mir. In der Regel hatten sie irgendwen verärgert, der sehr reich und mächtig war. Geld war das einzige Ticket in mein kleines Königreich.

    Obwohl ich die Schere schon angesetzt hatte, nahm ich die Fernbedienung für die Surround-Sound-Anlage und machte die Musik lauter. Aus Gewohnheit hatte ich die Fernbedienung in eine Plastiktüte gewickelt, damit ich sie nachher nicht säubern musste. Früher oder später machte ich die Musik nämlich immer lauter. Der Song war gerade vorbei, und der nächste begann genau in diesem Moment. Somebody Stole My Eyes.

    Der Titel brachte mich auf eine Idee. Nadia runzelte die Stirn, als ich mich ihr zuwandte und böse lächelte. »Sag mir, Nadia, wie sehr hängst du an deinen Augen?«

    Sie riss die besagten Augen auf und bekam vor lauter Panik, die meine Frage ausgelöst hatte, das laute Schnappen der Gartenschere im ersten Moment gar nicht mit. Zufrieden legte ich ihren kleinen Finger auf den Tresen. Ich würde mich später darum kümmern, ihn zu präparieren.

    Es folgte Gebrüll. Ich war froh, dass ich von den Ballknebeln zu der guten alten Watte gewechselt war. Sie dämpfte einfach viel mehr.

    Ich zuckte bloß mit den Achseln. »Wie schon gesagt: Man muss seine Lebensentscheidungen gut überdenken. Für ein flatterhaftes Regime im Untergang unzählige Leute zu töten und danach in ein anderes Land zu flüchten war keine kluge Wahl, Nadia.«

    Sie begann zu zittern. Vermutlich war ihr endgültig klar geworden, dass sie mir nicht entkommen konnte. Hinter dem Knebel wimmerte sie, und Tränen liefen über ihre Wangen. Es war mir egal.

    Ich legte die Rosenschere zurück, nachdem ich das Blut von der Klinge gewischt hatte. Dann nahm ich die Tube Sekundenkleber und schmierte das stinkende Zeug großzügig auf die offene Stelle an Nadias Hand, wo sich zuvor ihr kleiner Finger befunden hatte. Ich wollte nicht, dass sie mir zu schnell verblutete.

    Mit der Klinge des Skalpells beschrieb ich einige Kreise über ihrem Brustkorb, während ich überlegte, wo ich den nächsten Schnitt ansetzen sollte. Nadia brüllte in den Knebel, als ich einen langen Schnitt hinterließ, aus dem das Blut hervorquoll.

    Ohne hinzuschauen, tastete ich nach der Fernbedienung und erhöhte erneut die Lautstärke.

    Besser.

    Nach einigen Minuten fühlte ich mich ruhiger. Fast schon gelassen.

    Es dauerte nicht lang, bis Nadia mit dem Gezappel aufhörte und ihre Augen leer wurden.

    Jetzt hatte ich sie ihr gar nicht herausgeschnitten. Verdammt.

    Na ja, da konnte man nichts machen. Ich war heute ohnehin irgendwie nicht ganz bei der Sache. Mich beschäftigte der nächste Termin.

    Alles daran stank bis zum Himmel.

    Ich hasste es, meine Opfer selbst abholen zu müssen. Unter normalen Umständen tat ich es nicht, aber mir war so viel Geld geboten worden, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, darauf zu verzichten.

    Wer auch immer am Empire Spa & Resort auf mich warten würde, hatte

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