119 Das Herz einer Frau
Von Barbara Cartland
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Buchvorschau
119 Das Herz einer Frau - Barbara Cartland
1
Als Kelda über den Flur ging, hörte sie jemanden weinen. Sie hielt inne, lauschte und stellte fest, daß das Schluchzen aus Yvette de Villons Zimmer kam. Kelda blieb stehen und mußte sich zwingen, nicht an die Tür zu klopfen und nachzusehen, was geschehen war.
Doch sie wußte, daß es nicht ihre Aufgabe war, sich in irgendeiner Weise in die Angelegenheiten der größeren Mädchen einzumischen. Mrs. Gladwin hatte ihr das in aller Deutlichkeit gesagt, als sie sie vom Dienstmädchen für all die Arbeiten, die sonst niemand verrichten wollte, zur Hilfslehrerin beförderte.
»Da du gut Klavier spielst«, hatte sie in jenem kalten Ton gesagt, den sie im Umgang mit Untergebenen immer annahm, »wirst du die Mädchen beim Üben beaufsichtigen, und du wirst auch im Klassenzimmer anwesend sein, wenn sie ihre Hausaufgaben machen. Das wird die Lehrerinnen etwas entlasten.«
Sie schwieg eine Weile, als ob sie nachdenken wollte, welche Last sie Kelda noch aufbürden könnte, dann fuhr sie fort: »Natürlich bleiben deine bisherigen Pflichten wie Waschen, Nähen und Stopfen bestehen. Aber du kannst das als eine Beförderung betrachten, für die du entsprechend dankbar sein solltest.«
»Vielen Dank, Madam«, antwortete Kelda mechanisch.
Ein kritischer Blick von Mrs. Gladwin traf sie. »Ich stelle fest, daß dein Kleid in der Taille zu eng ist«, sagte sie. »Es ist schon fast unanständig.«
»Ich bin leider herausgewachsen«, sagte Kelda.
»Dann mußt du es eben weiter machen.«
»Das habe ich bereits getan, Madam.«
»Ausreden, nichts als Ausreden, um wieder Geld auszugeben«, fuhr Mrs. Gladwin sie an. »Du kannst jetzt gehen.«
Zitternd vor Empörung hatte Kelda das Zimmer der Direktorin verlassen, und sie seufzte vor Erleichterung, als sie endlich im Flur war. Sie wußte, daß Mrs. Gladwin sie nicht mochte, selbst wenn sie mit ihrer Arbeit zufrieden war, und sie hatte sich immer nach dem Grund für diese Antipathie gefragt, bis eines Tages eines der größeren Mädchen sie aufklärte.
»Halt dich von dem Drachen fern, Kelda«, hatte das Mädchen gewarnt. »Sie wandelt auf dem Kriegspfad, und du weißt, daß sie es auf dich abgesehen hat, weil du so hübsch bist.«
Kelda war zu überrascht gewesen, um etwas zu entgegnen; aber als sie sich an jenem Abend endlich in ihre Dachkammer zurückziehen konnte, wo sie schlief, betrachtete sie sich in dem kleinen blinden Spiegel, der über der Kommode hing.
Bin ich wirklich hübsch? fragte sie sich und stellte überrascht fest, daß das zutraf.
Im Alter von fünfzehn war sie in Mrs. Gladwins Internat für höhere Töchter gekommen, nachdem sie drei Jahre in einem Waisenhaus verbracht hatte. Ihre Eltern waren bei einem Erdbeben in der Türkei ums Leben gekommen.
Philip Lawrence war Archäologe gewesen und hatte im Auftrag der National Geographic Society eine Forschungsreise in die Türkei unternommen. Es war ein großes Zugeständnis, daß man seinem Wunsch, seine Frau mitzunehmen, nachgab. Natürlich war es ausgeschlossen, auch noch die Reisekosten für eine dritte Person zu übernehmen, aber irgendwie hatte Philip Lawrence das Geld aufgebracht, um Kelda, ihr einziges Kind, mitnehmen zu können.
Für Kelda war es nichts Neues, die Eltern auf Reisen zu begleiten, und sie genoß jeden Augenblick. Doch dann kamen ihre Eltern bei einer Katastrophe ums Leben, und Kelda bereute es bitter, an jenem schrecklichen Tag nicht bei ihnen gewesen zu sein. Sie waren gerade von einer längeren Expedition zu dritt zurückgekommen, die Kelda so sehr erschöpft hatte, daß ihre Eltern sie am nächsten Tag in der billigen Pension zurückließen, wo sie die Nacht verbracht hatten. Als sie aufbrachen, schlief Kelda noch, und so weckten sie sie nicht.
Oft hatte Kelda heiße Tränen vergossen, nicht nur, weil sie ihre Eltern verloren hatte, sondern auch, weil sie nicht hatte Abschied nehmen können von den beiden Menschen, die sie am meisten liebte, die alles für sie bedeuteten.
Sie hatte nie herausgefunden, wer bestimmt hatte, sie in ein Waisenhaus in einem Londoner Vorort zu schicken. Sie vermutete, daß es einer der Missionare war, die sich ihrer angenommen hatten. Aber sie wußte es nicht genau, denn sie hatte unter einem schweren Schock gestanden, und alles war ihr so unwirklich erschienen, bis sie sich plötzlich als Fürsorgekind unter fünfzig anderen Waisen verschiedener Altersgruppen wiederfand, von denen die meisten seit ihrer Geburt im Heim waren.
Diese Kinder akzeptierten ihr Los in stoischer Gelassenheit, weil sie nie etwas anderes gekannt hatten. Aber für Kelda, die in Liebe und Geborgenheit aufgewachsen war, die die Kameradschaft ihres Vaters und das sanfte Wesen ihrer Mutter erfahren hatte, war es wie der Sturz in eine Hölle, aus der es kein Entrinnen gab.
Drei Jahre lang hatte sie erleben müssen, wie fast unerträglich entwürdigend es war, als Nichts angesehen und herumkommandiert zu werden, als ob man keine Gefühle hätte, schlechte und zudem unzureichende Nahrung zu bekommen und mit einem Dutzend anderer Kinder in einem Raum schlafen zu müssen, wo man im Winter vor Kälte zitterte und im Sommer vor Hitze fast nicht atmen konnte.
Kelda empfand es als unsägliche Erleichterung, als man sie mit fünfzehn aufforderte, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, und sie zu diesem Zweck in Mrs. Gladwins Internat schickte.
Hier spürte sie zumindest einen Hauch von Kultur und bekam für ihre Begriffe gutes Essen, auch wenn die Schülerinnen sich ständig darüber beklagten. Am wichtigsten war es für Kelda jedoch, daß sie jetzt in ihrer Schulbildung dort fortfahren konnte, wo sie beim Eintritt ins Waisenhaus stehengeblieben war. Die meisten Kinder im Waisenhaus konnten weder lesen noch schreiben. Zwar kam ein Lehrer, der sie täglich mehr oder weniger gut zwei Stunden lang unterrichtete, aber für fortgeschrittene Schüler oder solche, die wie Kelda außergewöhnlich intelligent waren, gab es keine Möglichkeit der Fortbildung.
Im Internat war es dagegen ein leichtes für sie, abends ein Schulbuch mit in ihr Zimmer zu nehmen. Wenn sie auch oft zu müde war, um alles, was ihr wissenswert erschien, aufzunehmen, so hatte sie sich im Lauf der Zeit doch so viel Wissen angeeignet, wie es den Vorstellungen ihres Vaters entsprochen hätte.
Die Lehrerinnen wechselten ständig, aber es gab doch immer eine oder zwei unter ihnen, die Kelda ihre eigenen Bücher zur Verfügung stellten oder sich die Zeit nahmen, um ihr Dinge zu erklären, die sie nicht verstanden hatte. Einer ältlichen Französin brachte sie heimlich nach dem Schlafengehen noch Kaffee ans Bett, und diese revanchierte sich, indem sie Französisch mit ihr sprach.
»Du hast von Natur aus einen Pariser Akzent, Kind«, sagte sie, »aber du mußt die Verben üben. Die Engländer sind immer so schlampig mit den Verben.«
Damals konnte Kelda schon recht gut Französisch, aber sie war entschlossen, es eines Tages so fließend zu beherrschen wie ihre Muttersprache. Deshalb war sie weiterhin Mademoiselle eifrig zu Diensten und wurde schließlich mit der Bemerkung belohnt: »Jeder, der dich nicht anschaut, könnte dich für eine Französin halten; wenn man dich im Dunkeln sprechen hörte, könnte man glatt darauf hereinfallen.«
Ein solches Kompliment hatte Kelda noch nie in ihrem Leben gehört, und sie bewahrte es wie einen Schatz in ihrem Herzen.
Es war eine besondere Freude für sie gewesen, als Yvette de Villon vor zwei Jahren ins Internat gekommen war. Sie war Französin und entstammte, wie Kelda später herausfand, einer sehr angesehenen Familie.
Es wurde zwar nicht gern gesehen, daß Kelda sich mit den Schülerinnen anfreundet - sie sollte sie lediglich bedienen, ihre Kleider bügeln und ausbessern, falls sie nicht damit zurechtkamen -, aber mit Zähigkeit und Ausdauer gelang es ihr doch, die Gunst der hübschen Französin zu erringen und schließlich ihre Vertraute zu werden.
Dennoch fürchtete Kelda jetzt sich aufgrund dieses Vertrauensverhältnisses zu viel herauszunehmen, und dachte daran, daß die oft unberechenbare Yvette in ihrem Kummer es ihr durchaus übelnehmen könnte, wenn sie sich ihr aufdrängte.
Was war wohl der Grund dafür, daß Yvette so weinte? Sie war anders als die anderen Mädchen, die oft weinten, wenn eine der Lehrerinnen verärgert reagierte, oder wenn sie anfangs vor Heimweh verzweifelt waren. Yvette war sehr stolz und hatte folglich auch keine Busenfreundin, an die sie sich in ihren Nöten, seien sie nun wirklich oder nur eingebildet, hätte wenden können.
Aber ihr Weinen klang jetzt so verzweifelt, daß Kelda es nicht länger ertragen konnte. Leise klopfte sie an die Tür, und nach einem Augenblick der Stille fragte Yvette mit zögernder und zitternder Stimme: »Wer - wer ist da?«
»Ich bin’s, Kelda.«
»Komm rein!«
Kelda schlüpfte ins Zimmer. Der Raum war klein, wie alle Zimmer in dem Internat; aber hier herrschte eine sehr persönliche Atmosphäre, weil Yvette ihre vielen eigenen Dinge darin auf gestellt hatte. Auf dem schmalen Bett lag eine teure Spitzendecke, und den einzigen Stuhl im Zimmer schmückte ein hübsches Zierkissen. Die Schranktür stand offen und ermöglichte Kelda den Blick auf eine Fülle von Kleidern in leuchtenden Farben, die alle von teuren Pariser Modeschöpfern stammten.
Aber das Gesicht, das sich Kelda zuwandte, hatte kaum mehr Ähnlichkeit mit dem der sonst so attraktiven Yvette. Die Augen waren verquollen, die Nase war rot, Tränen liefen über ihre Wangen.
»Was ist passiert?«
Während Yvette sprach, sah Kelda, daß sie einen zerknitterten Brief in der einen Hand hielt und die andere ein tränendurchnäßtes Taschentuch zerknüllte.
»Ist jemandem, den du liebhast, etwas zugestoßen?« fragte Kelda.
Das war immer ihr erster Gedanke, wenn irgend jemand zutiefst unglücklich war; denn dann mußte sie jedes Mal daran denken, wie ihr Vater und ihre Mutter starben und sie niemanden hatte, an den sie sich hätte hilfesuchend wenden können.
»Nein das nicht«, antwortete Yvette.
Kelda kniete sich neben sie.
»Sag mir, was du hast«, sagte sie beruhigend. »Vielleicht kann ich dir helfen.«
»Niemand kann - niemand kann helfen«, brachte Yvette mit schwacher Stimme hervor.
»Sag es mir doch«, bettelte Kelda leise.
»Ich - ich hab’ einen Brief von - von meinem Onkel.«
»Und der hat dich so aus der Fassung gebracht?«
»Ich hasse ihn. Ich habe ihn immer gehaßt, und jetzt - jetzt soll ich bei ihm wohnen!«
Kelda erinnerte sich, daß Yvette wie sie selbst ein Waisenkind war. Aber sie hatte wenigstens zahlreiche Verwandte in Frankreich. Jedes Mal, wenn sie in den Ferien nach Paris fuhr, wohnte sie bei Onkeln und Tanten, die, wie Kelda wußte, alle sehr beeindruckende Titel hatten und romantische Schlösser an der Loire und Villen im Süden besaßen.
Wenn Yvette ins Internat zurückkehrte, erzählte sie von der aufregenden Zeit, die sie verbracht hatte, von den vielen Bällen, auf denen sie gewesen war, und es war sehr merkwürdig, daß sie jetzt so verzweifelt schien.
Laut sagte Kelda: »Ich wußte gar nicht, daß du gegen irgend jemanden aus deiner Verwandtschaft Haß empfindest. Bei welchem Onkel sollst du denn wohnen?«
»Bei meinem englischen Onkel«, antwortete Yvette. »Er ist schrecklich, und wenn ich bei ihm wohne, werde ich Frankreich und alle - alle meine Freunde nie wiedersehen.«
Sie brach erneut in Tränen aus, und Kelda erhob sich, um ihr ein frisches Taschentuch aus der Kommode zu holen. Sie reichte es Yvette und sagte, während diese sich die Tränen trocknete: »Ich wußte gar nicht, daß du einen Onkel hast, der Engländer ist. Du hast ihn nie erwähnt.«
»Warum sollte ich auch? Ich sag’ dir ja ich hasse ihn. Aber meine Tante hat ihn nun mal geheiratet.«
»Und er lebt in England?« fragte Kelda weiter. »Das ist doch gar nicht so schlimm. Schließlich hast du ja genug Freundinnen hier in der Schule, die Engländerinnen sind.«
»Er lebt aber nicht in England«, erwiderte Yvette, »sondern in Senegal.«
Kelda brauchte ein paar Sekunden, um sich die Lage von Senegal in Erinnerung zu rufen.
»Du meinst doch nicht Senegal in Westafrika?«
Yvette nickte.
»Mein Onkel lebt dort, weil er, weil er die Gesellschaft verabscheut. Er ist ein Einsiedler, ein Exzentriker. Warum soll ich nur mit so einem - mit so einem Menschen leben?«
Ihre Stimme klang verzweifelt.
»Gibt es irgendwelche Gründe, warum du ihm gehorchen mußt?« fragte Kelda zögernd.
»Lange vor ihrem Tod haben Mama und Papa ihn zu meinem Vormund erklärt«, antwortete Yvette. Sie tupfte sich die Augen trocken, bevor sie fortfuhr: »Damals lebte Tante Ginette noch. Da sie Mamas jüngere Schwester war, dachten sie wahrscheinlich, daß sie Mamas Platz einnehmen würde, falls ihnen etwas zustieß. Aber jetzt ist sie tot, und es bleibt nur Onkel Maximus, den ich immer gehaßt habe und der mich bestimmt auch haßt.«
»Wenn das stimmte, warum sollte er dann wollen, daß du bei ihm wohnst?« fragte Kelda in ihrer praktisch denkenden Art.
»Wahrscheinlich will er mich in Afrika einsperren, wo ich keinen von meinen Freunden sehen, wo ich auf keinen Ball gehen kann und nichts habe, nichts, was mir Spaß macht, wo ich nur alt und so verbittert werde wie er.«
»Woher weißt du, daß er das ist?« fragte Kelda.
»Ich bin ihm vor fünf Jahren einmal begegnet«, erklärte Yvette, »und einige meiner Verwandten haben ihn in letzter Zeit gesehen und sagen, er sei noch schlimmer geworden.«
Kelda wußte darauf keine Antwort, und Yvette fuhr fort: »Irgend etwas stimmt nicht mit ihm. Wenn man sich über ihn unterhält, verstummen plötzlich alle, sobald ich ins Zimmer komme. Aber ich habe schon oft meine Cousins lachend sagen hören, ich hätte zu viel Geld und würde vielleicht einmal ebenso zynisch werden wie Onkel Maximus.«
»Reich ist er also«, bemerkte Kelda. »Vielleicht möchte er dir sein ganzes Geld hinterlassen.«
»Ich will sein Geld nicht«, gab Yvette zurück. »Ich habe selbst genug. Mama und Papa haben mir alles vermacht, was sie besaßen. Ich darf nur noch nicht darüber verfügen, erst wenn ich einundzwanzig bin, und das dauert noch mehr als drei Jahre. Drei Jahre lang muß ich noch mit Onkel Maximus leben und ihn um jeden Pfennig bitten, den ich ausgebe.«
Es folgte eine solche Flut von Tränen, daß Kelda Yvette nur noch in den Arm nehmen und sie an sich drücken konnte.
»Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm«, beruhigte sie die Freundin, »vielleicht ist es sogar ganz interessant, Senegal kennenzulernen.«
Sie erinnerte sich jetzt, daß ihr Vater ihr von Westafrika erzählt und gesagt hatte, er würde gern dorthin reisen. Einmal war Kelda mit den Eltern in Algerien gewesen, aber das war zu lange her, als daß sie sich genau hätte erinnern können. Sie wußte nur noch, daß es ein Land voller Sonne war und daß sie, ihr Vater und ihre Mutter vieles gesehen hatten, was ihnen Freude machte. Obwohl sie nur kurze Zeit in Algier verbrachten, hatte