Marshal Nye
Von Logan Kenison
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Buchvorschau
Marshal Nye - Logan Kenison
Ungekürzte Erstausgabe 08/2012
Copyright © 2020 by Logan Kenison
Lektorat: Carola Lee-Altrichter
Abdruck auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Verlags oder Autors
Cover: Edward A. Martin
logan.kenison@gmx.de
Marshal Nye
Westernroman von Logan Kenison
Die Missouri-Dampfer schaufelten täglich neue Menschenmassen nach Fort Crump: Goldsucher, Glücksritter, Jäger, Siedler, Spieler, Huren, Unternehmer, zweibeinige Wölfe und Ratten. Wildfremde Menschen strömten über die Gangways an Land und drängten durch die schlammigen Straßen, verteilten sich auf Hotels, Saloons, Spielhallen, Boarding Houses und Freudenhäuser. Überall herrschte Gedränge und Geschrei. Pferde wieherten in Panik, als man sie in Gurte steckte und Ladekräne sie an Land hievten oder Matrosen sie über schmale Planken auf die Kais trieben. Sieben total überladene Esel blökten, doch niemand kümmerte sich um sie; ihr Besitzer war weit und breit nicht in zu sehen.
Der aufsehenerregendste Teil der Ladung an diesem Montagmorgen im Oktober 1876 war zweifellos die Rinderherde, die ein Rancher aus Kansas für 350 Dollars nach Browns hatte treiben und dort verladen lassen, um die Menschen in den Goldgebieten mit dem heißbegehrten Fleisch zu versorgen. Schreiend und in die Luft schießend trieben die Cowboys die Tiere aus dem Schiffsbauch. Beim Donnern der Hufe erzitterte das ganze Schiff, und für einen Augenblick glaubte sogar die Besatzung, dass der Schaufelraddampfer mit Mann und Maus unterginge, versenkt von einer außer Kontrolle geratenen Rinderherde.
Die Menge an der Anlegestelle stob auseinander und machte hastig Platz. Eine Welle von auf- und niederschaukelnden Hörnern schwappte durch die Hauptstraße, die auf eine Anhöhe hinaufführte. Dort oben befanden sich ein weiterer Stadtteil sowie Wohn- und Arbeitszelte. Zahlreiche neue Häuser waren im Begriff zu entstehen.
Der Landgang von Jonathan Nye blieb bei diesem Spektakel beinahe unbemerkt. Doch er war eine beeindruckende Erscheinung und zog die Blicke der Menschen selbst jetzt noch auf sich. Seine Größe von sechs Fuß drei Zoll war nicht zu übersehen, ebenso sein Haar, das sattelbraun glänzte und ihm bis zur Hüfte hinabfiel. Selten hatte man einen Mann mit solch langem, dichtem Haar gesehen. Sogar Frauen warfen ihm neidische Blicke zu und bewunderten ihn ob dieser Haarpracht. Schnurr- und Kinnbart ließen das hagere Gesicht mit den eingefallenen Wangen noch ausgemergelter erscheinen.
Nye hatte dem Anlegemanöver des Steamers vom Deck aus zugesehen, nun nahm er den Sattel neben der Reling auf, warf ihn sich über die Schulter und marschierte von Bord – ein weiterer Fremder unter Fremden, von dem man denken mochte, dass er wie alle anderen sein Glück auf den Goldfeldern versuchen wollte, in denen in den letzten zwei Jahren große Vorkommen des Edelmetalls gefunden worden waren.
Jonathan Nye trug die abgewetzte Kleidung eines Büffeljägers – eine mit langen Fransen besetzte Lederjacke, um die er seinen Revolvergurt mit seinem Sechsschüsser geschlungen hatte, sowie Hosen aus Wildleder –, und den ramponierten dunkelgrauen Hut, der unzählige Reitstunden und Regengüsse auf dem Buckel hatte. Dort, wo man ihn beim Auf- und Absetzen ständig anfasste, machten sich Auflösungserscheinungen bemerkbar; er war porös und nicht mehr regendicht, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Nye sich einen neuen Deckel würde zulegen müssen.
Die Stiefel, die über die Gangway pochten, machten einen ebenso ausgeleierten Eindruck, ohne jedoch vernachlässigt zu wirken. Wenn die Sachen des Mannes auch schon lange getragen wirkten, so waren sie dennoch nicht ungepflegt.
Hochgewachsen, wie Nye war, überblickte er die Menge mühelos, und seine blauen Augen wanderten unablässig von einem zum andern. Sie streiften über die sich ergießenden Menschenmassen, studierten Gesichter. Es schien, als prüfte er jeden Passanten, dem er begegnete; sondierte, sortierte aus. Er suchte jemanden, das wurde schnell klar, und dieser Jemand musste ein Mann sein. Denn Frauen beachtete er nicht.
Er nahm sich ein Zimmer in Molly Fallons Boarding House und legte dort seinen Sattel ab. Dann begann sein Rundgang durch die Stadt.
Als er gegen halb zwei den Golden Nugget Saloon betrat, wusste er, dass er sein Ziel erreicht hatte.
In der hinteren Ecke an einem mit grünem Filz bespannten Tisch saßen fünf Männer bei einem Pokerspiel. Die wachsamen Augen Nyes entdeckten sie sogleich. In aller Seelenruhe trat er ein und legte die Hand hinter den mit Nussbaumschalen verzierten Kolben seines Peacemakers Single Action Colts Kaliber .45.
Die Spieler waren so in das Spiel vertieft, dass sie keine Notiz von dem Nähertretenden nahmen. Erst als Nyes Schatten auf die Tischplatte fiel, blickten sie auf.
Einer der Männer erbleichte. Die Karten in seiner Hand begannen zu flattern.
»Ganz recht, ich bin’s«, sagte Nye mit tiefer Stimme. »Charlies Bruder.«
Die Unterlippe des Mannes vibrierte, sein rechtes Augenlid zuckte unkontrolliert.
»Ich … ich …«
»Du brauchst nichts zu sagen, Mallory. Steh nur auf, damit du recht schnell ziehen kannst. Du sollst eine faire Chance bekommen. Nicht so, wie mein Bruder, dem du in den Rücken geschossen hast.«
Die anderen Männer am Tisch hatten Mühe, das Gesagte zu verdauen. Einer von ihnen schlug die richtigen Schlüsse schneller als seine Mitspieler.
»Ich bin Vince Whitney, Bürgermeister dieser Stadt und Besitzer des Golden Nugget Saloons. Haben Sie eine Anklage gegen Mr Stone vorzubringen, Fremder?«
»Ganz recht, das habe ich. Und sein Name ist nicht Stone, sondern Jeb Mallory. Er stammt aus Abilene.«
»Was werfen Sie diesem Mann vor?«
»Mord.«
»Wer wurde ermordet?«
»Mein Bruder, Charles Henry Nye. In einem Ort namens Maddox Falls.«
»Haben Sie Beweise, Mister?«
»Nope.«
»Dann können Sie keine Anklage gegen ihn erheben.«
»Ich weiß. Deswegen fordere ich ihn zum Duell.«
Nye nickte Mallory zu, dessen spitzes Rattengesicht aschfahl geworden war.
»Komm schon, Mallory. Hoch mit den Arschbacken. Bringen wir’s hinter uns.«
Der Mann neben dem Bürgermeister fuhr hoch.
»Sie können hier nicht einfach hereinspazieren und einen Mann abknallen, Mister!«, brauste er auf und wollte vor Nye treten. Doch plötzlich legte sich der Arm des Bürgermeisters vor seine Brust und hielt ihn zurück.
»Setz’ dich, Amos. Das ist eine Sache zwischen diesem Mister und Milo Stone. Oder sollte ich besser sagen: Jeb Mallory?«
Nye nickte. »Jeb Mallory. Das ist sein richtiger Name.«
Die vier Männer am Tisch blickten den Beschuldigten an, und der Bürgermeister fragte:
»Nun, was sagen Sie dazu, Stone-Mallory? Wie lautet Ihr wirklicher Name?«
»I-ich … äh, dazu sage ich gar nichts!«, stieß der Angesprochene hervor. »Dieser Mann ist ein Lügner. Ich kenne weder ihn noch seinen Bruder, und einen Mann namens Charlie Nye habe ich nicht umgebracht. Ich war noch nie in diesem Ort, in Maddox Falls.«
Ein anderer Pokerspieler mischte sich ein: »Warum bist du plötzlich so bleich um die Nase, he? Du wurdest es in dem Moment, als der Fremde an unseren Tisch trat, und zwar schon bevor er diese Anklage äußerte. Ich denke, du kennst ihn sehr wohl und hast uns ’ne Menge Lügenmärchen aufgetischt, Stone.«
»D-das … ist nicht wahr!«, zischte der Mann. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her.
»Ich fürchte, Sie müssen sich der Herausforderung stellen«, meinte Bürgermeister Whitney gedehnt.
Mallory brach der Schweiß aus.
»Das … ist nicht Ihr Ernst!«
»Ich fürchte, doch. Wir wissen nicht, was vorgefallen ist, und können die Sache nicht beurteilten. Aber dieser Mann würde Sie kaum den halben Missouri herauf bis in unsere Stadt verfolgt haben, wenn es nicht etwas Schwerwiegendes gewesen wäre. – Mord, Mr Mallory, ist eine Anklage, die man nicht einfach unter den Tisch fallen lassen kann.«
»Aber … Sie … Sie haben kein Recht …«
»Erzählen Sie mir nicht, welche Rechte ich habe, Mallory. Und nun scheren Sie sich raus auf die Straße. Tragen Sie’s mit diesem Gentleman aus. Wenn Sie danach noch leben, können Sie an diesen Tisch zurückkehren, und weiterspielen.« Er wandte sich an Nye. »Sie sind doch einverstanden, die Sache draußen zu erledigen, damit keine Unschuldigen gefährdet werden?«
»Selbstverständlich, Mayor.«
»Aber ich nicht!«, heulte Mallory auf. »Ich bin nicht einverstanden! Ich möchte kein Revolverduell mit diesem Mann! Ich verlange, dass das Gesetz mich schützt. Wo ist der verdammte Marshal, wenn man ihn braucht?«
»Ja, wo ist er?«, erwiderte Whitney kühl. »Umgelegt worden ist er. Vor achtzehn Tagen. Fort Crump hat keinen Marshal, Mr Mallory. Sie müssen es allein durchstehen.« Erneut wandte er sich an Nye: »Und um ihretwillen hoffe ich, dass es sich nicht um einen Irrtum handelt und dieser Mann wirklich jener Jeb Mallory ist, von dem Sie uns berichteten.«
»Er ist es«, bestätigte Nye seelenruhig noch einmal.
Im selben Moment brüllte ein Schuss auf, und Nye spürte einen Luftzug an der Wange.
Um Mallorys Hand wallte eine kleine Rauchwolke, durch die die Umrisse eines zweiläufigen Derringers erkennbar waren. Diese kleinen, besonders für Spieler geeigneten Modelle, wurden seit 1866 von der Firma Remington gebaut und angeboten. Mit dem Kaliber .41 besaßen sie genug Durchschlagskraft, um einen Mann zu töten, sofern man ihn an der richtigen Stelle traf – aber das galt ja für alle Feuerwaffen. Der erste Schuss Mallorys war fehlgegangen, doch im zweiten Lauf steckte eine weitere Patrone.
Als er sah, dass Nye unverletzt geblieben war, schoss der Spieler erneut.
Der zweite Schuss donnerte, doch gleichzeitig brüllte auch Nyes Peacemaker auf. Keiner hatte gesehen, wie der Fremde gezogen hatte. Nach einer schemenhaften Bewegung hatte er den Colt plötzlich in der Hand gehalten, den Hahn gespannt und den Stecher durchgezogen.
Die Kugel traf den sitzenden Mallory in die Brust und fuhr durch ihn hindurch. Vor Schreck