Sophienlust 339 – Familienroman: Im Schloss des Grafen unerwünscht
Von Anne Alexander
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"Frau von Schoenecker, ich weiß, dass es nicht richtig ist, Sie so zu überfallen, aber es handelt sich um einen absoluten Notfall", sagte Uta Singer. Sie war dreißig, wirkte aber jünger. Vor einer halben Stunde war sie mit ihrem fünfjährigen Sohn Joel nach Sophienlust gekommen, um ihn für einige Wochen im Kinderheim zu lassen. Seine Kleidung und etwas Spielzeug hatte sie gleich mitgebracht. "Wir sind selbstverständlich auf Notfälle eingerichtet", erwiderte Denise von Schoenecker, die Verwalterin des Kinderheims, "aber dennoch ist es uns lieber, wenn wir wenigstens telefonisch verständigt werden, bevor uns ein Kind gebracht wird." Uta Singer warf ihr ein um Entschuldigung bittendes Lächeln zu. "Um ehrlich zu sein, ich fürchtete, Sie würden mich abweisen", gestand sie. "Deshalb habe ich mich nicht angemeldet. Es fällt mir schwer, Joel wegzugeben. Er ist ein Junge, der viel Zuwendung braucht, aber meine Mutter ist eine alte, kranke Frau. Sie hat noch nie viel für Kinder übrig gehabt. Außerdem erkennt sie meinen Kleinen nicht als ihren Enkel an, weil er unehelich geboren wurde. Aber sie ist meine Mutter, und ich muss ihr helfen." Nervös fuhr Uta sich durch die kurzen blonden Haare. "Von Sophienlust habe ich sehr viel Gutes gehört. Hier wird Joel sich bestimmt wohlfühlen. Bei einem anderen Kinderheim bin ich dessen nicht so sicher."
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Sophienlust 339 – Familienroman - Anne Alexander
Sophienlust
– 339 –
Im Schloss des Grafen unerwünscht
Der kleine Joel ahnt nicht, was das Schicksal mit ihm vorhat
Anne Alexander
»Frau von Schoenecker, ich weiß, dass es nicht richtig ist, Sie so zu überfallen, aber es handelt sich um einen absoluten Notfall«, sagte Uta Singer. Sie war dreißig, wirkte aber jünger. Vor einer halben Stunde war sie mit ihrem fünfjährigen Sohn Joel nach Sophienlust gekommen, um ihn für einige Wochen im Kinderheim zu lassen. Seine Kleidung und etwas Spielzeug hatte sie gleich mitgebracht.
»Wir sind selbstverständlich auf Notfälle eingerichtet«, erwiderte Denise von Schoenecker, die Verwalterin des Kinderheims, »aber dennoch ist es uns lieber, wenn wir wenigstens telefonisch verständigt werden, bevor uns ein Kind gebracht wird.«
Uta Singer warf ihr ein um Entschuldigung bittendes Lächeln zu. »Um ehrlich zu sein, ich fürchtete, Sie würden mich abweisen«, gestand sie. »Deshalb habe ich mich nicht angemeldet. Es fällt mir schwer, Joel wegzugeben. Er ist ein Junge, der viel Zuwendung braucht, aber meine Mutter ist eine alte, kranke Frau. Sie hat noch nie viel für Kinder übrig gehabt.
Außerdem erkennt sie meinen Kleinen nicht als ihren Enkel an, weil er unehelich geboren wurde. Aber sie ist meine Mutter, und ich muss ihr helfen.« Nervös fuhr Uta sich durch die kurzen blonden Haare. »Von Sophienlust habe ich sehr viel Gutes gehört. Hier wird Joel sich bestimmt wohlfühlen. Bei einem anderen Kinderheim bin ich dessen nicht so sicher.«
Denise stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Joel Singer, ein hübscher blonder Junge mit großen braunen Augen, spielte mit Heidi Holsten und zwei anderen Zöglingen unter einer der uralten Eichen. Es war ihm nicht schwergefallen, mit den anderen Kindern Kontakt zu finden.
Denise ging zu ihrem Sessel zurück und setzte sich. »Noch etwas Kaffee, Frau Singer?«, fragte sie freundlich.
»Gern!« Uta reichte ihr die Tasse.
»Ist es das erste Mal, dass Ihr Sohn von Ihnen getrennt sein wird?«, fragte Denise, während sie Kaffee einschenkte.
»Ja!« Uta nickte. »Er besucht natürlich einen Kinderhort, weil ich arbeiten, für unseren Lebensunterhalt sorgen muss. Joels Vater zahlt nicht einmal Alimente. Er hat sich nie um seinen Sohn gekümmert.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, wofür es gut ist! So kann er mir wenigstens nicht in der Erziehung hineinreden.«
Denise betrachtete schweigend die junge Frau. Ein Gefühl sagte ihr, dass sie ihr nicht völlig trauen durfte. Aber die Papiere waren in Ordnung gewesen. Unaufgefordert hatte Uta Singer ihr gleich nach ihrer Ankunft ihren Ausweis und Joels Geburtsurkunde vorgelegt. Sogar sein Impfbuch hatte sie mitgebracht.
Uta Singer wurde nervös. Es schien ihr, als könnte die Gutsbesitzerin ihr bis ins Herz sehen. »Kann Joel hierbleiben?«, fragte sie. »Ich würde gut bezahlen. Wenn Sie es wünschen, sogar für vier Wochen im Voraus.«
»Joel kann hierbleiben«, erwiderte Denise. »Aber es ist nicht nötig, dass Sie im Voraus zahlen, Frau Singer.«
»Ich tue es aber gern!« Uta öffnete ihre Handtasche, um das Scheckbuch herauszuziehen. »Ich bin ja so froh, dass ich meinen Kleinen hier gut unterbringen kann.« Sie hob den Kopf und sah Denise an. »Wenn Sie wüssten, was mir für ein Stein vom Herzen fällt. Welche Summe darf ich eintragen?« Sie schlug das Scheckbuch auf und zückte einen Kugelschreiber.
Denise von Schoenecker nannte den Betrag. Sie beobachtete Uta, als diese den Scheck ausschrieb. Die junge Frau hatte ihr erzählt, dass sie als Buchhalterin in einem Großbetrieb arbeitete. Man merkte ihr an, dass sie den Umgang mit Geld gewohnt war. »So, bitte!« Uta schob Denise den Scheck zu. »Ich würde mir noch gern Joels Zimmer ansehen, aber dann wird es Zeit, dass ich aufbreche. Ich möchte noch vor dem Dunkelwerden bei meiner Mutter sein.« Sie zog eine Grimasse. »Die nächsten vier Wochen werden für mich alles andere als einfach sein, aber wir alle können schließlich einmal in eine Situation geraten, in der wir auf die Hilfe anderer angewiesen sind.«
Denise von Schoenecker führte Uta Singer durch die Räumlichkeiten des Kinderheims. Der jungen Frau gefielen besonders die hellen freundlichen Kinderzimmer im ersten Stock. Sie sah sich aber auch die Waschräume an. Ganz begeistert war sie von dem Eisenbahnzimmer im Erdgeschoss. Man merkte ihr an, dass sie am liebsten selbst die Züge zum Fahren gebracht hätte.
Als die beiden Frauen wieder in der Halle waren, kam Carolin, eine junge schwarzhaarige Frau von zweiunddreißig Jahren, aus dem Nähzimmer. Sie trug einen Kleiderstapel auf den Armen. Mit einem kurzen Gruß wollte sie an Denise und deren Begleiterin vorbeigehen.
»Frau Maurer, bitte, einen Augenblick!«, bat Denise von Schoenecker. Danach erzählte sie Uta Singer: »Frau Maurer arbeitet als Erzieherin bei uns. Sie ist besonders bei den kleinen Kindern sehr beliebt.«
Jetzt wandte sich Denise wieder an Carolin. »Frau Singer ist die Mutter des kleinen Joel, der für etwa vier Wochen bei uns bleiben wird.«
»Ich möchte Sie bitten, etwas auf ihn zu achten.« Die Bitte von Uta Singer war an Carolin gerichtet. »Die erste Zeit wird ziemlich schwer für ihn sein.« Sie seufzte auf. »Aber vielleicht ist sie für mich sogar noch schwerer. Es kommt mir vor, als würde ich einen Teil von mir selbst in Sophienlust zurücklassen.«
»Sind Kinder nicht ein Teil von uns?«, fragte Carolin lächelnd. »Ich kann Sie gut verstehen, Frau Singer. Ich werde auf Joel besonders achten.«
»Danke!« Uta ergriff die Hand der Erzieherin. »Ich weiß, Joel ist hier wirklich gut aufgehoben.«
Als Denise und Uta auf die Freitreppe hinaustraten, kam Joel ihnen entgegengerannt. »Fahren wir jetzt wieder, Mami?«, fragte er und stolperte die Stufen empor. Er verbarg sein Gesicht im Rock der Mutter.
»Du musst eine Zeit lang hierbleiben, Joeli«, sagte Uta und beugte sich zu dem Jungen hinab. »Die Mama kann dich diesmal nicht mitnehmen.«
»Oh!«, machte der Kleine überrascht.
»Es wird dir bei uns bestimmt gefallen«, versprach Denise von Schoenecker. Sie wies auf die kleine Heidi, die Joel gefolgt war und jetzt hinter ihm stand. »Du hast dich doch schon mit einigen Kindern angefreundet.«
»Und wann kommst du, Mama?«, fragte Joel, ohne Denise zu beachten. »Morgen?«, fügte er hoffnungsvoll hinzu.
»Leider muss ich etwas länger fortbleiben.« Uta nahm den Jungen auf den Arm und drückte ihn an sich. »Aber ich werde dir oft schreiben, und Frau von Schoenecker wird dir meine Briefe vorlesen.«
»Ich will nicht, dass du fortgehst!« Joels Augen füllten sich mit Tränen. Er schniefte.
»Joeli, bitte, mach es mir nicht so schwer«, sagte Uta. Auch sie kämpfte mit den Tränen. Behutsam stellte sie ihren Sohn wieder zu Boden. »Ich habe dich sehr, sehr lieb, aber auch eine Mama kann nicht immer das tun, was sie will.«
»Nein, nein, nein!« Joel stampfte mit den Füßen auf, dann vergrub er wieder das Gesicht im Rock seiner Mutter. Seine schmalen Schultern bebten vor Schluchzen.
»Nicht weinen, Joeli, nicht weinen«, sagte die fast gleichaltrige Heidi Holsten plötzlich hinter ihm. Unbewusst nannte sie ihn so, wie sie es gerade von seinen Mutter gehört hatte. Sanft legte sie ihre kleine Hand auf seine Schulter.
»Meine Mama soll dableiben«, schluchzte Joel. Er drehte Heidi sein Gesicht zu. »Ich mag nicht, dass sie fortgeht!«
Carolin Maurer trat aus dem Haus.
Sie hatte den Kleinen weinen hören. »Schau mal, was ich da habe«, sagte sie und streckte ihre Arme vor, die sie bis jetzt hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte. Über die Hände hatte sie zwei lustige Handpuppen gestülpt.
Joel zog die Nase hoch. »Bewegen sie sich richtig?«, fragte er überrascht. Er hatte noch nie zuvor solche Puppen gesehen. Interessiert trat er näher. »Darf man die anfassen?«
»Natürlich«, sagte Carolin. Sie hockte sich vor ihm auf den Boden. Rasch bewegte sie mit ihren Fingern die Puppen so, dass sie die drolligsten Bewegungen vollführten.
Joel tippte vorsichtig die rechte Puppe mit dem Finger an. Carolin ließ die Puppe sich verbeugen. Nun kam die linke an die Reihe. Auch sie verbeugte sich.
»Sind die lieb«, stellte Joel fest. Er blickte sich zu seiner Mutter um. »Krieg ich auch solche Puppen?«
»Wenn du jetzt brav bist und die Mama fortfahren lässt«, nutzte Uta Singer sofort ihre Chance. »Weißt du was? Wenn ich dich wieder abhole, bringe ich die Puppen gleich mit!«
»Aber genau solche«, verlangte Joel und streichelte den Wuschelkopf der linken Puppe.
»Ganz bestimmt, Joeli«, versprach Uta. Sie drückte den Jungen noch einmal an sich, dann verabschiedete sie sich von Denise und Carolin. Eilig ging sie zu ihrem Wagen. »Wiedersehen, mein Liebling!«, rief sie und stieg ein. Zwei Minuten später fuhr sie durch das Tor auf die Straße hinaus.
Joel winkte seiner Mutter nach, bis er ihren Wagen nicht mehr sehen konnte. Über sein kleines Gesichtchen rannen Tränen. Mit schmutzigen Fäusten wischte er sich über die Augen.
»Komm, wir spielen mit den Puppen, Joel«, forderte Carolin den Kleinen auf.